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KAPITEL 4 DIE ERSTEN SALVEN:
ERZURUM, BASRA, ADEN, ÄGYPTEN
UND DAS ÖSTLICHE MITTELMEER

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Das Osmanische Reich war durch Kriege geformt worden, seine Grenzen hatten sich durch jahrhundertelange Eroberungen und Auseinandersetzungen gebildet. Doch nun, im November 1914, als die Osmanen in den ersten globalen Krieg eintraten, waren sie zum ersten Mal der Gefahr eines Krieges ausgesetzt, der zeitgleich an allen Fronten tobte. Mit über 12 000 Kilometern Grenzen und Küstenlinien, vom Schwarzen Meer über den Persischen Golf und das Rote Meer bis hin zum Mittelmeer, bot das Reich seinen Gegnern viele Angriffsmöglichkeiten.

Kaum hatten die Osmanen den Krieg erklärt, als sie von den Alliierten auch bereits an unterschiedlichen Punkten ihres ausgedehnten Territoriums attackiert wurden. Kriegsschiffe der Entente-Mächte feuerten ihre ersten Salven ab, noch bevor der Krieg formell erklärt worden war: Britische Kriegsschiffe im Roten Meer beschossen am 1. November 1914 eine isoliert liegende Festung mit 100 Mann Besatzung an der Spitze des Golfs von Akaba. Zwei Tage später setzten vor den Dardanellen stationierte britische und französische Schiffe die äußeren Verteidigungslinien der Meerenge einem mörderischen Bombenhagel aus. In nur 20 Minuten Beschuss trafen die alliierten Schiffe ein Munitionslager, zerstörten die Festung Seddülbahir und vernichteten deren Kanonen. Die Osmanen waren nicht in der Lage, diese Angriffe zu parieren, wodurch augenblicklich die Verletzlichkeit ihrer Küstenlinie und die Überlegenheit der Alliierten zur See bewiesen war.1

Die Entente-Mächte hielten die Türkei für die Schwachstelle der Mittelmächte und für den am leichtesten zu besiegenden Kriegsgegner. Da der Konflikt an der West- sowie der deutsch-russischen Front zum Stillstand gekommen war, versprach allein die osmanische Front einen schnellen Sieg der Alliierten. Die Entente-Mächte zeigten sich zuversichtlich, dass die Türken unter einem konzertierten Zugriff der Briten, Franzosen und Russen schnell zusammenbrechen würden. In den ersten Tagen der osmanischen Kriegsteilnahme entsandten sowohl Russland als auch Großbritannien Truppen, um sich in der nur schwach verteidigten Peripherie des Osmanischen Reichs eine gute Ausgangsstellung zu sichern.

*

Die Russen griffen als Erste die Osmanen mit Bodentruppen an. Gleich nachdem am 29. Oktober die Yavuz Sultan Selim (die ehemalige Goeben) und die Midilli (die ehemalige Breslau) seine Schwarzmeerhäfen und Schiffe beschossen hatten, schickte der Zar eine kleine Truppenabteilung an die Kaukasusgrenze in Ostanatolien. Der russische Geheimdienst hatte gemeldet, dass 70 000 bis 80 000 Soldaten im Gebiet rund um Erzurum für einen erfolgreichen Einsatz genügten, da die Osmanen nicht über ausreichende Kräfte verfügten, um die russischen Positionen im Kaukasus zu bedrohen. Folglich beschränkten die Russen ihre Ambitionen darauf, eine Pufferzone entlang der Grenze zu sichern, was es den Kommandeuren erlaubte, mehr Soldaten in die Schlachten gegen Deutschland und Österreich zu schicken.

Der russische General Georgij Bergman führte im Morgengrauen des 2. November 1914 seine Soldaten auf osmanisches Staatsgebiet. In den folgenden drei Tagen rückten die Russen vor, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Am 5. November hatte ihre Vorhut im Vormarsch Gelände gesichert, das parallel zur rund 25 Kilometer dahinterliegenden Front verlief. Damit war Bergmans Auftrag erfüllt, und der General befahl seinen Truppen, die Stellungen zu verstärken, die sie auf den Hügeln oberhalb des Pasin-Tals besetzt hatten, rund 80 Kilometer von der befestigten Stadt Erzurum entfernt.

Womöglich war es die Leichtigkeit, mit der die Russen türkisches Territorium erobert hatten, die dem russischen Kommandeur zu Kopf stieg, da er nun ohne Rücksprache entschied, über seine Befehle hinauszugehen und weiter in die Provinz Erzurum vorzudringen. Er wies seine Soldaten an, zum strategisch wichtigen Dorf Köprüköy vorzurücken, wo eine Brücke über den Fluss Aras führte, auf halber Strecke zwischen der russischen Grenze und Erzurum.

Bergmann wusste nicht, dass das türkische Oberkommando den russischen Vormarsch mit angespannter Sorge verfolgte. Am 4. November machte Kriegsminister Enver Pascha dem Kommandeur von Erzurum, Hasan Izzet Pascha, per Telegramm den Vorschlag, einen Gegenangriff gegen die vorrückenden Russen zu beginnen. Obwohl Hasan Izzet Pascha die Sorge umtrieb, dass seine 3. Armee unter Sollstärke lag, wusste er, dass es besser war, das Urteil seiner Vorgesetzten nicht infrage zu stellen. Folglich formierte er eine große Truppe, die sich den Russen entgegenstellen sollte, und die feindlichen Armeen trafen am Abend des 6. November am Ufer des Aras aufeinander. Dies sollte die erste osmanische Schlacht des Ersten Weltkriegs werden.2

Der Unteroffizier Ali Rıza Eti war als Sanitäter mit einer der Einheiten zum Kampf gegen die Russen bei Köprüköy entsandt worden. Der gebildete Mann stammte aus einem Dorf in der Nähe der osttürkischen Stadt Erzincan, war 27 Jahre alt, verheiratet und hatte einen Sohn, als er zum Militärdienst einberufen wurde. Mithin hatte Eti also jeden Grund, am Leben bleiben zu wollen, und doch zeigte er sich bereit, sein Leben für den Kampf gegen die Russen zu geben. Sein Vater, ein Veteran des russischtürkischen Krieges der Jahre 1877–1878, war von der damaligen osmanischen Niederlage schwer gezeichnet. Eti zog 1914 in den Krieg, um alte Rechnungen zu begleichen.3

Seine Einheit wurde in den Morgenstunden des 7. November in die Schlacht befohlen. Die Soldaten kamen auf der vom kalten Herbstregen schlammig gewordenen Straße nur langsam voran. Je näher sie an die Front bei Köprüköy heranrückten, umso heftiger wurde der Artilleriebeschuss, und Gewehrkugeln gingen auf die verängstigten Soldaten nieder. In seinem Tagebuch versuchte Eti, das Geräusch der Kugeln festzuhalten: cıv, cıv, cıv. „Da es mein erster Tag [im Gefecht] war, hatte ich große Angst zu sterben. Mit jedem cıv brach mir von Kopf bis Fuß der Schweiß aus.“ Als die Soldaten weiter vordrangen, konnten sie dem intensiven Beschuss kaum noch standhalten. Der Kampf dauerte bis spät in die Nacht. Um 3 Uhr morgens schlugen Eti und seine Kameraden ihr „halb geflicktes“ Zelt auf und versuchten, in der furchtbaren Kälte etwas Schlaf zu finden. „Wir zitterten bis zum Morgen“, schrieb er.

Die Kämpfe gingen früh am nächsten Tag weiter. Die russische Artillerie setzte die türkischen Linien unter andauernden Schrapnellbeschuss, und die umhersausenden scharfen Metallsplitter mähten Männer und Arbeitstiere gleichermaßen nieder. „Während ich diese Zeilen schreibe, explodierte eine Schrapnellgranate ‚ciiib!‘ auf dem Hügel hinter mir. Die Toten liegen verstreut wie eine Trauerweide.“ Das Feuer war so intensiv, dass die Sanitäter nicht zu den Verwundeten gelangen konnten, weshalb Eti sich ein Mauser-Gewehr griff und sich dem Kampf an der Front anschloss. „Rıza Efendi, runter auf den Boden mit dir und bring Munition mit“, brüllte ihm sein Hauptmann zu. Ausgestattet mit zwei Kisten Munition und seinem Sanitätsmaterial zielte Eti und schoss auf die russischen Soldaten auf den gegenüberliegenden Hügeln. Mit der für ihn typischen Präzision hielt er fest, er habe 83 Schuss Munition abgefeuert, einen russischen Leutnant sowie drei weitere Soldaten getötet und fügte bedauernd hinzu: „Die anderen Schüsse waren verschwendet.“

Die türkischen Soldaten hielten ihre Stellung gegen einen russischen Versuch, sie zu umgehen. Ihr Hauptmann lief umher und verteilte Munition, um seine Männer zu ermutigen. „Ihre Kugeln können uns nichts anhaben“, rief er aus und bewies damit Mut im absolut unpassenden Augenblick. Denn in diesem Moment traf ihn ein Schuss in den Nacken, er stürzte auf die Knie und starb vor den Augen seiner geduckten Soldaten. „Auf geht’s, Kameraden, wir führen den Krieg nicht für diesen Hauptmann, sondern für Gott“, schrie ein weiterer Offizier und eröffnete das Feuer auf die Russen. Aufgerüttelt aus ihrer Mutlosigkeit kämpften die türkischen Soldaten um ihr Leben, und die Artillerie nahm die russischen Linien unter Beschuss. Eine Reihe gut gezielter Artilleriegranaten tötete und verwundete viele russische Soldaten und zwang die Überlebenden zum Rückzug. „Um zehn Uhr“, hielt Eti fest, „zog sich der Feind an allen Fronten zurück. Alle sind überglücklich.“

Als die Kämpfe schwächer wurden, nahm Eti seine Arbeit als Sanitäter wieder auf und brachte die Verwundeten vom Schlachtfeld zu den hinteren Linien. Die Sanitäter erkannten viele Freunde unter den Toten und Verletzten und zeigten sich vom Anblick der ersten Kriegsopfer erschüttert.

