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Der Weg ins Ungewisse

Wie lange war es her, dass ich ganz auf mich allein gestellt war? Niemand war hier, der mich brauchte. Niemand auf den ich aufpassen sollte. Niemand der nach mir rief. Keine Aufgabe, die ich sofort erledigen musste. Niemand vor dem ich perfekt sein wollte und auch musste. Mit jedem Atemzug sog ich mehr dieser vollkommenen Freiheit ein und atmete Erleichterung aus, als würde ich wieder zu mir selbst finden.

Blinky kroch gähnend aus meinem Rucksack und kletterte auf meine Schulter. Ich kraulte ihm sein warmes, zottiges Fell. „Mit dir werde ich mich niemals einsam fühlen.“

Es war ein schöner sonniger Tag. Einzelne Wolken zogen am Himmel vorbei, doch die Sonnenstrahlen leuchteten mir warm ins Gesicht. Mein Weg führte durch Wälder hindurch, immer wieder machten wir Halt, um durchzuatmen, Beeren vom Wegrand zu naschen oder um uns in den Bächen zu erfrischen. Es fühlte sich alles so vollkommen an, dass ich unvorsichtig wurde.

Blinky und ich hatten gerade eine Lichtung erreicht, als mich der Geruch von einem Lagerfeuer innehalten ließ. Schnell versteckte ich mich hinter einen Baum und lugte vorsichtig hervor. Ein schwarzes Zelt war mitten auf der Waldlichtung aufgebaut worden. Doch es war nicht irgendein schwarzes Zelt, es war das schwarze Zelt.

Mein Puls begann sich sofort zu beschleunigen. Dieses Zelt gehörte Dào und seinen bösen Handlangern. Dào galt als der Schrecken aller Dörfer. Soweit ich mich erinnerte, waren es drei Männer, die durch die Gegend streiften und überall wo sie waren für Unruhe sorgten. Sie waren Räuber und überfielen alle, die ihren Weg kreuzten. Vorsichtig schaute ich aus meinem Versteck hervor, doch ich konnte niemanden entdecken. Waren sie im Zelt? Konnte ich darauf hoffen, dass sie gerade nicht da waren? Aber warum brannte dann ein Lagerfeuer? Gedanken stürmten in meinen Kopf umher. Was sollte ich tun? Hätte ich eine Chance gegen drei brutale Männer? Was würden sie machen, wenn sie mich entdeckten?

Ich bückte mich und schlich von meinem Baum zum nächsten Busch, die rechte Hand an meinem Schwertgriff gelegt. Nur nicht zu laut sein, mahnte ich mich. Erschrocken fuhr ich zusammen und blickte mich panisch nach allen Seiten um, als ich hörte, wie das Holz knackte.

War ich das? Oder war es doch hinter mir? Automatisch hielt ich die Luft an und mein Herz raste. Im Schatten eines Baumes drängt ich mich an den Stamm und sah mich zögernd um. Wenn ich weiterging, würde ich den Schutz der Bäume verlieren. Ruhelos schweifte mein Blick über die Lichtung, nichts zu erkennen – doch da! Ich spürte eine Bewegung im Unterholz. Ganz in der Nähe. Bei allen stinkenden Waschbär-Pupsen, ich war nicht alleine! Meine Hand lag immer noch auf dem blauen Schwertgriff. Irgendwer war in der Nähe. Ich konnte seine Atemzüge beinahe hören. Hatten sie mich entdeckt?

Die Geräusche verstummten. Schlagartig war es ganz still im Wald. Zu still. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Gänsehaut überzog meinen Körper. Sie waren in der Nähe. Ich konnte sie spüren. Plötzlich fasste eine Hand nach mir, ich zog meinen Ellenbogen nach oben, sodass ich die Hand weghebelte und machte einen Sprung zurück. Während ich noch auf die Seite sprang, zog ich mein Schwert und schaffte so eine Distanz zwischen mir und dem Angreifer. Dieser wich überrascht zurück und brüllte: „Hier ist ein Mädchen, Dào!“ Rasche Schritte hallten durch den Wald.

Ich musste hier weg!

Mein Fluchtinstinkt ließ mich abdrehen. Noch ehe der Mann reagieren konnte, lief ich los. Ich sprang über Wurzeln, duckte mich unter Ästen und ignorierte den stechenden Schmerz in meiner Lunge. Ein Versteck! Es musste ein Versteck her. Ich konnte ihnen nicht ewig davonlaufen. Ich hörte ihre Rufe. Sie waren dicht hinter mir. Wie lange es wohl noch dauerte, bis sie mich erreichten?

