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Jagdschloss zum Grünen Wald, 23. Mai 1611
ОглавлениеAnna von Brandenburg tastete mit der linken Hand an den ausgefransten Spitzen ihres dünnen Haarzopfes herum, während sie mit der Rechten die Leinenhaube auf ihrem Kopf zurechtschob und mit einem Finger eine verknotete Strähne unter den Stoff stopfte. Dann pulte sie sich verstohlen den gröbsten Schlaf aus den Augenwinkeln, wendete sich ihrem Gesprächspartner zu, und versuchte, Adam von Putlitz zu ignorieren, der sich ungeschickt hinter einen Treppenpfeiler drückte.
Auf seine unterwürfige und unsichtbare Art hatte er es bewerkstelligt, in den engsten Kreis des Kurfürsten vorzudringen, sich vom Kammerrat zum Hofmarschall und schließlich zum Statthalter der Mark Brandenburg hochzudienen, sich unentbehrlich zu machen, wie ein Schatten herumzuschleichen, und immer dort zur Stelle zu sein, wo er schädlich für andere und nützlich für die eigene Sache sein konnte. Zum Beispiel, indem er für einen nie versiegenden Strom an Branntwein für den Tisch des Kurfürsten sorgte, den er, wenn es sein musste, aus eigener Tasche finanzierte. Für diese ausschließlich eigennützige ‚Hilfe‘, die er unaufgefordert und diskret leistete, war ihm Johanns beschämte Dankbarkeit sicher.
So war von Putlitz auch in Annas Leben getreten, war Teil ihrer Gegenwart geworden und würde, so stand zu befürchten, Teil ihrer nahen Zukunft sein. Irgendwann, dachte sie grimmig, sollten sich ihre Wege und die Wege dieser Person nicht mehr kreuzen müssen. Jeden Tag schloss sie diese Bitte in den unterschiedlichsten Variationen in ihr Abendgebet ein. Und nie wieder, das schwor sie sich, würde sie um halb fünf Uhr morgens, nur mit einem Nachthemd und einem übergeworfenen Schlafrock bekleidet, auf der Treppe vor ihrem Schlafzimmer sitzen, neben sich einen Mann, der nicht ihr eigener war. Vollständig bekleidet war Cousin Wolfgang immerhin.
Es war erst einige Augenblicke her, dass Johann mit dem Versprechen, in Kürze zurückzukehren, die Treppe heruntergeeilt war und Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm aufgekratzt über die Schulter zugerufen hatte, dass er ihm heute vielleicht, dann aber auch nur gnadenhalber, den zweitkapitalsten Hirsch überlassen werde.
Eine halbe Stunde zuvor war der Kurfürst aufgestanden, und hatte sich, noch schläfrig schwankend, im Schein einer zu einem Stummel herabgebrannten Kerze den Weg ins Ankleidezimmer gebahnt, indem er Stühle umgestoßen und sie dann geräuschvoll und fluchend wieder aufgestellt hatte. Hindernisse hatten ihm auszuweichen, nicht andersherum.
Anna hatte das Scharren an der Tür noch vor ihm gehört, ein gespenstisches Geräusch, eines, das sich langsam in das Gemüt eines Schlafenden vorarbeitet, und dann, wenn es sein Ziel erreicht hat, den hinterlistig Aufgeschreckten mit heftig klopfendem Herzen unsanft in die Wirklichkeit befördert.
Johann war zur Tür gestolpert und hatte sie einen Spalt geöffnet. In diesem hatte sich das Gesicht des Statthalters gezeigt, der nach einer unterwürfig beteuerten Entschuldigung flüsternd, aber gut hörbar, vorgebracht hatte, dass der Vetter Ihrer Gnaden, Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, gestern unangemeldet in der Residenz Station gemacht habe, und heute Morgen bei Dunkelheit von dort aufgebrochen sei, um die vor Langem ausgesprochene Einladung des Kurfürsten zur Jagd einzulösen. Die Gelegenheit, hatte Putlitz gewispert, das besprochene Vorgehen bereits heute in die Wege zu leiten, um keine weitere Zeit zu verlieren, wäre außerordentlich günstig.