Nachdem er seine Arbeit in den türkischen Stellungen erledigt hatte, begab sich Eti zu der ehemaligen russischen Stellung, um sich den Mann näher anzuschauen, den er getötet hatte. Der russische Leutnant lag noch da, wo er gefallen war. Eti zeigte keine Sympathie für „den Kerl“, den er erschossen hatte (er bezog sich durchgehend auf ihn mit dem eher abwertenden türkischen Ausdruck für „Mann“, herif), nahm ihm seinen Revolver, Tornister, die Brille und den Dolch ab. Im Tornister fand er ein Bündel Briefe, ein nach Lavendel duftendes Taschentuch, einen Handschuh, einen Flachmann sowie ein wenig russisches Geld. „Ein ziemliches Gottesgeschenk“, bemerkte Eti nachdenklich. Er schenkte die Brille seinem Regimentskommandeur, den Dolch dem Arzt und den Tornister dem Adjutanten des Kommandeurs. Mit Blick auf die Verluste seiner Einheit an ihrem ersten Einsatztag – ein Hauptmann und fünf als „Märtyrer“ gefallene Männer, dazu 36 Verwundete – kam Eti zu dem Urteil: „Wir haben den Traum von der Schlacht verloren, den wir bis zu diesem Morgen in uns getragen hatten.“

Dank ihres erbitterten Widerstands gelang es der türkischen Infanterie, die Stellungen zu halten. Die Russen wagten am 11. November einen letzten Angriff und verloren bei diesem Einsatz rund 40 Prozent ihrer Kräfte. Da ihre Munition zur Neige ging und die Osmanen auf beiden Flanken zu entschlossenen Gegenangriffen übergingen, waren die Russen unter feindlichem Beschuss zum Rückzug gezwungen. Bergmans Truppen gingen hinter die Stellungen zurück, die sie am 5. November gesichert hatten, etwa 25 Kilometer weit auf osmanischem Gebiet. Beide Parteien mussten einen hohen Preis für Bergmanns Abenteuer zahlen: Laut türkischen Angaben beklagten die Osmanen bei dieser November-Offensive mehr als 8000 Opfer (1983 Tote und 6170 Verwundete), dazu kamen 3070 gefangen genommene und fast 2800 fahnenflüchtige Soldaten. Die Russen verloren 1000 Mann in der Schlacht und zählten 4000 Verletzte; weitere 1000 Mann starben an Entkräftung. Nach den ersten blutigen Verlusten verstärkten beide Kontrahenten vor dem ersten Schneefall ihre Stellungen in der so gut wie unpassierbaren Berglandschaft des Kaukasus, da beide annahmen, der Gegner würde die Kämpfe frühestens im nächsten Frühjahr wieder aufnehmen. Enver Pascha, ermutigt durch „diesen verhältnismäßig befriedigenden Anfang“, sollte bald persönlich in den Kaukasus kommen, um den Kampf gegen Russland wiederaufzunehmen. Für den Augenblick jedoch war das osmanische Oberkommando mit einer britischen Invasion in Mesopotamien beschäftigt.4

*

Die Stadt Basra liegt an einer strategisch bedeutsamen Stelle des Schatt al-Arab, eines Flusses, der aus dem Zusammenfluss von Euphrat und Tigris entsteht und in den Persischen Golf mündet. In Basra lag der letzte schiffbare Hafen für Ozeandampfer auf dem Schatt al-Arab; die Stadt war Handelszentrum zwischen Mesopotamien und dem Persischen Golf. Einige Kilometer südlich von Basra bildete der Schatt al-Arab zugleich die Grenze zwischen dem Persischen und Osmanischen Reich (so wie er heute die Grenze zwischen Iran und Irak bildet), wobei die Grenze in der Flussmitte lag. Die persischen Flussabschnitte waren dabei für die Briten von besonderem Interesse, hatte die Anglo-Persian Oil Company hier doch im Mai 1908 Erdöl in kommerziell verwertbarer Menge entdeckt.

Im Mai 1901 hatte sich der in Devon geborene Millionär William Knox D’Arcy die Konzession für alle Ölfunde in Persien für die kommenden 60 Jahre gesichert. Seine Firma wurde von einem britischen Syndikat unterstützt und von der Royal Navy politisch gefördert, da diese durch die Umrüstung ihrer Flotte von Kohle auf Öl an einer verlässlichen Ölversorgung interessiert war. Nachdem man in der Nähe der südpersischen Stadt Ahvaz auf Erdöl gestoßen war, suchte die Anglo-Persian Oil Company nach einer geeigneten Stelle für eine Raffinerie mit Meerzugang, über den man das Petroleum exportieren konnte. Man entschied sich für die Abadan-Insel im Schatt al-Arab, 225 Kilometer südlich des Ölfelds. Abadan war ideal für die Errichtung einer Raffinerie, verfügte sie doch über einen direkten Zugang zu den Seestraßen. Der Besitzer der Insel, Scheich Khazal aus der nahe gelegenen Stadt Mohammerah (heute die iranische Stadt Chorramschahr), war ein britischer Protegé.

Der arabischsprachige Scheich, der 20 000 Reiter unter seinem Kommando hatte, war ein einflussreicher örtlicher Führer. 1902 hatten die Briten zugesagt, seinen winzigen Staat zu beschützen, sollte Scheich Khazal im Gegenzug dem britischen Vertragssystem treu bleiben, das einen Großteil der arabischen Herrscher am Persischen Golf band. Nun, da man Erdöl entdeckt hatte, legte Großbritannien noch größeren Wert auf die Freundschaft mit dem Scheich. Der britische Abgesandte am Golf, Sir Percy Cox, wurde nach Mohammerah geschickt, um mit Khazal einen Pachtvertrag für das für eine Raffinerie, Lagertanks und Dockanlagen benötigte Land auf der Abadan-Insel zu verhandeln. Im Juli 1909 schlossen sie einen Zehn-Jahres-Vertrag für 6500 Pfund in bar und einen Kredit in Höhe von 10 000 Pfund. Die Pipeline wurde verlegt, die Raffinerie gebaut, und 1912 begann die Ölproduktion.5

Angesichts der wirtschaftlich-strategischen Bedeutung und einer schon lange etablierten Vormachtstellung am Persischen Golf war es fast natürlich, dass Großbritannien Mesopotamien als Preis bei einer möglichen Nachkriegsaufteilung des Osmanischen Reichs wählen würde. Noch bevor man Verhandlungen mit Russland und Frankreich begann, hatten die Briten bereits ein Expeditionskorps entsandt, das ihren Anspruch auf Basra wahren sollte.

Im September und Oktober 1914 wurden unter strenger Geheimhaltung in London und Indien Pläne für eine Invasion Basras geschmiedet. Da die indischen Muslime den Sultan als Kalifen des Islam verehrten, fürchteten die Briten bei einem vorzeitigen Angriff auf dessen Territorium religiöse Ausschreitungen. Die Herausforderung bestand darin, britische Truppen noch vor einer osmanischen Kriegserklärung an Basra heranzuführen, ohne diese Entsendung wie einen feindlichen Akt gegen das noch immer neutrale Osmanische Reich wirken zu lassen. Das bedeutete, dass man die Entsendung sogar vor dem Kommandeur und den Mannschaften geheim halten musste, die an der Aktion teilnahmen.

Als Brigadegeneral Walter Delamain am 16. Oktober in Bombay an Bord eines Schiffes ging, um als Teil der Indian Expeditionary Force (IEF) an die Westfront gebracht zu werden, erhielt er seine Befehle versiegelt und mit der strikten Anweisung, 72 Stunden abzuwarten. Nach drei Tagen auf See erfuhr Delamain, dass er eine Brigade der 6. Poona-Division der Indienarmee anführen sollte, als IEF D bezeichnet, um im Persischen Golf zu operieren. Die 5000 Soldaten und ihre Reittiere (1400 Pferde und Tragesel) waren auf vier Transportschiffe mit wenig Tiefgang aufgeteilt, mit denen sie in den flachen Gewässern des Golfs zu navigieren vermochten. Delamain sollte sich augenblicklich nach Bahrain begeben und dort auf weitere Befehle warten.

Er traf am 23. Oktober mit seiner Brigade in Bahrain ein. Hier besprach er sich mit Sir Percy Cox, dem früheren Regierungsvertreter am Golf, der als leitender politischer Offizier der IEF D zugeteilt worden war. Erst nachdem Delamain Bahrain erreicht hatte, erfuhr er von seinem Auftrag, auf dem Schatt al-Arab für die Sicherheit der Ölraffinerie und der Tanks der Anglo-Persian Oil Company zu sorgen sowie türkische Angriffe auf die Pipeline zu verhindern. Delamain sollte die arabischen Verbündeten Großbritanniens an der Spitze des Golfs anwerben – Scheich Khazal und den kuwaitischen Herrscher Scheich Mubarak al-Sabah – und auch Abd al-Aziz al-Saud (Ibn Saud) in Ostarabien. Solange die Osmanen sich neutral verhielten, so lauteten Delamains Befehle, sollte er „ohne weiteren Befehl der Regierung von Indien jegliche feindliche Handlung gegen die Türken“ vermeiden. Sobald die Osmanen jedoch den Krieg erklärten, war Delamain frei, „jede militärische und politische Handlung vorzunehmen“, die seine Position stärken würde, „und, sofern möglich, Basra besetzen“. Nach sechs Tagen vor Anker befahl man Delamain am 29. Oktober, zur Mündung des Schatt al-Arab vorzudringen – just an dem Tag, an dem die osmanische Flotte die Feindseligkeiten gegen die Russen im Schwarzen Meer begann. Die Nachricht von der Abfahrt der Truppen aus Bahrain erreicht Basra wenig später, woraufhin man dort eiligst militärische und politische Vorbereitungen traf.6

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Als die britischen Truppentransporter in Bahrain eingetroffen waren, kursierten in Basra Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff. Jetzt, da der anfangs weit entfernte europäische Krieg auch vor ihre Haustür gelangt war, zeigten sich die Stadtbewohner verunsichert über das, was sie wollten. Der aus dem Amt scheidende britische Konsul Reader Bullard berichtete Ende Oktober von „starken antirussischen und antibritischen Gefühlen“ in Basra. Da die Stadt jedoch vom Handel lebte, würde ihr Wirtschaftsleben stark beeinträchtigt, sollte sie wegen der Feindseligkeiten zwischen den Osmanen und Briten vom Rest des Persischen Golfs abgeschnitten werden.7

Die Loyalität gegenüber den Osmanen war jedoch bestenfalls lauwarm. Viele der städtischen Würdenträger standen der jungtürkischen Politik offen ablehnend gegenüber, da diese in ihren Augen den arabischen Interessen widersprach. Eine Gruppe Gleichgesinnter hatte 1913 in Basra die Reformgesellschaft gegründet, eine der einflussreichsten arabischen Gesellschaften im Irak. Wie Al-Fatat und die Dezentralisierungspartei setzte sich auch die Reformgesellschaft für die kulturellen Rechte der Araber sowie eine größere Autonomie in einem dezentralisierten Osmanischen Reich ein. Der Führer der Bewegung war Sayyid Talib al-Naqib.