Mit verzweifeltem Blick suchte ich meine Umgebung ab. Wie sollte ich mich verstecken, wenn sie mir so dicht folgten. Als ich gerade zurückblickte, um abzuschätzen, wie weit sie noch weg waren, passierte es. Ich übersah eine Wurzel, stolperte und fiel auf die Knie. Schnell rappelte ich mich wieder auf. Doch noch bevor ich los sprinten konnte, schnappte einer der Männer nach mir.

„Was macht denn so ein kleines Mädchen hier ganz alleine im finsteren Wald?“, höhnte eine Männerstimme und ich erkannte ihn als den Anführer Dào. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken. Dào lachte leise. Er musste ihn gespürt haben. Zeig jetzt nur keine Schwäche, ermahnte ich mich. In einem verzweifelten Versuch drehte ich mein Katana in meinen Händen und wirbelte es mit einem Schrei um mich herum. Das Schwert wurde mit einem Mal von einer gewaltigen Energie durchzogen. Der dunkle Schliff schimmerte plötzlich in den verschiedensten Blautönen. Mir blieb keine Zeit des Staunens, denn es fühlte sich an, als führte mich das Schwert, um mich zu verteidigen. Mit einem Aufschrei ließ Dào von mir ab. Hatte ich ihn getroffen? An seiner Schulter war das Hemd aufgeschlitzt und es begann sich rot zu färben. Eine kleine Blutspur fing an, über seinen Arm zu laufen und tropfte auf den Boden.

„Du verdammtes Biest“, schrie er keuchend auf und stürmte mit gezogenem Schwert auf mich zu.

Mein Schwert blockt seinen Angriff wie von selbst und als er ins Taumeln geriet, nutzte ich die Chance, drehte mich um und rannte wieder los. Das Adrenalin, dass durch meinen Körper geschossen war, ließ mich nur bedingt meine Schmerzen und Erschöpfung vergessen. Die Männer fielen ein gutes Stück zurück, gaben aber die Verfolgung nicht auf. Sie schrien mir immer noch hinter her: „Wenn wir dich bekommen, dann …“

Ich versuchte, sie so gut es ging zu ignorieren. Unter anderen Umständen hätten sie mich vielleicht ziehen lassen. Aber da ich den Anführer verletzt hatte, gab es kein zurück mehr für mich. Mein Vater hatte mir schon früh beigebracht, dass verletzter Männerstolz am gefährlichsten war. Mit der einen Hand immer noch meinen Schwertgriff fest umschlossen, rannte ich so schnell ich konnte. Einfach nur weiterlaufen! Nur nicht schlapp machen!

Wie aus heiterem Himmel erhob sich plötzlich ein starker Wind. Er trieb mich voran und ließ mich schneller vorwärtskommen. Ein weiterer Windstoß fegte um die Männer herum und ließen sie noch mehr zurückfallen, während er mich weiter antrieb. Mit angespanntem Blick suchte ich weiter nach einem Versteck. Über mir zog ein Schatten davon. War das ein Tier? Ein Vogel? Abrupt blieb ich stehen als ich begriff was es war. Ein Drache. Ein echter Drache! Fast geräuschlos landete etwas neben mir auf dem Boden. Vor lauter Schreck entfuhr mir ein Schrei und ich drehte mich zur Seite. Da stand ein Junge!

„Schnell!“, befahl er mir, fasste meine Hand und zog mich ins Gebüsch. Immer noch zittrig, merkte ich erst jetzt, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Zu tief saß die Anspannung. Erstaunt und glücklich über die unerwartete Hilfe und das Auftauchen des Jungen, fragte ich ihn, woher er kam. Der Junge legte seinen Finger auf seinen Mund und deutete mir leise zu sein. Er zwinkerte mir zu und flüsterte: „Vom Himmel, hast du ja gesehen!“

Während er beschäftigt war, die Gegend mit Blicken abzusuchen, hatte ich die Gelegenheit ihn genauer zu betrachten. Er war ungefähr in meinem Alter. Seine mittellangen, dunkelbraunen Haare bewegten sich leicht im Wind. Sein Körper wurde von der Sonne beschienen, was ihn nur noch muskulöser und athletischer wirken ließ. Er sah gut aus, stellte ich erstaunt fest. Hitze wallte in mir hoch! Warum war mir plötzlich so heiß? Was hatte ich gerade gedacht?