Hier hatte Anna, die sich schlafend gestellt hatte, zum ersten Mal aufgehorcht. Ein Auge zu einem Schlitz öffnend, hatte sie ihren Mann mit zusammengepressten Lippen eine nachdenkliche Miene aufsetzen sehen. Dann hatte er, zuerst kaum sichtbar, dann heftiger, mehrmals genickt, als ob er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hätte, und die Hand in einer abwartenden Geste hochgehalten, bevor die Tür vor Putlitz‘ Gesicht mit einem metallischen Schnappen wieder ins Schloss gefallen war. Auf Strümpfen war er zum Bett getappt und hatte seine Frau an der Schulter gerüttelt.
Anna? Ob Anna ihn hören könne? Anna? Anna! Sie müsse aufwachen, jetzt, es sei dringend, sie müsse etwas für ihn tun. Vetter Wolfgang sei da, hatte er übergangslos gesagt, mit dem ausgestreckten Daumen hinter sich zur Tür weisend, und dabei zerstreut zum geöffneten Fenster hinausgesehen, wo der Tag anbrach.
Als sie sich aufgesetzt hatte, hatte er begonnen, umherzulaufen und zerstreut von der verwandtschaftlichen Freundschaft und der freundschaftlichen Verwandtschaft zwischen Brandenburg und Neuburg zu sprechen, den Blick immer wieder besorgt in den dunkelgrauen Himmel gerichtet, wo sich die schwarzen Kronen des angrenzenden Waldes zunehmend deutlicher abzuzeichnen begannen. Die anfänglich zaghaft einsetzenden Vogelstimmen hatten sich inzwischen zu einem konkurrierenden Chor vereinigt. Vom nahen See war feuchter, mooriger Dunst aufgestiegen, durch das weit geöffnete Fenster geströmt und hatte sich mit der stehenden Wärme und der verbrauchten Luft des nächtlichen Schlafs vermengt.
„Du musst Wolfgangs Sorgen wegen Sachsen zerstreuen“, hatte Johann gedrängt und nach einem fehlenden Knopf an seiner Jacke getastet, die von seinem gewaltigen Bauch gebläht wurde. „Vor allem, weil der Kaiser Christians ungerechtfertigten Ansprüchen nicht stattgeben kann und es auch nicht tun wird!“
Er hatte nach der Kerze gegriffen und war, achtlos heißes Wachs auf Holzboden und Laken tropfend, an das Bett getreten, um ihr Gesicht besser sehen zu können.
„Du musst Wolfgang davon überzeugen, dass seine Heirat mit Katharina…“, hier hatte er, unsicher hinsichtlich des Alters und der körperlichen Reife seiner Töchter, denn Katharina war erst neun Jahre alt, stirnrunzelnd innegehalten, „…ach was, eine Heirat mit Anna Sophia natürlich, all diese vermaledeiten Unsicherheiten mit den westlichen Landen auf einen Schlag beenden könnte!“ Jawohl, hatte er die rechte Faust geballt, und sie gegen die linke Handfläche geschlagen, Brandenburg und Neuburg Seite an Seite gegen die Sachsen, das würde ihm gefallen! Aber er selbst, war er wie beiläufig fortgefahren, sei für solche delikaten Verhandlungen nicht der Richtige, und hatte dabei verneinend mit dem Zeigefinger gewedelt. Wolfgang sei ja schließlich ihr Vetter, nicht wahr, und er stehe schon vor der Tür. Man könne die Sache sofort aushandeln und fest machen!
„Aber mein Lieber.“ Anna hatte, geblendet vom Schein der Flamme, die Johann ihr vors Gesicht hielt, die Augen zusammengekniffen. „Doch nicht jetzt und“, an dieser Stelle hatte sie mit der Hand den Ausschnitt ihres Nachthemds zusammengerafft, „nicht so!“
Widerstrebend hatte sie ihre Beine aus dem Bett geschwungen und mit den Füßen nach ihren Pantoffeln gesucht. Überhaupt, hatte sie stirnrunzelnd eingewendet, habe er selbst ihre Idee mit dieser Heirat vor nicht allzu langer Zeit als unmögliches Hirngespinst verworfen. Sie verstehe das alles nicht. Er könne sie doch unmöglich vorschicken wollen, damit sie eine ihrer Töchter wie eine Kupplerin zwischen Tür und Angel anbiete, ja förmlich aufdränge!
In Gedanken schon im kühlen Wald, hatte Johann mit aufgeblähten Backen die Luft ausgepustet und sehnsüchtig zur Tür gesehen.
