Читать книгу Legende der Elemente - Eva Eccius - Страница 12
ОглавлениеRettung in Sicht?!
„Fiona, wach auf … bitte!“
War das Neys? Neys, der so verzweifelt rief? Immer wieder ließ mich ein stechender Schmerz aufzucken. Ich versuchte meine Finger zu bewegen, aber ich konnte sie kaum mehr abbiegen. Ich versuchte meine kalten Zehen in den Schuhen anzuheben, aber außer Schmerz - keine Rührung. Angst machte sich in meinen Körper breit, mein Atem ging schnell und mein Herz pochte. Schließlich öffnete ich meine Augen und blickte geradewegs in Neys' besorgtes Gesicht. Er sah müde und erschöpft aus.
Erst dann nahm ich wieder meine Umgebung wahr. Es war ein fürchterlicher Anblick, nichts hatte sich verändert. Ein schier ewig andauernder Schnee fiel, wie verhöhnend, vom Himmel hinunter. Meine und Neys' verzweifelten Blicke schauten Richtung Nina. Sie lag immer noch stocksteif im Schnee, rund herum die Tiere, die sie zu wärmen versuchten.
„Wie geht es ihr?“, hauchte ich besorgt.
Doch Neys schüttelte nur betrübt den Kopf und meinte, dass Nina immer noch nicht erwacht sei. Sie atmete noch, aber sie war schwach und der Atem wurde mit jeder Stunde immer flacher. Neys befürchtete, dass Nina nicht mehr lange durchhalten würde. Auf allen vieren schleppte ich mich zu ihr. Alles in mir schien nur noch unter Schmerzen zu funktionieren. Mit meiner Hand streichelte ich ihr sanft übers Gesicht. Statt weicher Haut berührte ich kalte starre Wangen. Würde ich nicht sehen, dass sich ihr Brustkorb hob - ich würde an ihrem Leben zweifeln. Doch zu meiner Erleichterung sah ich, wie Ninas Brust sich hob und senkte, schwach, aber mehr als wir wahrscheinlich erwarten konnten. Ihre Gesichtsfarbe konnte man kaum mehr vom Schnee unterscheiden. Ihr Lippen waren blau wie der Himmel.
Wir waren so töricht gewesen und so unvorbereitet in das Abenteuer hineingestolpert. Warum hatten wir nicht damit gerechnet? So viele Fragen und doch keine Antwort. Nur Ausreden, die in diesem Moment keinem halfen.
Wir saßen hier mitten im Wald, alleine und frierend. Noch so unendlich weit entfernt vom nächsten Dorf. Vielleicht könnten wir Neys Drachen Tandora benutzen, um die Gegend abzusuchen und Hilfe zu holen. Doch ein Blick zu unseren treuen Begleitern verriet mir die bittere Wahrheit: Auch sie konnten uns nicht mehr helfen. Sie waren so wie wir - mit ihren Kräften am Ende. Es vergingen gefühlt unendlich viele Stunden des Wartens, Verzweifelns und Hoffens. Doch hoffen auf was?
Ich schaute Neys immer wieder an und bemerkte, dass er des Öfteren einnickte – wenn auch nur für ein paar Augenblicke. Er wollte munter bleiben, doch das war absurd. Er brauchte, so wie wir alle, Schlaf. Auch wenn er es nicht wollte, so schlief er schließlich ein und ich war sicher nicht die, die ihn daran hindern würde. Nicht jetzt, wo er so lange Zeit auf uns aufgepasst hatte.
„Danke Neys … danke für alles“, flüsterte ich in seine Richtung.
Es war still, nur der Wind blies uns die kalte Luft um die Ohren. Es war unheimlich immer nur Schnee zu sehen. Mein Blick blieb Richtung Himmel gerichtet. Wäre ich jetzt zu Hause, würde mir meine Mutter eine heiße Kartoffelsuppe machen, mit vielen Karotten. Doch ich war nicht zu Hause. Wie viele Tage war ich schon unterwegs? Über zehn Tage bestimmt und doch kam es mir vor, als läge ein halbes Leben dazwischen. Ich hoffte so sehr auf Hilfe, nicht für mich, sondern in erster Linie für Nina. Was konnten wir tun, um aus dieser Lage zu befreien?
Um mich wach zu halten, ging ich im Kopf eine Option nach der anderen durch. Warten war die schlechteste Variante von allen. Doch zum Weitergehen fehlte uns die Kraft und je länger wir hierblieben, umso schwächer wurden wir. Ein Teufelskreis der besonders schrecklichen Art.