Um mich abzulenken, blickte ich zu seinem beeindruckenden Schwert. Es hatte eine doppelt so breite Klinge wie meines. Mit einer Hand hielt er das Schwert, die andere Hand lag schützend über mir. Alles an ihm war stimmig, die dunkelgrüne Leinenhose und das Ledergilet, so wie die braune Lederjacke über seinen Schultern. Perfekt getarnt für den Wald und für unsere Angreifer. Nur widerwillig musste ich meine Gedanken wieder zurück in die Gegenwart bringen, schließlich wurden wir verfolgt und das war wahrlich nicht der passende Ort, um einen völlig Fremden anzuhimmeln. Doch seine ruhige, selbstsichere Ausstrahlung verwirrte mich.

Schließlich war die Stille in den Wald zurückgekehrt. Die Räuber hatten wohl die Lust, mich zu jagen, verloren. Der Junge erhob sich langsam und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen.

„Na, hast du nun genug Zeit gehabt mich zu betrachten?“, fragte mich der Junge neckend, als hätte er meine Gedanken gelesen und ich spürte wie meine Wangen zu glühen begannen. Mit einem schiefen Grinsen blickte er mich an und als ich ihn das erste Mal richtig in die Augen schauen konnte, verlor ich all meine Anspannung und knickte ein. Gerade noch rechtzeitig fing er mich auf, doch ich konnte meinen Blick immer noch nicht von ihm abwenden. Seine Augen faszinierten mich. Ließen mich all die Erschöpfung vergessen. Dieses waldgrün, so tiefgründig, so sanft, so weit weg und doch so … vertraut. So verwirrend.

Diese Augen blickten mich jetzt besorgt an: „Bist du verletzt?“, fragte mich der Junge plötzlich ganz sanft und lehnte mich gegen den nächsten Baum.

„Du hast wunderschöne Augen“, dachte ich und merkte dann erst, dass ich es laut ausgesprochen hatte, als der Junge leise in sich hinein lachte. Verlegen schaute ich zu Boden und auch er wandte den Blick von mir ab. Die Spannung zwischen uns verflog, als der kleine Drache auf den Schultern des Jungen landete.

„Ist das dein Drache?“, fragte ich erstaunt. Der Drache, nicht viel größer als mein Blinky, war hellblau und schimmerte im Sonnenlicht leicht türkis, seine großen Augen betrachteten uns aufgeregt.

„Ja, das ist Tandora, meine Begleiterin“, stellte der Junge stolz seinen Drachen vor. „Sie war es auch, die diesen Wind hervorgerufen hatte.“

„Sie hat diesen gewaltigen Wind erschaffen? Aber wie ist das möglich?“, fragte ich erstaunt.

„Kurz gesagt – sie hat besondere Fähigkeiten.“ Der Junge lächelte liebevoll, seinen Drachen Tandora an und kraulte ihr Kinn. Ich musste lachen, als sie zu schnauben begann. Offensichtlich war Tandora auch ein klein wenig kitzlig.

Ich blickte ihn weiter verwundert an, doch er erwiderte nichts mehr darauf. Wie aus dem Schlaf erwacht, kletterte mein Waschbär auf meine Schultern und ich stellte meinen Begleiter dem Jungen vor.

„Niedlich, dieser Blinky“, sagte er und kraulte ihn kurz. „Warum wurdest du eigentlich von den Männern verfolgt?“, wechselte der Junge abrupt das Thema. Ich erzählte ihm, wie ich Dào und seiner Bande fast direkt in ihr Zelt hineingelaufen wäre.

„Da kamen wir ja gerade noch rechtzeitig, Tandora und ich“, stellte der Junge selbstbewusst fest.

„Übrigens. Vielen Dank dafür. Aber was machst du eigentlich hier in diesem Wald? Und woher kommst du eigentlich tatsächlich her? Und sag jetzt nicht, vom Himmel“, sagte ich lachend und gab ihm zu verstehen, dass ich ihn vorher sehr wohl gehört hatte.

Er zuckte mit den Schultern. „Schade, dass du es nicht geglaubt hast. Aber ich komme aus dem Dorf im Land des Windes, und du?“

„Ich komme aus dem Dorf des Wasserspiegels. Haben wir uns schon einmal gesehen?“ Warum nur, kam mir der Junge nur so bekannt vor. Diese Frage beschäftigte mich, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte.