„Dass Ihr mir immer mit solchen Spitzfindigkeiten kommen müsst, ist wirklich verdrießlich“, hatte er mit beleidigtem Gesichtsausdruck geklagt und verärgert von der vertraulichen zur höfisch-distanzierten Anrede gewechselt.
Unten im Hof hatte ein Pferd gewiehert, ein anderes aus den Stallungen geantwortet und dröhnend gegen die hölzerne Wand seines Verschlags getreten.
„Das bereitet mir schlechte Laune, immer müsst Ihr alles so kompliziert machen“, hatte Johann seine Rüge fortgesetzt. Um dann in einem fordernden Ton fortzufahren, dass sie ihm diese Bitte nicht abschlagen könne. Oder müsse er sie wirklich an die Pflichten erinnern, die ihre Stellung mit sich brachte?
Anna hatte sich auf die Lippen gebissen, war sich mit der Hand über die Stirn gefahren und hatte gepresst, aber unhörbar ausgeatmet.
„Gut, wenn Ihr es unbedingt so wünscht“, hatte sie beherrscht erwidert, „dann werde ich mich nicht verweigern. Ich muss aber darauf bestehen“, hatte sie ihren sich bereits abwendenden Mann mit fester Stimme aufgehalten, „dass dieses Heiratsangebot als Euer Angebot gelten wird.“ Eingedenk der Tatsache, dass sie hier nicht auf dem orientalischen Basar seien, könne und wolle sie nur die Unterhändlerin geben.
Sie solle machen und tun, was sie wolle, hatte der Kurfürst geschnauzt und war kopfschüttelnd zur Tür gegangen, aber sie solle es jetzt tun, ja?
Wolfgang Wilhelm war mit zweiunddreißig Jahren eine straffe, elegante, und, selbst zu dieser frühen Stunde, hellwache Erscheinung. Unter einer hohen Stirn leuchteten kleine, lebhafte Augen in einem Kranz von Lachfältchen. Sein Mund, eingerahmt von einem gepflegten Bart, war fast immer zu einem hintergründigen Schmunzeln verzogen. Das Leben hatte es gut mit ihm gemeint. Sein Wissensdurst war ebenso unstillbar wie die finanziellen Mittel, über die er verfügen konnte, umfangreich waren, und so hatte er schon fast ganz Europa bereist. Eine Heirat hatte er bisher erfolgreich umschifft. Er tat, was immer er mochte, war selten, und wenn, dann meist nie lange, jemandes Parteigänger.
Anna hielt ihren Cousin für ein menschliches Vexierbild, charmant, mit vollendeten Manieren, doch stets ungreifbar und kaum zu durchschauen. Sie musste daran denken, wie fasziniert sie als Kind von Gemmen und Kameen, von zu feinsten Porträts und mythologischen Szenen geschliffenen Steinen gewesen war. Die einen vertieft, die anderen erhaben, doch welche war welche? Erst der richtige Lichteinfall brachte es an den Tag. Auf die Entzündung einer solchen Lichtquelle hatte sie bei Wolfgang Wilhelm bislang vergebens gewartet.
Aufmunternd lächelte der Pfalzgraf Anna entgegen, als sie im Nachthemd hinter dem Kurfürsten aus ihrem Schlafzimmer kam, und verbeugte sich so formvollendet, als wäre er beim Eintritt in eine große Festgesellschaft angekündigt worden. Johann, einen Stiefel bereits tragend, zog sich den zweiten ungelenk hüpfend über den anderen Fuß, während er seiner Frau und seinem Gast erklärte, dass er nur kurz nach draußen husche, um zu sehen, ob alles bereit sei, und in wenigen Minuten zurückkehren werde, um Vetter Wolfgang abzuholen.
Er stampfte kurz auf, um den Sitz des Stiefels zu prüfen, griff nach seinen Handschuhen und deutete auf die Treppenstufen. Hier, lachte er, sei doch ein gemütliches Plätzchen für einen kurzen Plausch, rauschte die Treppe hinunter und ließ seine Frau entgeistert zurück.