Ob sich Mutter, Vater, Großmutter und Sota bereits Sorgen um mich machten? Ob sie bereits mit dem Wiederaufbau des Dorfes angefangen hatten? Ob ich sie jemals alle wiedersehen würde? Ich hoffte es. Denn der Gedanke daran, dass ich es nicht mehr erleben könnte, sie alle noch einmal in die Arme zunehmen, mit ihnen zu lachen und Sota aufwachsen zusehen, brachte mich beinahe um den Verstand. Das durfte ich auf keinen zulassen. Außerdem wartete Sota bestimmt schon darauf, dass ich bald endlich wieder nachhause kam, um ihm von meiner Reise zu erzählen und von meinen Abenteuern, die ich erlebt hatte.
Aber diesen Teil der Geschichte würde ich vermutlich auslassen. Ab diesem Zeitpunkt fasste ich einen Entschluss. Ich werde sie alle wiedersehen, ich hatte es versprochen und ich werde mein Versprechen halten. Hier war kein Ort zum Aufgeben! Ich wollte unbedingt raus aus dieser Kälte und zwar schnell. Was tut man, wenn man von niemanden Hilfe erwarten konnte? Richtig, man nimmt es selbst in die Hand!
Ich richtete mich auf, schleppte mich mühsam zu Nina. Als ich gerade versuchte sie auf meinen Rücken zu hieven, hörte ich etwas, dass von oben zu kommen schien, noch bevor ich es sah. Was war das für ein Geräusch? Es klang wie Blätter im Wind, aber das war unmöglich. Alle Blätter, wenn sie nicht schon hinuntergefallen waren, waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Ich suchte den Horizont ab? Woher kam das Geräusch nur? Ich weckte Neys. Er richtete sich sofort kerzengerade auf und entschuldigte sich über die Schwäche, eingeschlafen zu sein. Ich ignorierte es und deutete zum Himmel.
Erst rechts, dann links hörten wir wieder dieses Geräusch und dann endlich konnten wir etwas über uns erkennen. War das etwa ein Vogel? Ich wollte mich schon enttäuscht zurück in den Schnee fallen lassen, als ich erkannte, dass auf diesem Vogel eine Person saß. Dieser jemand flog weite Kreise um unsere Köpfe herum.
„Hilfe!“, rief ich aus vollster Kehle und auch Neys steckte seine letzte Energie in einen Ruf: „Hilfe, hier sind wir!“
Wir wussten nicht, wer diese Person war, ob Freund oder Feind. Jedenfalls konnte uns kaum etwas Schlimmeres zustoßen, als hier in der Kälte zu erfrieren. Tatsächlich wurde die Person auf uns aufmerksam. Der Vogel flog im Sturzflug auf uns zu, wir duckten uns, aber er landete sanft wie eine Feder. Mir verschlug es die Sprache. Von diesem gewaltigen Vogel, sprang ein Mädchen hinunter. Das Mädchen musterte, Neys und mich. Dann entdeckte sie Nina. Ohne Neys und mich weiter zu beachten, eilte sie zu ihr. Hinter ihr jagte ein Fuchs nach. Sie fing an Nina zu untersuchen.
„Hey, was soll das?“, fragte ich aufgebracht.
„Das sollte ich euch fragen. Das Mädchen ist halb tot, sie muss schleunigst ins Warme!“ Ihre Vorwürfe brannten sich in mein Herz ein. Als ob wir das nicht selbst wussten. Wir verweilten hier ja nicht gerade zum Spaß. Ich wollte schon etwas pampiges darauf erwidern, als mich Neys mit einem warnenden, kopfschüttelnden Blick zurückhielt und das Mädchen mir zuvorkam: „Los. Steht hier doch nicht so herum. Helft mir, sie zu meinem Vogel zu tragen.“ Ihre Stimme war bestimmend und zeigte ihre Wut.
Neys hob Nina vorsichtig hoch und trug sie zu dem Vogel vor uns. Der Vogel, ließ sich im Schnee nieder und streckte einen seiner Meter langen Flügel aus, sodass Neys es leichter hatte, Nina auf ihn hinauf zu hieven.
„Was ist, ihr beiden? Kommt ihr jetzt? Oder wollt ihr hierbleiben?“ Das Mädchen war schon halb auf ihrem Vogel gestiegen, als sie sich zu uns umdrehte und uns mit fragendem Blick deutete, ihr zu folgen. Wir kletterten schnell hinter ihr her, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Neys hielt Nina im Arm, sodass sie nicht hinunterfallen konnte. In mir blitzte ein Stich der Eifersucht hoch. Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich in Gedanken. Jetzt war keine Zeit, um an so etwas zu denken.