„Nicht das ich wüsste, aber Leute kommen und gehen. So ist das nun mal“, meinte er leicht spöttisch.

„Müssten wir uns nicht bekämpfen? Ich meine, wegen dem Streit unserer Dörfer?“, fragte ich abermals, mit den Antworten war ich noch nicht zufrieden.

„Müssen nicht. Können ja, willst du denn gegen mich kämpfen?“, entgegnete der Junge und wieder hatte er dieses freche Grinsen im Gesicht.

„Verzichte“, winkte ich lachend ab. „Wie darf ich meinen edlen Retter denn nennen?“

„Dafür, dass du gerade verfolgt worden bist, stellst du aber ziemlich viele Fragen“, sagte er lachend, bevor er belustigt fortfuhr: „Held, Kämpfer, Weiser – wie du möchtest. Aber die meisten nennen mich Neys.“

„Neys, du?“, keuchte ich erschrocken auf und schlug mir die Hand vor den Mund. Das konnte nicht sein? Wie lange habe ich mir diesen Augenblick herbeigesehnt und nun … nun stand er hier vor mir. Mein Neys. Der Junge blickte mich verstört an. „Ich bin es, Fiona“, rief ich aufgeregt und zeigte auf mich.

„Fiona? Bist du es wirklich?“ Zögernd kam Neys ein paar Schritte auf mich zu. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte ihn tatsächlich gefunden.

„Alles in Ordnung bei dir, Fiona?“ Neys streckte seine Hand aus, um mir eine Träne von der Wange wegzuwischen, zögerte jedoch und steckte sie schließlich in die Hosentasche.

Nickend sagte ich: „Ich bin nur so glücklich, ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen.“

Als ob Neys meine Gedanken erraten hätte, sagte er: „Sieben Jahre ist es schon her. Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen, so außerhalb deines Dorfes.“

Schlagartig wurde ich wieder ernst. „Ich muss gehen“, murmelte ich und wurde bei dem Gedanken traurig. Wie gerne wäre ich noch geblieben. Wie gerne würde ich noch bei Neys bleiben und mich mit im unterhalten. Doch das ging nicht. Als Neys mich fragend ansah, erzählte ich ihm die Geschichte, von dem Feuer, das in unserem Dorf gewütet hatte. Wen mein Dorf beschuldigte und warum ich mich alleine auf den Weg gemacht hatte.

„Eigenartig“, murmelte Neys, „Bei uns im Dorf ist auch etwas passiert. Plötzlich hat sich die Erde bewegt, es war so heftig, dass einer der vier Bäume rund um unseren Hauptbaum umgestürzt ist. Von den anderen Schäden ganz abgesehen.“

Erinnerungen überfluteten mich: die großen Bäume, die sicherlich schon seit Jahrhunderten dort standen und über viele Generationen hinweg Familien ein Zuhause boten. Diese Baumhäuser schienen so stabil und robust. Ich hätte nie gedacht das ein solcher Baum jemals entwurzelt werden könnte.

„Mein Dorf meint, dass das Dorf im Tal der Weisen Schuld daran hätte. Ein Zettel mit deren Symbol haben wir bei einem der umgestürzte Baum gefunden. Was natürlich jeden Verdacht bestärkte, aber ich glaubte einfach nicht daran. Wir haben ihnen nie etwas getan.“ Die Symmetrie ließ mich innehalten. Die grauenhaften Geschehnisse glichen die meines Dorfes. Konnte das Zufall sein?

„Sollen wir uns nicht zusammentun, wenn wir schon das gleiche Ziel haben?“, murmelte ich leise und hoffte das Neys ja sagen würde.

Er reichte mir die Hand: „Aber nur weil du es bist.“ Neys grinste mich verschmitzt an.

Vorfreude auf ein ungewisses Abenteuer und Erleichterung durchströmte mich, als Neys mich begleiteten wollte. So passierte es, dass ich meine Reise nicht mehr allein fortsetzen musste, sondern zusammen mit Neys. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass ich nicht mehr nur auf mich gestellt war. Doch mir wurde auch immer bewusster, dass es mehr war, als Freiheit und Abenteuer. Ein gefährlicher und anstrengender Weg lag vor uns.

Doch ich war bereit.

Wir waren bereit.

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