Sayyid Talib war, als prominenteste Figur im Vorkriegs-Basra, 1908 zum ersten Mal in das osmanische Parlament gewählt worden. Nach einer anfänglichen Zusammenarbeit mit dem Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF) entwickelte er sich zunehmend zum Fürsprecher der kulturellen und politischen Rechte der Araber und machte sich in seiner Zeit als Abgeordneter viele gefährliche Feinde in den Reihen des KEF. Die Unionisten, die davon ausgingen, dass Sayyid Talib die Loslösung Basras vom Reich anstrebte, bedrohten ihren Widersacher in aller Öffentlichkeit. Auch wenn die Kandidaten der Reformgesellschaft 1914 die osmanischen Parlamentswahlen in der Provinz Basra für sich entscheiden konnten, wagte es Sayyid Talib nicht, nach Istanbul zu reisen und seinen Sitz im Parlament einzunehmen, aus Angst, die Unionisten könnten ihn ermorden lassen.8

Sulayman Faydi, der ebenfalls aus Basra stammte und 1914 für die Reformgesellschaft ins Parlament gewählt wurde, erinnerte sich daran, wie die Briten Sayyid Talib für eine Zusammenarbeit bei der Besetzung Basras gewinnen wollten. Indem sie die Vermittlung ihres Verbündeten Scheich Khazal in Anspruch nahmen, luden die britischen Abgesandten Sayyid Talib zu einem Geheimtreffen nach Mohammerah ein, nur wenige Tage vor dem Eintreffen der IEF D am Schatt al-Arab. Als Gegenleistung für seine Kooperation boten sie Sayyid Talib an, ihn zum Generalgouverneur der Provinz Basra unter britischer Protektion zu machen, mit einigen Privilegien (zum Beispiel Steuerfreiheit) und Entwicklungshilfe. Sayyid Talib lehnte das Angebot ab: Er wolle nicht den einen fremden Herrn durch einen neuen ersetzen, die Osmanen durch die Briten.9

Anstatt wie seine Nachbarn das britische „Trucial“-System zu übernehmen, entschloss sich Sayyid Talib, sein Schicksal in die Hände der Osmanen zu legen. Seine Entscheidung wurde dadurch verkompliziert, dass die Unionisten einen Haftbefehl wegen Verrats gegen ihn erwirkt hatten. Im verzweifelten Versuch, seine Loyalität zu beweisen und sein Schicksal zu wenden, schickte er ein Telegramm an Enver Pascha, in dem er versprach, im Falle der Verteidigung von Basra gegen einen britischen Angriff dafür zu sorgen, dass der saudische Herrscher Abd al-Aziz al-Saud die Osmanen unterstütze. Die Unionisten hatten bei diesem Ansinnen nichts zu verlieren und schlugen vor, Sayyid Talib im Erfolgsfall mit dem Posten des Gouverneurs von Basra zu belohnen.

Die um die arabischen Loyalitäten besorgten Briten arbeiteten zu diesem Zeitpunkt bereits daran, einer osmanischen Initiative zuvorzukommen, die versuchen könnte, die Scheichs am Golf auf die osmanische Seite zu ziehen und die arabischen Stämme für einen globalen Dschihad gegen die Entente zu vereinen. Am 31. Oktober hatte der Regierungsvertreter am Golf, Resident Stuart George Knox, eine Erklärung an die „Herrscher und Scheichs am Persischen Golf und ihre Untertanen“ veröffentlicht, in der der osmanische Kriegseintritt angekündigt wurde. „Ihre Beziehungen mit Großbritannien sind viele Jahre alt“, erinnerte Knox die arabischen Verbündeten der Briten, „und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu versichern, dass wir in diesem Kampf alles uns Mögliche unternehmen werden, um Ihre Freiheit und Religion zu bewahren.“ Um dies noch einmal zu bestärken, schlossen die Briten am 3. November ein formelles Abkommen, das die Unabhängigkeit Kuwaits vom Osmanischen Reich unter britischer Protektion anerkannte. Im Gegenzug sollte der Herrscher Kuwaits, Scheich Mubarak, versprechen, mit Scheich Kazal, Ibn Saud „und anderen zuverlässigen Scheichs“ zusammenzuarbeiten, um „Basra aus der türkischen Herrschaft“ zu befreien.10

Sir Percy Cox, der leitende Politikoffizier der IEF D, stand mit den arabischen Verbündeten der Briten in ständigem Kontakt und koordinierte die Maßnahmen, mit denen vor Ort die Unterstützung für die Invasion des südlichen Mesopotamien gesichert werden sollte. Am 5. November veröffentlichte er eine Proklamation an die arabischen Führer an der südlichen Küste des Golfs, in der er ihnen die Ankunft britischer Truppen ankündigte. Diese kämen zum Schatt al-Arab, so seine Formulierung, „um den [britischen] Handel sowie Freunde zu schützen und die feindlichen türkischen Truppen zu vertreiben“. Die Briten hatten den Golf mit ihren Verträgen bereits unter Dach und Fach, bevor Sayyid Talib al-Naqib überhaupt erst mit seinen Bemühungen begann, Ibn Saud für die osmanische Sache zu gewinnen.11

Als er von Basra aus nach Mohammerah, Kuwait und dann in den Nadschd fuhr, musste Sayyid Talib feststellen, dass jeder örtliche Führer der Golfregion seiner osmanischen Initiative ablehnend gegenüberstand. Scheich Khazal wollte seinen Freund Talib überreden, noch einmal über das britische Angebot nachzudenken. Und der Herrscher Kuwaits drohte schließlich damit, Sayyid Talib und seine Mitarbeiter auf britische Bitte hin unter Hausarrest zu stellen. „Wenn Sie versuchen, mich an der Ausreise aus Kuwait zu hindern“, gab der zornige Sayyid Talib zurück, „werde ich zwei Kugeln aus meinem Revolver abfeuern. Die erste auf Sie und die zweite auf mich selbst!“ Auch wenn es Sayyid Talib und einer kleinen Gruppe von Freunden gelang, aus Kuwait herauszukommen, so mussten sie doch neun Tage ununterbrochen reiten, um zu Ibn Saud in Buraida in der Provinz Qasim im nördlichen Zentralarabien zu gelangen.12

Der saudische Herrscher empfing seine Gäste mit Sympathie und Gastfreundlichkeit. Ibn Saud machte keinen Hehl daraus, dass er mit den Briten in Kontakt stand, die ihn zur Beibehaltung seiner Neutralität drängten (Großbritannien sollte die Beziehungen zu ihm erst 1915 mit Verträgen formalisieren). Ibn Saud war ganz offensichtlich hin und her gerissen. Angesichts der Bedeutung, die die Religion in seiner Dynastie besaß, konnte er es nicht zulassen, seine arabisch-muslimischen Brüder in Basra zugunsten der nichtmuslimischen Briten aufzugeben. Zugleich war Ibn Saud daran gelegen, die Briten nicht zu verärgern, waren sie doch im Golf mit großer Militärmacht vertreten. So schob er eine Entscheidung weiter hinaus, in der Hoffnung, dass sich das Problem mit der Zeit von selbst lösen würde, ohne dass er sich für eine Seite würde entscheiden müssen.

Ibn Saud wartete neun Tage, bevor er eine Gruppe aus 500 Reitern zusammenstellte, um Richtung Norden zu reiten. Der saudische Führer, der im Notfall Tag und Nacht auf dem Rücken eines Pferdes sitzen konnte, reiste in Begleitung von Sayyid Talibs Delegation nicht mehr als vier Stunden am Tag. Als sie Ende November ihre erste Poststation erreichten, erfuhr die saudische Truppe, dass Basra bereits von den Briten erobert worden war. Diese Nachricht traf die Männer aus Basra „wie ein Blitzschlag“, so hielt es Sulayman Faydi fest. „Der Schock war insbesondere für Sayyid Talib groß, der wusste, wie sehr ihn die Engländer hassten.“ Diese Lösung der Krise dürfte wiederum für Ibn Saud eine Erleichterung gewesen sein. Er drückte den Männern aus Basra sein Mitgefühl aus und ritt zurück, um seine eigenen Angelegenheiten in Zentralarabien zu verfolgen.13

Die Einnahme Basras machte aus Sayyid Talib einen Exilanten. Er hatte sein Versprechen gegenüber den Osmanen nicht gehalten und sich die Briten zu Feinden gemacht. Er ritt zurück nach Kuwait und ergab sich den Briten. Diese schickten ihn für die Dauer des Krieges nach Indien, wobei alle Beteiligten davon ausgingen, dass die Kämpfe schnell vorüber sein würden. Doch die Besetzung Basras war nur der Beginn eines Feldzugs in Mesopotamien, der weitaus länger dauern sollte, als Sayyid Talib je gedacht haben dürfte.