Das Mädchen war vor mir und ihre langen, wunderschönen, tief violetten Haare kitzelte mich im Gesicht. Für einen kurzen Augenblick musste ich mir eingestehen, dass sie eine gewisse Eleganz und Leichtigkeit an sich hatte. Wer war sie bloß? Woher kam sie? Was tat sie eigentlich hier, in dieser Gott verlassenen Gegend? Das Mädchen gab ein leises vogelartiges Gurren von sich und der Vogel stieß sich kräftig vom Boden ab. Aber doch so sanft, dass wir uns kaum festhalten mussten. Kurz darauf waren wir schon über den Baumwipfeln.
„Wie konntet ihr sie nur im Schnee liegen lassen?“, fragte das Mädchen nach einiger Zeit kopfschüttelnd. Doch dieses Mal sprach sie mit uns etwas sanfter.
„Was hätten wir den tun sollen? Der Schnee hat uns einfach überrascht“, murmelte ich immer noch etwas angesäuert. Sie hatte ja gut reden. Wie konnte uns dieses Mädchen Vorwürfe machen, wo sie nicht einmal im geringsten ahnte, was wir bisher alles erlebt und durchgemacht hatten? Sie tat gerade so, als hätten wir Nina absichtlich erfrieren lassen. Neys schien meine Wut zu spüren, denn plötzlich schob sich seine Hand in die meine und drückte sie sanft. Seine Berührung tat mir unglaublich gut und ein kleines bisschen meiner Wut verflog.
„Ihr seid nicht von hier, richtig?“, fuhr das Mädchen nun in einem sanfteren und versöhnenderen Tonfall fort, als hätte sie meine Wut genauso gespürt, wie Neys. „In dieser Gegend muss man immer damit rechnen.“
Wo auch immer wir hier jetzt waren. Das wussten wir jetzt auch, dachte ich sarkastisch. Betretenes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Es bot sich mir die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten, denn sie war in ihrem ganzen Wesen außergewöhnlich. Nicht nur wegen ihrer Haarfarbe. Nein, es war ihre ganze Erscheinung. Sie hatte ein wunderschönes tiefgrünes Kleid an, dass ihr fast bis zu den Knien reichte. Darüber trug sie einen nicht minder eleganten Mantel, der perfekt zu ihren Handschuhen und ihrem Stirnband passten.
„Wohin fliegen wir überhaupt?“, fragte Neys nach einiger Zeit.
„Wir fliegen ins Dorf im Tal der Weisen. Eure Freundin muss schnellst möglichst zu einem Arzt und euch schadet ein warmes Bad auch nicht.“ Das erste Mal, seit wir sie getroffen hatten, lächelte sie. Doch wir hatten keine Zeit mehr zu reagieren, denn dann sahen wir etwas Unglaubliches.
„Oh … wow!“, flüsterte ich überrascht.
„Das ist … das ist … einfach fantastisch!“, brachte Neys staunend heraus.
Das Dorf im Tal der Weisen, war atemberaubend. In der Mitte zweier riesiger Berge lag das Tal der Weisen. Das Dorf, in mitten des Tales, war von einer gläsernen Kuppel umgeben. Der Schnee funkelte wie abertausend Diamanten rundherum. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und erhaschte einen Blick durch das Glas der Kuppel. Es waren viele kleine Häuser zu sehen und in der Mitte … ein großes Gebäude. Viel größer als jedes andere. Es sah aus wie ein Tempel. Doch was mich am meisten verblüffte war, dass im Inneren der Kuppel alles grün war, saftig grüne Wiesen, Bäume und Sträucher. Es war kein Hauch von Schnee zusehen.
„Wie geht das? Wie ist das nur möglich?“, fragte ich erstaunt.
„Wie soll ich es sagen … ohne dieser Kuppel hätten wir auch Winter und das ganze Dorf wäre von Schnee bedeckt. Aber da, wie ihr mittlerweile wisst, zu viel Schnee gefährlich sein kann, haben meine Vorfahren diese Kuppel erbaut, um sich und ihre nachfolgenden Generationen vor dem vielen Schnee zu schützen. Nur so war es möglich, hier zu überleben.“ Doch als sie in mein immer noch verwirrtes Gesicht blickte, fuhr sie fort: „Noch einmal, ohne dieses gläserne Dach, würde unser Dorf durch die Schneemassen verschüttet werden.“
„Und wie kommen wir hinein?“, fragte Neys, interessiert und kam offensichtlich, genauso wenig wie ich, aus dem Staunen heraus.