„Ausgezeichnet“, meinte Wolfgang Wilhelm mit hochgezogenen Augenbrauen, setzte sich auf den oberen Treppenabsatz, wand sich aus seiner engen Lederjacke und breitete diese für Anna als Sitzgelegenheit aus. „Den Regeln des Anstands ist mit der Anwesenheit des Herrn Statthalters“, er wies vielsagend auf den Schatten hinter der Mauer, „ja genüge getan, oder?“
Froh darüber, dass das diffuse Licht des anbrechenden Tages ihrem Gesicht einen unklaren Ausdruck erlaubte, nahm Anna vorsichtig Platz. In einiger Entfernung saß auf dem Boden, bewegungslos und erratisch wie eine Skulptur, eine riesenhafte Dogge, die ihren unergründlichen Blick unverwandt auf ihren Herrn richtete. Verlegen bündelte Anna die weiten Falten von Nachthemd und Morgenmantel eng um ihre Beine und stopfte das Stoffknäuel unter ihre Knie.
Verunsichert und atemlos, wie es unter normalen Umständen niemals ihre Art gewesen wäre, überfiel Anna ihren Cousin mit Fragen, die ungeordnet aus ihr heraussprudelten. Wie schön es sei, ihn zu sehen, man habe das ja lange nicht, was bedauerlich sei, wohin ihn seine letzte Reise geführt habe und ob es mittlerweile überhaupt ein zivilisiertes Land gebe, das er noch nicht in alle Himmelsrichtungen bereist habe, diese prachtvoll gewachsene Dogge sei nicht aus seiner eigenen Zucht, oder etwa doch…?
„Ach, liebe Anna“, unterbrach sie Wolfgang mit einem sanften Lächeln, „wenn Dein Gemahl zurück ist, wird er ungeduldig zum Aufbruch drängen und jede Unterhaltung unmöglich machen. Wollen wir also nicht gleich zum eigentlichen Thema dieser doch eher ungewöhnlichen Unterredung kommen?“
Anna fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und musste schlucken. Es blieb keine Zeit, vernünftig abzuwägen. „Meine Töchter“, suchte sie mühsam nach Worten, „sind dreizehn, zwölf und neun Jahre alt“. Sie zwang sich, ihren Vetter anzusehen. „Eigentlich sind sie alle noch Kinder, also viel zu jung, selbst Anna Sophia, die Älteste. Sie ist als einzige aber reif genug für eine Verlobung, zur Not auch mit einem viel älteren Mann.“ Zu spät erkannte sie, wie diese Bemerkung sich anhören musste. Wolfgang hätte der Vater des Mädchens sein können.
„In der Tat“, kommentierte der nur, wirkte aber weniger beleidigt als belustigt.
Seine betont gelassene Haltung machte Anna ärgerlich. „Ich halte Euch weder für so begriffsstutzig noch für so boshaft, mir gegenüber den Ahnungslosen zu mimen“, ermahnte sie ihn in sprödem Ton, „und ich werde im Gegenzug nicht versuchen, Euch weißzumachen, dass der Kurfürst eigentlich keine Heirat wünscht, sondern dass ich die treibende Kraft bin und in diesem Moment nur hier sitze, um meinen Gemahl nach unserer Unterredung von den Vorteilen einer solchen Verbindung zu überzeugen.“
Wolfgang Wilhelm, der sie erwartungsvoll beobachtet hatte, wurde ernst und begnügte sich mit einem auffordernden Nicken.
Sie wolle ihm aber auch nichts vormachen, fuhr Anna milder fort. Ihr eigener Einfluss, und das, er kenne sie ja, räume sie nur widerwillig ein, sei so gering, dass man auch bei ihrer beider Einigung fürchten müsse, dass der Kurfürst doch noch den sächsischen Forderungen und Drohungen nachgeben werde. Es sei ihr nicht möglich, irgendwelche Garantien in dieser Hinsicht abzugeben. Falls er jedoch in eine Verbindung ihrer beider Häuser einwillige, solle er das nicht bereuen müssen. Dann könnten Jülich, Kleve und Berg weiterhin die untrennbare Einheit bilden, die ihre beiden Vorväter geschaffen hatten.
Wolfgang Wilhelm bedankte sich artig und, wie zu erwarten, kaum überrascht für die Ehre, die man ihm mit dieser Ehe erweisen würde, machte aber auch seine Bedenken deutlich. „Seid Ihr nicht recht voreilig mit der Verteilung von Besitztum, das Euch noch, ich betone, noch nicht wirklich sicher ist?“
Anna sah ihn nur streng an, worauf er lächelnd seinen Blick senkte. „Tja, wenn denn einen schönen Tages alles glücklich geregelt sein wird“, meinte er, „liebend gerne, das versichere ich Euch“. Um gleich darauf, bescheiden im Ton, aber mit großer Bestimmtheit, für diesen Fall auch das Gouvernement über diejenigen rheinischen Besitzungen zu fordern, die bei den Brandenburgern verbleiben würden. Denn er selbst, so sein Argument, würde im Fall einer Heirat in Düsseldorf Residenz nehmen. Alle Zügel in einer Hand und vor Ort wären stets die besten Voraussetzungen für ein funktionierendes Regiment.