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Am 5. November erklärte Großbritannien dem Osmanischen Reich den Krieg. Im Morgengrauen des folgenden Tags erreichten britische Einheiten der Indian Expeditionary Force am Schatt al-Arab türkisches Territorium. Die Schaluppe HMS Odin, ein Kriegsschiff, auf dem neben einem Dampfkessel auch noch Segelmasten genutzt wurden, ging in der Mündung des Schatt al-Arab in Position und eröffnete das Feuer auf türkische Stellungen auf der Halbinsel Fao. Innerhalb einer Stunde hatten sie den Festungskommandanten getötet und die osmanischen Soldaten – insgesamt etwa 400 Mann – ihre Stellung aufgegeben. Delamain brachte 500 Männer an Land, um die Geschütze zu zerstören und über ein Unterwasserkabel eine Telegrafenleitung von Fao nach Indien zu sichern. Beides stellte sich als nicht so einfach heraus: Die starke Strömung störte die Landungsboote, und die schlammigen Ufer der Schatt-Mündung vergrößerten die Schwierigkeiten, Männer, Pferde und Kanonen ohne Kai oder Landungssteg an Land zu bringen. Dass der schnelle und entschlossene Zugriff dennoch ohne Verluste gelungen war, schien Gutes für den weiteren britischen Kriegszug zu verheißen.14

Delamain ließ eine Kompanie Soldaten für den Schutz der Telegrafenstation in Fao zurück und zog mit dem Rest seiner Brigade den Schatt al-Arab weiter hinauf, um die Ölanlage in Abadan zu sichern. Er ging mit seinen Männern in Saniyya, flussaufwärts von der Raffinerie, auf türkischer Seite des Flusses an Land. Ohne angemessene Schuten dauerte es zwei Tage, um Männer, Lasttiere und Material von den Transportschiffen an Land abzusetzen. Transportprobleme sollten den gesamten weiteren Mesopotamienfeldzug belasten: Ohne brauchbare Straßen musste alles auf dem Wasser transportiert werden; doch der Fluss war flach und voller Hindernisse, die von den Osmanen errichtet worden waren. Außerdem behinderten die schlammigen Flussbänke jede Bewegung auf die Schiffe hinauf oder von ihnen hinunter. Dennoch war die IEF D mit ihrem Lager in Saniyya gut positioniert, um Abadan vor Angriffen der Osmanen zu schützen.

Brigadegeneral Delamain entschloss sich, weitere Verstärkung abzuwarten, bevor er versuchen wollte, weiter flussaufwärts auf Basra vorzurücken. Die Osmanen starteten am 11. November einen Angriff auf die Stellung der britisch-indischen Truppen und fügten der IEF D erste Verluste zu, bevor sie sich aufgrund der starken Gegenwehr zurückziehen mussten. Die indischen und britischen Mannschaften mussten sich in einem unbekannten Umfeld verteidigen, das große Bewegungen erschwerte. Plötzliche, heftige Regenfälle verwandelten die Ufer des Schatt al-Arab in Schlammfelder, während starke Winde Sandstürme aufwirbelten, die jede Sicht und jegliche Signalkommunikation unmöglich machten. Als eines der verwirrendsten Naturphänomene für die Soldaten erwiesen sich jedoch Luftspiegelungen, die Objekte an Stellen erscheinen ließen, an denen sie sich nicht befanden. Der Kriegsberichterstatter Edmund Candler, der die IEF D als „offizieller Augenzeuge“ begleitete, erinnerte sich, dass Trugbilder „es schwierig machten zu sagen, ob der Feind auf dem Pferd oder zu Fuß herankam, und überhaupt irgendeine Schätzung ihrer Anzahl zu geben. Es gibt in der Truppe kein Kavallerieregiment, das nicht schon einmal ein paar Schafe für Infanterie gehalten hätte.“ Die Vorsicht gebot es, abzuwarten, bis das Expeditionskorps verstärkt worden war, bevor man weiter den Schatt al-Arab hinauffuhr.15

Diese Verstärkung traf am 14. November ein. Generalleutnant Sir Arthur Barrett erreichte den Schatt al-Arab mit den Resten der 6. Indian Division und übernahm das Kommando über die IEF D. Nachdem nun ausreichend Soldaten versammelt waren, um sowohl Abadan zu schützen als auch auf Basra zu marschieren, zeigte sich Barrett zuversichtlich, dass er die Kämpfe ohne unangemessenes Risiko wiederaufnehmen konnte. Wichtige Unterstützung bekam er dabei von der Royal Navy, die eine Reihe von Flachwasser-Kriegsschiffen auf den Schatt al-Arab entsandt hatte. Die Schiffe konnten zum einen zum Truppentransport genutzt werden, waren mit ihren schweren Geschützen aber auch in der Lage, osmanische Stellungen zu beschießen. Die Osmanen gerieten durch das unvermutete Auftauchen der Invasionsstreitmacht ins Straucheln, und Barrett wollte zuschlagen, bevor die Verteidiger eine Gelegenheit gehabt hatten, sich neu zu formieren und sich den Eindringlingen entgegenzustellen.

Der britische Angriff begann einen Tag nach Barretts Ankunft und vertrieb die Verteidiger aus ihren Stellungen. Mehr als 160 Tote und Verwundete blieben auf dem Schlachtfeld zurück. Zwei Tage später, am 17. November, starteten die Briten bei Sahil unter heftigem Regen, dem Sandstürme folgten, den nächsten Vorstoß. Beide Seiten erlitten starke Verluste – fast 500 britische und indische Soldaten starben oder wurden verwundet, die Osmanen beklagten zwischen 1500 und 2000 Opfer –, bevor die britisch-indische Armee die osmanischen Stellungen erobern und die Verteidiger zum zweiten Mal zum Rückzug zwingen konnte. Barrett sprach davon, die Operation habe „die Überlegenheit unserer Truppen über die Türken bewiesen“ und dass die Osmanen nach ihren „starken Verlusten“ nun „demoralisiert“ seien.16

Nach dieser Serie rascher Niederlagen erkannten die Osmanen, dass ihre Stellung in Basra nicht zu halten sei, und verließen am 21. November die Stadt. Sobald die Regierungsvertreter abgezogen waren, tobten Marodeure durch den Ort, zerstörten Regierungsbüros und plünderten Geschäfte. John Van Ess, amtierender amerikanischer Konsul in Basra, schickte per Flusskurier einen Brief an den britischen Kommandeur und bat ihn, „ausreichend Männer zu schicken, um die Plünderungen zu verhindern“. Basra sei in völlige Gesetzlosigkeit verfallen: „Den gesamten gestrigen Tag haben die Araber den von der Regierung aufgegebenen Ort ausgeraubt, und es wird noch immer geschossen.“17

Die Schaluppen Espiègle und Odin der Royal Navy wurden umgehend nach Basra geschickt, um vom Wasser aus die Situation zu kontrollieren, bis die Truppen am folgenden Tag über den Landweg nachgerückt kamen. Am 23. November zog Barrett feierlich in Basra ein, hisste die britische Flagge über der Stadt und zeigte damit den Übergang der Stadt von der osmanischen zur britischen Kontrolle an. Sir Percy Cox entwarf eine mitreißende Erklärung, die er in seinem englisch klingenden Arabisch den versammelten Stadtbewohnern vorlas: „Die britische Regierung hat nun Basra besetzt. Obwohl mit der osmanischen Regierung weiterhin Kriegszustand herrscht, hegen wir keine Feindlichkeit oder böse Absichten gegenüber der Bevölkerung, der wir gute Freunde und Beschützer sein möchten. In dieser Region gibt es keine türkische Verwaltung mehr. An ihrer Stelle wurde die britische Flagge gehisst – unter der Sie alle Freiheit und Gerechtigkeit erfahren werden, sowohl was Ihre religiösen als auch was Ihre säkularen Angelegenheiten angeht.“ Cox’ Äußerungen verwirrten die Briten nicht weniger als die Einwohner Basras. Die Briten waren sich noch nicht sicher, wie viel Freiheit sie den Menschen in Basra tatsächlich gewähren wollten, und die Menschen in Basra konnten sich nicht sicher sein, wie lange die Briten tatsächlich bleiben würden. Nach jahrhundertelanger Herrschaft der Osmanen konnten sich viele nur schwer vorstellen, dass die Türken nicht doch eines Tages zurückkehren würden. Und solange die Möglichkeit noch bestand, dass die osmanische Herrschaft wiederhergestellt wurde, solange wollten die Stadtbewohner Abstand von den Briten halten – aus Angst vor späteren Repressionen.18

Nach der Einnahme von Basra hatten die Briten nun ihre Ziele in Mesopotamien erreicht. Sie hatten die Osmanen von der Spitze des Persischen Golfs vertrieben und konnten die strategisch wichtigen Ölanlagen in Abadan schützen. Sir Percy Cox trat vehement dafür ein, die sich zurückziehenden Osmanen zu verfolgen und Bagdad zu belagern, doch er wurde von den Militärstrategen und der Regierung in Indien überstimmt. Die Briten autorisierten vielmehr nur den kurzen Vormarsch auf die Stadt Al-Qurna am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris, womit der gesamte Schatt al-Arab unter britische Kontrolle gelangen würde.

Der Feldzug gegen Al-Qurna begann am 3. Dezember. Schiffe der Royal Navy brachten Soldaten zu einem sicheren Landungsplatz 6,5 Kilometer südlich der Stadt. Als die Invasoren auf dem linken Ufer des Schatt al-Arab vorrückten, stießen sie auf zunehmend stärkere osmanische Verteidigung, der es gelang, die britisch-indischen Truppen zu stoppen, bevor sie sich über den Tigris zurückzogen. Offenbar ging es den osmanischen Truppen darum, Zeit zu gewinnen, indem sie den Fluss zwischen sich und die IEF-Angreifer brachten. Doch als es den Invasoren gelang, eine Pontonbrücke über den Tigris aufzubauen, war die osmanische Stellung unhaltbar geworden. Am 6. Dezember, kurz vor Mitternacht, fuhr ein kleiner Flussdampfer mit drei türkischen Kommandeuren unter voller Beleuchtung und Einsatz aller Hörner auf die britischen Schiffe zu und signalisierte damit die Kapitulation. Am 9. Dezember übergab der Gouverneur der Provinz Basra, Subhi Bey, die Stadt Al-Qurna dem Kommandeur der Indian Expeditionary Force und begab sich, zusammen mit 45 Offizieren und 989 Soldaten, in Kriegsgefangenschaft.19

Die britischen Operationen am Schatt al-Arab waren trügerisch einfach verlaufen. Schnelle Siege konnten mit erstaunlich geringen Opferzahlen errungen werden. Weniger als 100 britische und indische Soldaten waren bei den Kämpfen zwischen Fao und Al-Qurna gefallen, rund 675 verletzt worden. Die Osmanen hingegen beklagten etwa 3000 Tote und Verwundete – das Vierfache der britischen Opfer. Derart leicht errungene Erfolge vermittelten den Briten ein irreführendes Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit und sorgten in der Folge dafür, dass sie die osmanischen Truppen unterschätzten.20

Nachdem sie ihre Stellung in Basra gesichert hatten, übernahmen die Briten die Verwaltung der Region. Als Besatzungsmacht waren sie laut Kriegsrecht dazu verpflichtet, die Institutionen des osmanischen Staats zu bewahren. Der Unwille der Einwohner, mit den neuen Autoritäten zu kooperieren, erschwerte diese Aufgabe jedoch. Die Briten interpretierten diese Widerspenstigkeit weiterhin als Angst vor einer möglichen Rückkehr der Osmanen. Dabei konnte sie ebenso gut einer Abneigung gegen fremdländische Besatzer entsprungen sein – einer Antipathie, die durch die britischen Sicherheitsmaßnahmen in Mesopotamien noch verstärkt wurde.