„Ganz, einfach. Von oben. Oben auf dem höchsten Punkt der Kuppel ist eine Öffnung, die von innen aufgemacht werden kann und uns hineinlässt. Es wäre zwar am Boden auch ein Eingangstor, aber durch den vielen Schnee ist es vorüber gehend unpassierbar. Deswegen ist der einzige Weg hinein oder hinaus über unsere schönen Flugtiere“, erklärte das Mädchen und streichelte dabei sanft und mit liebevoller Zuneigung den Vogel, der das offensichtlich genoss. Er gab zum ersten Mal ein leises Gurren von sich.
„Doch warum liegt hier so viel mehr Schnee, als da wo wir waren“, fragte ich weiter. Ich musste unbedingt immer alles wissen, wissen, wie etwas funktionierte. Ich konnte nicht anders. Es war wie eine Sucht. Mutter meinte immer, meine Neugierde würde mir noch viele Probleme machen. Doch es war ein innerer Drang, der mich zum Fragen anstachelte. Der Gedanke an meine Mutter, ließ mich kurz schwermütig werden.
Neys riss mich aus meinen trüben Gedanken. „Kannst du es dir nicht denken? Das ist ein Tal, da sammelt sich der Schnee … nehme ich an, oder?“, fragte Neys das Mädchen.
„Ich sehe, du hast Ahnung.“ Das Mädchen lächelte verschmitzt. „Zwei Sachen spielen hier eine große Rolle. Erstens, wie du schon erwähnt hattest, dass sich der Schnee vom Berg hier unten sammelt. Der zweite Grund ist, dass hier eine so genannte „Schneeraupe“ lebt. Diese braucht eben zum Leben Schnee, wie der Name schon sagt. Sie baut sich daraus zum Beispiel ein Nest. Ein sehr großes Nest. Eine ausgewachsene Raupe kann bis zu fünf Meter lang werden.“
Erstaunt blieb mein Mund offen stehen. So ein gewaltiges Tier, hatte ich noch nie gesehen. Es war fast unvorstellbar, dass es so ein Tier überhaupt gab. Aber was wusste ich schon. Ich lebte seit sechzehn Jahren immer in dem gleichen Dorf.
„Wie viele Bewohner hat euer Dorf?“, fragte Neys der immer noch Nina fest in den Armen hielt – was ich krampfhaft versuchte zu ignorieren. Ich hätte sie halten sollen.
„Schwer zu sagen, ich kenne fast alle. Aber ich denke so um die sechstausend werden wir schon sein.“
„Das sind ja viele. Wir sind gerade einmal zweitausend. Wieso ist die Kuppel dennoch so groß?“, fragte ich verblüfft.
„Da staune ich auch. Mein Dorf hat keine fünfhundert mehr als Fionas. Von Nina weiß ich, dass sie vielleicht einmal die Hälfte von euch hat“, stellte Neys erstaunt fest.
„Ihr seid wirklich wenig. Ihr müsst wissen, unsere Vorfahren haben die Kuppel mit Absicht größer gebaut. Sie wussten ja nicht, wieviele Nachkommen noch folgen werden“, meinte das Mädchen lächelnd. Das war verständlich und beeindruckend, wie weit die Vorfahren voraus gedacht hatten. Aber das so viele Menschen an einem Ort leben konnten, war für mich schier unvorstellbar.
„Und warum heiß es: Tal der Weisen“, fragte ich und nutzte noch die Zeit, in der wir flogen für mehr Antworten und um mich von meiner Eifersucht, die ich sonst nicht von mir kannte, abzulenken.
„Bei allen Elementen, ihr könnt wirklich nicht aufhören zu fragen, oder? Kurz gesagt: Mein Volk war immer schon sehr gläubig. Seit den Kindertagen werden wir im Glauben erzogen. Ich nehme an, dadurch entstand der Name. Ich kann euch später mehr erzählen, wenn ihr wollt. Aber jetzt habe ich eine Frage: Wie heißt ihr eigentlich?“
„Ich heiße Fiona, das ist Neys und Nina ist die, die aus dem Eis kommt“, sagte ich mit gespielter Ironie.
„Gut, falls ihr mich sucht, fragt nach Mira. Haltet euch jetzt gut fest. Wir sind da!“