„Ihr macht keine Umwege, um Eure Vorstellungen erfüllt zu sehen“, sagte die Kurfürstin anerkennend, gerade als Johann Sigismund, der die letzten Worte gehört haben musste, die Treppen heraufschnaufte. Was immer sie besprochen hätten, ihm sei alles recht, rief er, ohne sich nach Einzelheiten zu erkundigen, als sich auf der anderen Seite des Treppenabsatzes eine Tür öffnete und ein verschlafenes Mädchen mit zerzaustem Haar durch den entstandenen Spalt lugte.
Das Ännchen solle nur herüberkommen, rief der Kurfürst begeistert, und sprach, zu Wolfgang Wilhelm gewandt, dass dieser doch gleich hier mit dem Kind reden könne, oder? Die barfüßige Anna Sophia tappte zögernd näher, sah zuerst verstört in die Runde und dann hilfesuchend ihre Mutter an.
Anna, bleich geworden, sprang auf, hüllte ihre Tochter in ihren eigenen Morgenmantel und schob sie zurück in ihr Zimmer. Es sei noch viel zu früh, versuchte sie die Situation mit gepresster Stimme zu retten, und, ohne den Kurfürsten anzusehen, der Papa werde jetzt erst einmal mit Vetter Wolfgang auf die Jagd gehen und einen ordentlichen Braten schießen, nicht wahr?
Weiber, brummte der Kurfürst, nicht leise genug, bevor er Wolfgang Wilhelm mit den Worten antrieb, dass es jetzt aber höchste Zeit sei.
Der Pfalzgraf, der das seltsame Schauspiel interessiert verfolgt hatte, erbat sich noch einen Moment, den ihm der Kurfürst achselzuckend zugestand, bevor er sich umwandte, um sich auf den Weg zu seinen Jagdhelfern zu machen. Die Meute sei nicht mehr zu halten, gab er zu bedenken, aber er könne einen Knecht zurücklassen, der seinen Vetter zur Sammelstelle bringen werde.
Wolfgang Wilhelm willigte ein und wartete, bis Johanns Schritte im Treppenhaus verhallten und unten die Tür ins Schloss fiel. Dann fing er unvermittelt an, von dem handwerklich ganz ausgezeichneten Sandsteinrelief zu sprechen, das über dem Eingangsportal angebracht und das ihm sogar im Schein der Fackeln sofort aufgefallen war. Zwei Hirsche, die Geweihe im Kampf ineinander verkeilt, geduldig auf den Moment der Schwäche beim anderen wartend.
„Mächtige Geschöpfe, diese beiden“, schwärmte er versonnen, „kontrollierte Stärke, und dabei eine stoische Kraft. Es sieht aus wie ein ausgeglichenes Kräftemessen, wie ein ‚Patt‘ für die Ewigkeit“. Und, nach einer bedeutungsvollen Pause, „Man möchte nicht zwischen die Fronten geraten, oder?“ Er kniff die Augen zusammen und blinzelte Anna an.