William Bird, ein Soldat des Dorset Battalions in der IEF D, beschrieb, wie im Januar 1915 typischerweise die Durchsuchung eines Dorfes ablief: Britisch-indische Soldaten näherten sich im Morgengrauen einer Siedlung, traten alle Türen ein, die nicht nach dem ersten Klopfen geöffnet worden waren, „verhafteten alle männlichen Bewohner und durchsuchten dann alles und jeden nach Waffen“. Die Briten setzten auf harte Justiz gegen die des Widerstands gegen ihre Besatzung verdächtigen Dorfbewohner. „Jene, die fortzulaufen versuchten, wurden von unseren Männern geschnappt, die das Dorf umstellt hatten“, hielt Bird fest. „Sie wurden wie Kombattanten behandelt und fanden ihr Ende auf dem Schafott. Natürlich genau wie jene, die auf uns feuerten, entweder erschossen oder verhaftet und auf dem Marktplatz erhängt wurden.“ Solche Maßnahmen waren wenig geeignet, die Sympathie der Bewohner der Provinz Basra zu gewinnen.21

Die Briten hatten keine Vision, wie sie die Menschen von Basra für sich gewinnen wollten. Als der Vizekönig von Indien, Lord Hardinge, im Februar 1915 Basra und Al-Qurna besuchte, nahm er Cox’ umfassendes Versprechen von „Freiheit und Gerechtigkeit“ zurück und schlug stattdessen „eine freundlichere Verwaltung“ sowie die Wiederherstellung des Wohlstands vor. Anstelle von größerer Autonomie oder Selbstverwaltung schienen die britischen Besatzer eher eine britische Verwaltung anzubieten. Sayyid Talib al-Naqib hatte sich offenbar doch nicht getäuscht: Die Menschen von Basra wechselten nur die Herrscher, statt der Osmanen gaben nun die Briten den Ton an.22

*

Nachdem sie Delamains Brigade zum Dienst im Persischen Golf verabschiedet hatte, setzte die Indian Expeditionary Force ihren Weg gen Ägypten fort. Die Flotte steuerte den arabischen Hafen von Aden an, bevor sie ins Rote Meer einfuhr. Der Hafen war das Zentrum einer winzigen Kolonie von rund 200 Quadratkilometern, welche die Briten 1839 erobert und ihrem indischen Reich eingegliedert hatten. Ursprünglich hatte die Royal Navy Aden als Stützpunkt für den Kampf gegen die Piraterie genutzt. Nach der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 diente die Stadt als Kohlestation für die Dampfschiffe, die zwischen Großbritannien und Indien verkehrten. Wie Hongkong entwickelte sich auch Aden zu einem der entscheidenden Standorte des britischen Seeimperiums und zu einem wichtigen eigenständigen Handelsplatz.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Briten mit den Stämmen aus der Umgebung Adens eine Reihe von Verträgen geschlossen, um eine besondere Einflusszone, auch als Aden-Protektorat bekannt, zu schaffen. Das Protektorat umfasste neun eigenständige Kleinstaaten mit jeweils eigenen autonomen Herrschern – britische Protegés, deren Territorien an der südlichsten Spitze der Arabischen Halbinsel sich insgesamt auf bis zu 23 300 Quadratkilometer addierten. Das Aden-Protektorat grenzte an die osmanische Provinz Jemen. Zwischen 1902 und 1905 demarkierte eine britisch-türkische Grenzkommission den Verlauf der Grenze zwischen den beiden Territorien. Als die Osmanen 1914 den Krieg erklärten, standen sich hier mit einem Mal Feinde gegenüber und die Region wurde zum zweiten Schauplatz von Feindseligkeiten zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich.

Der südlichste Punkt Jemens und damit die Grenze zum britischen Aden-Protektorat bildete die Halbinsel von Scheich-Said an der Meerenge Bab al-Mandab. Auf den Hügeln der Halbinsel hatten die Türken eine Reihe von Festungen errichtet, um die Seewege zu sichern. Die Briten wiederum hatten die Insel Perim unter ihrer Kontrolle, einen 13 Quadratkilometer großen Felsen in der Meerenge Bab al-Mandab, etwa 160 Kilometer westlich von Aden.

Anfang November meldete der britische Geheimdienst, die Türken würden Truppen auf Scheich-Said zusammenziehen. Er vermutete, die osmanischen Streitkräfte bereiteten einen Angriff auf die britischen Stellungen im Aden-Protektorat oder gar auf Perim vor. Angesichts der strategischen Bedeutung der Meerenge für die Kriegführung des britischen Weltreichs – alle Truppentransporte aus Neuseeland, Australien und Indien mussten Bab al-Mandab passieren, um den Suezkanal zu erreichen – entschlossen sich britische Militärstäbe, die osmanischen Truppen zu vertreiben und deren Geschütze auf Scheich-Said zu zerstören. Man beorderte am 2. November frische Truppen aus Indien nach Aden, um die britische Insel in der Meeresstraße abzusichern.

Am Morgen des 10. November eröffneten britische Schiffe vor Perim das Feuer auf osmanische Stellungen auf den Hügeln von Scheich-Said. Leutnant H. V. Gell, ein Signalgeber des 69. Punjab-Regiments, wartete ungeduldig auf das Ende des Beschusses, um für seinen „ersten Einsatz“ an Land gehen zu können. Die Männer bestiegen Landungsboote und wurden von einem langsamen Schlepper ans Ufer gezogen, während türkische Schützen mit zunehmender Genauigkeit von den Hügeln oberhalb des Strands auf sie schossen. Als sie die letzten Meter zum Strand ruderten, schlug eine Granate knapp neben Gells Boot ein und tötete einen indischen Reservisten. Die anderen Männer erreichten das Ufer, wo sie sich versammelten und auf den Befehl warteten, die osmanischen Stellungen anzugreifen. „In diesem Moment wurde sehr wenig geschossen“, erinnerte sich Gell. „Nur hin und wieder ein paar verirrte Kugeln.“23

Als die britisch-indischen Truppen die ersten Hügelrücken erreicht hatten, stellten sie fest, dass die osmanischen Stellungen verlassen waren. Zweifellos hatten der Beschuss durch die britischen Schiffe zusammen mit dem Vorrücken der Landungsboote die Verteidiger davon überzeugt, dass sie ihre Stellungen nicht würden halten können. Die Menge der aufgefundenen Kleidungsstücke, Waffen und Munition ließ darauf schließen, dass die Osmanen sich in Panik zurückgezogen hatten. „Schade war nur, dass sie davongekommen sind“, hielt Gell in seinem Tagebuch fest. „Wir schätzten, dass es etwa 500 Mann gewesen sein mussten.“ Gell wusste nichts über Opfer auf osmanischer Seite (er sah keine türkischen Toten), dafür berichtete er von fünf gefallenen und elf bei dem Einsatz verwundeten indischen und britischen Soldaten. Die britisch-indische Einheit verbrachte die Nacht auf Scheich-Said, zerstörte alle osmanischen Geschützstellungen und zog sich am 11. November auf ihre Schiffe zurück, um weiter westwärts nach Ägypten zu fahren.

Auch wenn die Operation rund um Scheich-Said ein militärischer Erfolg gewesen war, so sorgte sie doch für politische Schwierigkeiten, die den Briten in Aden für den Rest des Krieges das Leben erschweren sollten. Die Militärführung in Indien hatte die Einsatzpläne entworfen, ohne die Behörden in Aden zu Rate zu ziehen, die mit delikaten diplomatischen Verhandlungen beauftragt waren, um die Osmanen im Jemen zu isolieren. Besonders intensive Gespräche waren mit Imam Yahya, dem Führer der schiitischen Zaydi-Gemeinschaft im Hochland nördlich von Sanaa (der Hauptstadt des heutigen Jemen), geführt worden. Der Imam hatte 1911 einen Waffenstillstand mit den Osmanen vereinbart und sich 1913 bereit erklärt, die Provinz Jemen in Zusammenarbeit mit Istanbul zu regieren. Auch wenn Imam Yahya nicht in der Lage war, mit den Osmanen zu brechen, so zeigte er sich doch interessiert daran, gute Beziehungen zu den Briten aufzubauen.24

Der Beschuss von Scheich-Said änderte alles. „Der Imam [Yahya] zeigte sich erzürnt, und der [osmanische] Generalgouverneur von Sana [sic] ließ ein Manifest verbreiten, in dem die eigentlichen Motive Großbritanniens genannt wurden, das nämlich auf eine Annexion aus sei“, schrieb Harold Jacob, ein Oberstleutnant der britischen Indienarmee. „Unser Vorgehen half der türkischen Propaganda.“ Der Imam seinerseits behauptete, „die Affäre rund um Scheich-Said [habe] überall arabischen Argwohn geweckt“. Anstatt die britische Lage im Südjemen zu stärken, machte der Angriff auf die Halbinsel von Scheich-Said Aden nur noch verletzlicher. Es war einfach gewesen, 500 Soldaten aus einer isoliert liegenden Küstenfestung zu vertreiben. Es sollte sich als deutlich schwieriger herausstellen, das 23 300 Quadratkilometer große Aden-Protektorat gegen die 14 000 in Jemen stationierten osmanischen Soldaten zu verteidigen, die zusätzlich durch die Gefolgsmänner von Imam Yahya verstärkt wurden.25

Die osmanischen Geschütze auf Scheich-Said hatten die britische Schifffahrt tatsächlich nie bedroht. Die Meerenge Bab al-Mandab ist an ihrer schmalsten Stelle 32 Kilometer breit, sodass britische Schiffe nie in Schussweite der türkischen Geschütze hatten fahren müssen. Türkische Seeminen und deutsche U-Boote stellten für den Schiffsverkehr weitaus größere Gefahren dar, und um dieser Bedrohung zu begegnen, benötigte man Seestreitkräfte, keine Landstreitkräfte. Die Royal Navy schickte Kriegsschiffe, um türkische Häfen entlang der Küste des Roten Meers zu blockieren und die Seewege für befreundeten Schiffsverkehr freizuhalten. Ihr Erfolg ließ sich an den großen Frachtschiffen und den Truppentransportern ablesen, die Güter und Soldaten durch das Rote Meer zum Suezkanal und in die Kriegsgebiete jenseits davon brachten.

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Seit September 1914 wurde Ägypten von Tausenden Soldaten aus Großbritannien und den Dominions regelrecht überflutet. Die East Lancashire Territorial Division, welche die an die Westfront aufbrechende Berufsarmee in Ägypten ablösen sollte, erreichte Ende September als Erste das Land. Die Indian Expeditionary Force aus Bombay kam Ende Oktober nach Ägypten, und ihre Soldaten wurden in den Städten der Suezkanalzone postiert. Ein erstes Kontingent von 30 000 ANZAC-Soldaten aus Neuseeland und Australien landete Anfang Dezember in Alexandria. Tausende Mann Verstärkung sollten in den nächsten Wochen und Monaten noch folgen. Die Zugverbindungen zwischen Alexandria und Kairo waren von Zügen verstopft, die ganze Armeen von Männern und Pferden zu den Lagern rund um Kairo brachten. Die australische Infanterie ließ sich in Mena westlich von Kairo in der Nähe der Pyramiden nieder, die Australian-Light-Horse-Truppe schlug ihr Lager im begrünten südlichen Vorort Maadi auf, und die Neuseeländer kampierten im Zeitoun-Camp nördlich von Kairo in der Nähe von Heliopolis.

Der Zustrom der Kolonialtruppen half dabei, die angespannte Lage in Ägypten zu stabilisieren. Denn seit Ausbruch des Krieges war die britische Herrschaft in Ägypten durch eine ganze Reihe einschneidender Ereignisse erschüttert worden: die osmanische Kriegserklärung und der Aufruf des Kalifen zum Dschihad, die Aufkündigung der jahrhundertealten Verbindungen Ägyptens mit dem Osmanischen Reich, die Absetzung des Khediven Abbas Hilmi II. sowie der Aufstieg von Sultan Hussein Kamil unter britischer Protektion. Nach 32 Jahren britischer Okkupation war das ägyptische Volk unruhig geworden und blickte auf Deutschland als möglichen Befreier. Deutsche Siege über die Briten an der Westfront, wie etwa in der Schlacht bei Mons in Belgien (23.–24. August 1914) verstärkten solche Hoffnungen noch. Die britischen Behörden fürchteten eine Subversion durch deutsche und türkische Spione, eine Rebellion von ägyptischen Nationalisten sowie religiöse Aufstände der „erregbaren“ Masse.26

Das plötzliche Eintreffen Tausender ausländischer Soldaten machte der örtlichen Bevölkerung deutlich, dass die britische Position in Ägypten einfach zu stark war, als dass man sie hätte herausfordern können. Die ANZAC-Trainingslager brachten Zehntausende Kavalleristen und Infanteristen nach Kairo, die mit ihren Übungen und Manövern Wüstenstaub aufwirbelten. Um die Einwohner Kairos zu beeindrucken, die womöglich die Soldaten bei ihrer Ausbildung in den Vorortlagern noch nicht gesehen hatten, befahlen die britischen Behörden, neu eintreffende Truppenteile hätten durch das Stadtzentrum zu marschieren. „Wir hatten vor ein paar Tagen einen langen Marsch durch die verwinkelten Gassen Kairos“, schrieb Gordon Harper, ein Kavallerist aus Canterbury in Neuseeland in einem Brief in die Heimat. „Wir drangen in all die alten, ursprünglichen Stadtteile Kairos ein und marschierten durch lange Alleen und Slums und die unterschiedlichsten Gerüche.“ Harper verstand, welche politische Bedeutung diese Parade besaß: „Die Idee dahinter war, die Einheimischen, die hier einfach herumstreunen, mit unserer Stärke zu beeindrucken, da sie noch immer traditionelle und geistliche Verbindungen mit den Türken haben. … Der Effekt war sehr interessant. An unserem Weg standen mit dem Fez bekleidete Männer und verschleierte Frauen, die uns genau beobachteten, ohne den kleinsten Hinweis auf ein Lächeln oder Jubel, doch alles weist darauf hin, dass sie angesichts der britischen Herrschaft vor Angst erstarrt sind.“27

Die britischen und die Kolonialsoldaten wurden bei ihren Freigängen aus dem Lager zu Touristen. Soldaten posierten auf Pferden und Kamelen vor der Sphinx, umringt von Händlern mit kunstvollen Fälschungen pharaonischer Antiquitäten. Sie wurden auf dem Basar in Geschäfte gelockt, deren Schilder den ANZAC-Humor aufgriffen: „Ihr müsst euch nicht woanders übers Ohr hauen lassen, Australier, ihr könnt auch einfach zu uns kommen!“ oder „Hier wird Englisch und Französisch gesprochen; wir verstehen auch Australisch.“ Der ägyptische Tourismussektor, der sich schon immer schnell an ein neues Klientel angepasst hat, benannte Hotels und Restaurants rasch nach allen möglichen australischen und neuseeländischen Städten um. Zu den neuen Treffpunkten gehörten die Balclutha Bar und die Waipukurau Reading Rooms.28

Die europäischen Stadtviertel rund um den Ezbekiya-Park waren wie gemacht für die ausländischen Soldaten in Kairo, die auf Vergnügung aus waren. Offiziere trafen sich in den Restaurants und auf den Terrassen der Grand Hotels rund um den Park wie dem berühmten Shepheards, dem New Hotel oder dem Bristol. Die einfachen Mannschaften frequentierten die Cafés und Bars in den engen Seitenstraßen nördlich des Parks, die auch als das „Red Blind Quarter“ oder das „Wozzer“ (nach dem arabischen Straßennamen Wasaa) bekannt war – das Rotlichtviertel.

Die gut besuchten Bars und Bordelle des Red Blind Quarter, in denen Soldaten Abstand vom eintönigen Lagerleben und dem Wüstendrill suchten, erwiesen sich als explosive Umgebung. Erschöpft vom Warten auf ihren Kriegseinsatz, krank durch den „widerwärtig gefälschten Likör“, den man in billigen Kneipen verkaufte, und voller Groll auf die Prostituierten, bei denen sich viele Soldaten Geschlechtskrankheiten geholt hatten (gegen die es zur damaligen Zeit kaum Medikamente gab), entwickelten sich die Kolonialtruppen immer mehr zu einer Bedrohung für Recht und Ordnung, je länger sie in Kairo stationiert waren.29

ANZAC-Soldaten randalierten 1915 mindestens zwei Mal in großem Ausmaß. Am Vorabend ihres Abmarsches nach Gallipoli im April und noch einmal im Juli desselben Jahres griffen betrunkene Soldaten Bordelle im Red Blind Quarter an. Mehrere Gründe wurden für diesen Gewaltausbruch angeführt: Soldaten warfen Prostituierten Diebstahl vor, waren auf Rache für die übertragenen Geschlechtskrankheiten aus beziehungsweise klagten die Frauen an, einen Maori-Soldaten rassistisch angegriffen zu haben. Jedes Mal zerschlugen die Soldaten die persönliche Habe der Prostituierten und warfen Bettzeug sowie Möbel aus dem Fenster auf die Straße. Schränke und Truhen, die zu groß waren und nicht durchs Fenster passten, trugen sie auf die Dächer der fünfstöckigen Gebäude, um sie von dort hinabzuwerfen. Die Zuschauer des Spektakels türmten die Möbel dann auf und zündeten sie an. Das Feuer griff in der engen Straße schnell auf andere Gebäude über.30

Als die britischen Behörden angesichts der Ausschreitungen im April 1915 berittene Militärpolizei entsandten, um die Ordnung wiederherzustellen, begegnete diese einem betrunkenen und wütenden Mob, der sich weigerte, den Befehlen zu gehorchen. „Verschiedenste Gegenstände wurden auf die Polizei geworfen“, berichtete ein Augenzeuge, „Kessel, Möbelstücke.“ Die Polizei gab Warnschüsse über die Köpfe der Tobenden ab, bevor sie dann in die Menge schoss. „Vier oder fünf gingen zu Boden, die anderen standen der Polizei dennoch einfach gegenüber (die doch nur 4 Meter entfernt war), als wäre nichts geschehen.“ Feuerwehrwagen rückten aus, um die Flammen unter Kontrolle zu bringen. Als sie die Wasserstrahlen auf die randalierenden Soldaten richteten, gingen die Betrunkenen auf die Schläuche los und machten die Fahrzeuge funktionsuntüchtig. In diesem Moment wurden britische Soldaten zum Ort des Geschehens gerufen. Sie brachten ihre Gewehre in Anschlag: „Die hinterste Reihe stand, die zweite Reihe kniete, die vorderste Reihe lag auf dem Boden. Der befehlshabende Offizier warnte die Menge auf der Straße, er würde feuern lassen, sollte sich die Menge nicht sofort auflösen und auseinandergehen“, gab ein Augenzeuge zu Protokoll. „Drei Reihen von Männern so zu sehen, das ist nichts, was man erblicken möchte, wenn man selbst unbewaffnet ist.“ Die Unruhe endete gegen 20 Uhr, man zählte fünf verletzte und 50 arrestierte ANZAC-Soldaten. Die britischen Berichte enthalten keine Zahlen über ägyptische Opfer der April-Unruhen, auch wenn mehrere Häuser bis auf die Grundmauern abbrannten. Bei den Aufständen im Juli wurden sogar noch mehr Gebäude niedergebrannt.31