Diese starrte verblüfft zurück und stieß ein schnaubendes Geräusch aus. „Was? Solltet Ihr etwa meinen Gemahl und mich damit meinen? Wie überaus charmant! Dabei seid Ihr sonst ein so routinierter Kavalier, Wolfgang, immer schon gewesen“, gab Anna spöttisch zurück. „Doch Ihr kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ein so… extravagantes Kompliment bei mir mehr verfängt als es glatte Schmeicheleien je könnten.“
Als ihr Cousin zu einer Erwiderung ansetzte, schnitt sie ihm kurzerhand das Wort ab. „Wenn wir schon bei Ratespielen sind, dann ist es eine ganz andere Frage, die mich beschäftigt: Warum nur wollen die Gerüchte im Reich nicht verstummen, dass der Katholizismus und seine Irrlehre für ein ganz spezielles Mitglied des Hauses Pfalz-Neuburg, aus welchen Gründen auch immer, eine unwiderstehliche Anziehungskraft besitzt und sogar das eigentlich Undenkbare, eine Konversion nämlich, für möglich gehalten wird?“
Wolfgang Wilhelm deutete eine Verbeugung an. „Ich habe große Hochachtung vor Eurem wachen Geist, Anna, und bewundere Eure schnelle Auffassungsgabe“, er lächelte dünn, „aber in diesem Fall seid Ihr wohl einer Fehlinformation aufgesessen. Es wird so viel geklatscht an den Höfen, so viel üble Nachrede verbreitet, was sehr bedauerlich ist“, seufzte er betrübt, „meine Treue dem rechten Glauben gegenüber sollte niemals in Zweifel gezogen werden.“
„Noch eine Frage, wenn Ihr erlaubt“, machte Anna furchtlos weiter und sah ihn forschend an: „Warum beschleicht mich trotz allem das Gefühl, dass unter den hier Anwesenden weder eine zukünftige Schwiegermutter noch ein zukünftiger Schwiegersohn zu finden sein werden?“
Wolfgang Wilhelm machte eine vage Handbewegung und sah versonnen zur Decke des Treppenhauses, zu den Malereien, wo das letzte Aufbäumen einer tödlich getroffenen Wildsau von eingedrungenem Wasser zu einem geisterhaften Schemen ausgewaschen worden war. „Je weiter Dinge zurückliegen, desto mehr verblassen sie bis zur Unkenntlichkeit. So geht es auch mit den Ereignissen, die noch kommen, nur anders herum. Ich sehe nur nicht, dass bereits etwas Gestalt annimmt. Und wer kann in die Zukunft blicken und sehen, welchem Wandel schon morgen diejenigen Bündnisse unterliegen, die wir heute schmieden, guten Gewissens und mit den besten Absichten, versteht sich.“
Anna verstand sofort. „Ich danke Euch.“ Sie fühlte Erleichterung und Enttäuschung zugleich. „Aber denkt nicht“, versetzte sie ihm hart, „dass ich Euch Kleve oder irgendeinen anderen Teil dessen, was mir von Rechts wegen zusteht, kampflos überlassen werde.“ Ihre Stimme nahm einen weicheren Klang an, als sie versöhnlicher fortfuhr. „Als Eure Cousine jedoch möchte ich dringend darum bitten, eines Tages zu Eurer Hochzeit eingeladen zu werden, lieber Vetter. Selbst, wenn ich dann unter Umständen so unhöflich sein müsste, bei einer katholischen Zeremonie den Leib Christi in Form des Abendmahls zu verweigern.“
Sie verstanden einander, schwiegen versonnen, und ließen die Worte noch einen kurzen Moment in der Luft verklingen.
Putlitz räusperte sich in seinem Versteck, die Dogge streckte sich ächzend, indem sie die Vorderläufe nah an den Boden presste und ihr Hinterteil steil nach oben reckte.
Wolfgang Wilhelm verabschiedete sich ohne Umstände. Es war alles gesagt. Unten angekommen, dauerte es nicht lange, bis er aufgesessen und der Trab seines Pferdes in einen leichten Galopp übergegangen war. Bald war auch dieses Geräusch vom Grün des Walds verschluckt worden.
Anna trat an das offene Fenster, das den Blick auf den nahen See freigab, wo im selben Moment ein Schwarm Stockenten eilig in einer auf dem Wasser liegenden Nebelbank verschwand. Am Ufer direkt gegenüber des Schlosses stand ein Reh, die zerbrechlich wirkenden Läufe unbeholfen zur Seite gespreizt, um das Wasser erreichen zu können. Anna hielt den Atem an. Das Reh senkte sein Maul und saugte. Stillte seinen Durst, als ob es die spiegelglatte Oberfläche behutsam küssen würde. Nicht weit entfernt fielen dumpfe Schüsse. Das Wild hob anmutig seinen Kopf und spielte mit den Ohren. Tropfen fielen ins Wasser zurück und wurden zu konzentrischen Kreisen.
Doch erst als ein nur aus Kopf und Hals bestehender, scheinbar körperloser Schwan, wie ein Bühnenrequisit von einem unsichtbaren Seil gezogen, durch den Nebel auf das Tier zusteuerte, verschwand es mit wenigen federleichten Sprüngen im angrenzenden Unterholz.