Unter den Bewohnern Kairos trugen diese gefährlichen Tumulte zu einer wachsenden Feindschaft gegen die Dominion-Truppen bei – und gegen die britische Besatzung, die sie nach Ägypten geführt hatte. In seinem Bericht über die Unruhen im Red Blind Quarter drückte der frühere ägyptische Politiker Ahmad Schafiq seine Bestürzung darüber aus, dass Soldaten ihren Kameraden tatenlos zusahen, wie sie Bordelle anzündeten, und dass die ANZAC-Soldaten sich so wenig Gedanken über das Leben der Frauen in diesen Häusern machten. „Hätten sich diese Ereignisse in anderen Umständen als dem Krieg zugetragen, hätten sie damit eine größere Revolte ausgelöst“, schlussfolgerte Schafiq. „Diese Soldaten, vor allem jene aus den Dominions, behandelten die Ägypter mit Grobheit und Verachtung.“32

Der Zustrom von Kolonialtruppen nach Ägypten sorgte also eher dafür, dass sich eine angespannte Situation noch verschlimmerte, anstatt dass er dabei half, sie zu beruhigen. Doch die Ägypter mussten auch in den kommenden Jahren noch Gastgeber für die britischen und kolonialen Truppen spielen. Das Land blieb wichtiger Stützpunkt, Trainingslager und medizinische Station für Soldaten, die in Ägypten, auf Gallipoli und in Palästina kämpfen sollten, in Kriegszügen, die bis zum Ende des Krieges andauerten. Die nördlichen Häfen Ägyptens, Alexandria und Port Said, dienten zudem als wichtige Marinebasen für britische und französische Schiffe, da sie deren Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer sicherstellten.

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Nach dem Kriegseintritt der Osmanen im November 1914 setzten Großbritannien und Frankreich eine Blockade der Ägäisküste durch, welche vom thrakischen Hafen Dedeağaç (dem heutigen Alexandroupoli im nordöstlichen Griechenland) bis hin zur Insel Samos, südlich des türkischen Hafens Smyrna (das heutige Izmir), reichte. Die vereinigte Flotte der Alliierten, bekannt als Eastern Mediterranean Squadron, erreichte eine Größe von 18 Kampfschiffen, 40 Zerstörern, 15 Torpedobooten, zwölf U-Booten und 20 Monitoren (Kriegsschiffe mit wenig Tiefgang, aber schweren Geschützen, die notorisch seeuntüchtig waren). Das Geschwader war im Hafen Moudros auf der umstrittenen Insel Limnos angesiedelt, etwa 80 Kilometer von den Dardanellen entfernt.33

Zu Beginn des europäischen Konflikts war die osmanische Seeverteidigung entlang der Meerengen veraltet und unzulänglich. Kurz nachdem die Deutschen und Jungtürken am 2. August ihr Geheimbündnis geschlossen hatten, brachten daher deutsche Schiffe Männer und Material zu den Dardanellen, um die Verteidigung zu verstärken. Das alliierte Bombardement der Dardanellen am 3. November 1914, das einen Großteil der Seddülbahir-Festung an der Einfahrt der Seestraße zerstörte, warf diese Bemühungen ein gutes Stück zurück. Osmanen und Deutsche verdoppelten daraufhin ihre Anstrengungen. Hunderte deutscher Soldaten und Militäringenieure entwarfen und errichteten neue Batterien entlang der europäischen und asiatischen Küste und bauten schlagkräftige Geschütze auf, um Schiffe an der Einfahrt in die strategisch bedeutsame Meerenge zu hindern. Das in die Jahre gekommene Kriegsschiff Messoudieh, das 1876 gebaut worden war, aber über schwere Kanonen verfügte, ging in den Dardanellen vor Anker, die Kanonen aufs ägäische Meer gerichtet. Türkische Schiffe legten Hunderte von Minen in engen Reihen, die südwärts der Meerenge von Çanakkale bis zur Einfahrt ins Schwarze Meer am Bosporus reichten. Man platzierte kräftige Suchscheinwerfer auf den Landzungen, um nachts fahrende Schiffe erkennen zu können, und baute ein Marconi-Radiotelegrafiesystem auf, um zwischen den Militärposten mit modernsten Mitteln kommunizieren zu können.

Die Osmanen konzentrierten ihre Mittelmeerflotte in den Dardanellen, um die Hauptstadt Istanbul vor alliierten Angriffen zu schützen. Die zwei deutschen Kriegsschiffe, die im August 1914 an die osmanische Flotte übergeben worden waren, die Yavuz Sultan Selim (die ehemalige Goeben) und die Midilli (die ehemalige Breslau), wurden an den Bosporus entsandt, um Istanbul vor Attacken aus dem Norden zu schützen und russische Häfen und Schiffe im Schwarzen Meer anzugreifen. Als die Türkei im November ihren Krieg begann, waren der Bosporus und die Dardanellen damit wesentlich besser geschützt als zuvor. Dennoch ahnten Deutsche und Osmanen, dass die Meerengen nicht undurchdringlich waren. Der die Arbeiten an den Verteidigungsanlagen überwachende deutsche Admiral berichtete im Dezember 1914, er sei der Überzeugung, eine alliierte Flotte könne unter dem Verlust von vier oder fünf Schiffen die Verteidigung der Dardanellen durchbrechen.34

Die osmanische Infanterie diente als letztes Abwehrmittel gegen eine mögliche alliierte Attacke auf Istanbul. Sowohl die Deutschen als auch die Osmanen glaubten, die Alliierten würden Bodentruppen brauchen, um Istanbul zu besetzen – dies sei allein mit Seestreitkräften nicht möglich. Um die Hauptstadt und ihr Hinterland zu beschützen, konzentrierten die Osmanen den größten Teil ihrer Armee an den Meerengen und in Thrakien. Dank der osmanischen 1. Armee (160 000 Mann), zu der die erfahrensten türkischen Soldaten gehörten, und der 2. Armee (80 000 Mann) konnten die Türken mit einer Truppe von fast 250 000 Mann aufwarten – etwa der Hälfte der im November 1914 mobilisierten Kräfte –, um die Hauptstadt gegen eine Landung der Entente zu verteidigen.35

Da sich die türkische Flotte auf die Meerengen konzentrierte, waren die Küstenstädte des Osmanischen Reichs an der Ägäis und dem Schwarzen Meer alliierten Angriffen fast schutzlos ausgeliefert. In beiden Meeren unterbrachen Kriegsschiffe der Entente die Wirtschaftsaktivitäten und Nachschubverbindungen. Russische Schiffe bombardierten am 17. November 1914 den Schwarzmeerhafen von Trabzon, lösten damit eine Panik aus und verursachten „starke Verluste an Menschenleben und Eigentum“, wie der amerikanische Konsul festhielt, der das Bombardement miterlebte. Zwischen November 1914 und März 1915 griffen die Russen Trabzon sechsmal an und versenkten dabei Schiffe, beschädigten die Stadt und trieben die Einwohner auf ihrer Suche nach Schutz aufs Land. Die Russen beschossen darüber hinaus die türkischen Kohleminen in Zonguldak, um damit eine wichtige Energiequelle für die türkischen und deutschen Schiffe zu unterbrechen. In der Ägäis eröffneten Briten und Franzosen das Feuer auf den Hafen von Izmir, wo eine Reihe von Handelsschiffen vor Anker lagen, die wegen der Blockade nicht auslaufen konnten. Als Vergeltungsmaßnahme beschlagnahmten die Osmanen drei britische Schiffe als Kriegsbeute und versenkten sie in der Hafeneinfahrt, um alliierten Kriegsschiffen die Einfahrt zu erschweren. Damit waren noch sechs andere Dampfschiffe für die Dauer des Krieges im Hafen festgesetzt – aus den Vereinigten Staaten, Griechenland, Bulgarien, den Niederlanden und Deutschland.36

In der Küstenregion Kilikien, wo das türkische Anatolien an Syrien grenzte, mussten die Osmanen um die Sicherheit ihrer Eisenbahnverbindungen fürchten. Nachdem übers Meer alle Nachschubmöglichkeiten gekappt worden waren, spielten Züge eine entscheidende Rolle für den Transport von Truppen, Material und Nachschub von den Provinzen an die Front – im Kaukasus, Mesopotamien und Syrien. Der Hafen von Mersin, über das benachbarte Adana mit der Bagdadbahn verbunden, hatte zu Beginn des Krieges keine Verteidigung zum Meer hin. Ende November 1914 sollen 16 000 Mann sowie große Mengen Munition über die Eisenbahnlinie Mersin–Adana verbracht worden sein. Da ihnen aber nichts zur Verfügung stand, womit sie die alliierten Schiffe hätten abschrecken können, mussten die Osmanen gezwungenermaßen zusehen, wie französische Kriegsschiffe ungestraft nach Mersin einfuhren, um Schiffe nach Gutdünken zu beschlagnahmen oder zu zerstören.37

Der Golf von Alexandrette (dem heutigen İskenderun), östlich von Mersin, war eine weitere Verbindungsschnittstelle zwischen Zug und Schiff. Die Bagdadbahn erreichte hier die Mittelmeerküste, auch wenn 1914 die Eisenbahnverbindung von Adana wegen noch unvollendeter Tunnel im Taurusgebirge und von Aleppo wegen laufender Arbeiten in den Amanosbergen abgeschnitten war. Das bedeutete, dass Passagiere und Fracht die Züge hier verlassen und um die Berge herum transportiert werden mussten, bevor sie, auf der anderen Seite der noch nicht fertiggestellten Tunnel, ihre Reise fortsetzen konnten. Ungeachtet dieser Unannehmlichkeiten diente Alexandrette für Zehntausende von türkischen Soldaten auf ihren Wegen zwischen Syrien, Mesopotamien und Anatolien als Transitpunkt.

Im Dezember 1914 erreichte der britische Leichte Kreuzer HMS Doris den Golf von Alexandrette, um die Bahnlinie vom Meer aus zu beschießen. Am 20. Dezember, einem Sonntagmorgen, eröffnete das Kriegsschiff in der Nähe des Dorfes Dörtyol das Feuer. „Schuss um Schuss wurde auf die Eisenbahnlinie abgegeben“, berichtete H. E. Bishop, der amerikanische bevollmächtigte Konsularagent vor Ort, „und das Schiff fuhr langsam die Küste entlang auf Alexandrette zu.“ Kurz nach Mittag lief das Schiff unter weißer Flagge in den Hafen ein und schickte eine Abordnung an Land, um ein Ultimatum an die Verantwortlichen der Stadt zu überbringen. Darin hieß es, die Eisenbahnverbindung diene zum Transport von osmanischen Truppen an die Fronten, wo sie britische Soldaten bedrohten (insbesondere in Mesopotamien). Deshalb forderte der britische Befehlshaber, die osmanischen Behörden sollten alles vorrätige Material zum Eisenbahnbau sowie das gesamte gelagerte Kriegsmaterial einem britischen Landungstrupp übergeben, welcher die Gegenstände am Ufer zerstören würde. Sollten die Behörden sich dem verweigern, würde die Doris alle Verwaltungseinrichtungen, die Eisenbahnlinie und den Hafen mit ihren schweren Geschützen zerstören. Für jegliches zivile Todesopfer seien damit die osmanischen Behörden verantwortlich, da die Briten ihren Verpflichtungen aus der Haager Konvention von 1907 nachgekommen wären, indem sie vor dem Beschuss des unbefestigten Hafens gewarnt hätten.38

Cemal Pascha aus dem KEF -Triumvirat hatte kurz zuvor seinen neuen Posten als Militärbefehlshaber in Syrien angetreten. Als er durch den Distriktgouverneur in Alexandrette vom britischen Ultimatum erfuhr, reagierte er impulsiv mit einer Gegendrohung. Er weigerte sich, Vorräte oder Kriegsmaterial an den Kapitän der Doris auszuliefern. Als kriegführende Nation stimmte er zu, dass die Briten das Recht hätten, auf osmanische Regierungsgebäude zu schießen. Dennoch drohte er damit, für jedes durch die Royal Navy beschädigte Regierungsgebäude umgehend die augenblickliche Zerstörung einer Reihe von britischen Besitztümern und Institutionen in Syrien zu befehlen. Und in noch aufrührerischer Manier informierte Cemal den britischen Kommandeur, er habe seit Kriegsbeginn in Syrien zahlreiche britische Staatsangehörige interniert. Nun drohte er damit, für jeden Osmanen, der durch feindliche Handlungen der Doris gegen Alexandrette getötet werden würde, einen Engländer zu erschießen.

Cemals provokative Antwort ließ den Zwischenfall von Alexandrette zu einer umfassenden Krise eskalieren, die erst durch amerikanische Vermittlung entschärft werden konnte. Die Vereinigten Staaten waren eine neutrale Macht (und blieben dies bis April 1917) und pflegten freundliche Beziehungen zum Osmanischen Reich. Die Amerikaner hatten sich zudem einverstanden erklärt, die Interessen der Entente auf osmanischem Gebiet zu vertreten. Sowohl die Briten als auch die Osmanen zeigten sich für eine amerikanische Vermittlung bereit, um sich aus der Pattsituation zwischen Ultimatum und angedrohter Vergeltung zu befreien.

Der bevollmächtigte US-Konsularagent Bishop, der in Alexandrette mit türkischen und deutschen Funktionären zusammenarbeitete, vereinbarte zunächst einen vierundzwanzigstündigen Aufschub, um eine Resolution zu verhandeln. Da Cemal Pascha nicht bereit war, Zivilisten aus Alexandrette zu evakuieren, war der örtliche Gouverneur vor allem daran interessiert, ein Bombardement zu vermeiden. Der britische Kommandeur wiederum sorgte sich um die angekündigten Vergeltungsmaßnahmen an den britischen Staatsangehörigen. Bishop berichtete dem Kapitän der Doris, dass „in Alexandrette keine Soldaten sind und dass nach Angaben … der örtlichen Behörden alle Kriegsmunition bereits ins Landesinnere verschafft wurde“. (In einer vertraulichen Ergänzung hielt Bishop fest, er habe später entdeckt, „dass es zu diesem Zeitpunkt doch Kriegsmunition hier gab“.) Bishop schlug vor, man könne die Osmanen zur Zerstörung von zwei Lokomotiven überreden, die offenbar „das einzige in Alexandrette vorhandene Kriegsmaterial“ darstellten, womit der Auftrag der Doris erfüllt worden wäre, die militärischen Nachschubverbindungen zu unterbrechen.

„Nach Verhandlungen zwischen einem Schiffsoffizier, dem Stadtgouverneur und dem Verfasser dieses Berichts“, schrieb Bishop später, „wurde beschlossen, dass man die Maschinen auf ein offenes Stück Land fahren und in Gegenwart eines Abgesandten des Schiffs und mir selbst in die Luft sprengen wolle.“ Die Doris lieferte den für diese Aufgabe benötigten Sprengstoff, und eine Gruppe von vier Abgeordneten – ein osmanischer Hauptmann, der Hafenmeister, ein Offizier der Doris und der amerikanische Konsularagent – trafen sich um 9:30 Uhr, um der Zerstörung zweier einsamer Lokomotiven beizuwohnen. Die Sprengladungen wurden gezündet, „glücklicherweise ohne jemanden zu verletzen“, und nach einer Begutachtung wurden die beiden Loks als „derart beschädigt“ bezeichnet, dass ihr „weiterer Einsatz ausgeschlossen war“. Konsularagent Bishop schloss seinen Bericht mit leichter Ironie: „Um 10:45 Uhr erreichten wir erneut den Eisenbahnkai, woraufhin der Kommandeur des britischen Landungstrupps dem Verfasser den Dank des Kapitäns übermittelte, dass man hier Zeuge von Fairplay geworden wäre. Die Briten bestiegen das Dampfschiff, verschwanden und der Zwischenfall war beendet.“

Eine tödlichere Demonstration ihrer Herrschaft über die Meere lieferten die Briten, als sie ein U-Boot beauftragten, die Messoudieh an ihrem Ankerplatz in den Dardanellen zu versenken. An einem außergewöhnlich klaren und ruhigen Sonntagmorgen im Dezember fuhr ein britisches U-Boot unbemerkt durch das sechs Kilometer lange Minenfeld und feuerte dann einen Torpedo auf den in die Jahre gekommenen osmanischen Kreuzer. Um 11:55 Uhr erschütterte eine furchtbare Explosion die Messoudieh und ließ das Schiff unter einer Rauchwolke verschwinden. Als sich der Rauch gelegt hatte, feuerte die Messoudieh in blinder Rache zwei Salven aus ihren schweren Kanonen auf ihren unsichtbaren Angreifer, bevor sie zu sehr in Schlagseite geriet, um weiter zu schießen. Nach einem gewaltigen Ruck begann das osmanische Kriegsschiff zu sinken. Ein Augenzeuge gab an, der Kreuzer sei in knapp sieben Minuten gesunken. Da sie in flachen Gewässern und Ufernähe vor Anker lag, setzte die Messoudieh auf dem Meeresboden auf, und große Teile des Schiffsrumpfs ragten aus dem Wasser. Dutzende von Matrosen klammerten sich an den Geschützöffnungen und dem Schiffsbauch fest, weshalb sich viele Boote vom Ufer aus aufmachten, um Überlebende zu retten. Die Operation dauerte noch lange bis in die Nacht, auch da Ingenieure Rettungslöcher in den Schiffsrumpf bohrten. Zwischen 50 und 100 Männer sollen bei diesem Angriff getötet worden sein.39

Dass ein feindliches U-Boot erfolgreich durch ein dichtes Minenfeld manövrieren und ein großes Kriegsschiff versenken konnte, erwies sich als furchtbarer Schock für die osmanischen Behörden. Vizeadmiral Johannes Merten, der deutsche befehlshabende Offizier an den Dardanellen, musste zähneknirschend zugeben: „Das war ein verdammt kluger Schachzug.“ Doch vor allem war der Angriff auf die Messoudieh zusammen mit den anderen Bombardierungen der türkischen Stellungen an den Dardanellen eine Warnung für die Osmanen, dass sich die Alliierten auf größere Operationen in den Meerengen vorbereiteten.40

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Nach zwei Monaten Krieg war die Verletzlichkeit des Osmanischen Reichs sowohl der Entente als auch den Mittelmächten deutlich geworden. Die Türken hatten sich als unfähig erwiesen, all ihre Grenzen gleichzeitig vor Angriffen zu schützen. Angesichts der Größe des Reichs war es auch nicht realistisch zu erwarten, dass ihnen dies in Zukunft gelingen würde. In allen Himmelsrichtungen waren die Osmanen zum Rückzug gezwungen worden: im Kaukasus, in Basra, im Jemen sowie in der Ägäis und in Kilikien. Die Russen hatten Gebiete in Anatolien besetzt, während die Briten den Osmanen ihre autonome Provinz Ägypten entrissen, sie vom Persischen Golf vertrieben und sich die völlige Vormachtstellung auf dem Roten Meer und (in Zusammenarbeitet mit den Franzosen) auf dem Mittelmeer gesichert hatten. Mit Zehntausenden Kolonialsoldaten, die jeden Monat aus Australien, Neuseeland und Indien in Ägypten ankamen, und der wachsenden Präsenz von Seestreitkräften in der Ägäis glaubten sich die Entente-Mächte den Osmanen weit überlegen.

Unter dem wachsenden Druck der Deutschen entschlossen sich die Osmanen, in die Offensive zu gehen. Sie benötigten Siege, um die Moral ihrer Soldaten wie auch die ihrer Untertanen aufrechtzuerhalten. Und sie mussten den Aufruf ihres Sultans zum Dschihad noch auf die Probe stellen.

Der Untergang des Osmanischen Reichs

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