Читать книгу Der Philipperbrief des Paulus - Eve-Marie Becker - Страница 44

3. AutobiographieAutobiographie, autobiographisch und Biographie – historische, literarische und anthropologische Aspekte 3.1. Der historische Wert der AutobiographieAutobiographie, autobiographisch

Оглавление

Unter historischer Fragestellung liegt die Bedeutung autobiographischer Texte in ihrem Aussagegehalt für die Biographie einer historischen PersonPerson, persona.

Hierbei lassen sich mindestens vier methodische Annäherungen vornehmen:

(1.) Die gegenwärtigen Geschichtswissenschaften fassen unter Autobiographien im weiteren Sinne auch ‚Selbstzeugnisse‘, ‚Memoiren‘ oder sog. ‚Ego-Dokumente‘.Autobiographie, autobiographisch1 Auch wenn das geschichtswissenschaftliche Interesse an autobiographischen Texten auf eine verstärkte „Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft“ zurückgeführt werden kannAutobiographie, autobiographisch2, steht bei der Beschreibung und Auswertung von Autobiographien z.B. als Ego-Dokumenten der dokumentarische Wert autobiographischer Texte als geschichtlicher Quellen mit subjektiver Färbung im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses.3 Die historische Auswertung von Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten spiegelt vice versa das geschichtswissenschaftliche Interesse an individuell gestalteten literarischen Quellen wider und führt zu einer Ausweitung dessen, was als autobiographischAutobiographie, autobiographisch im weiteren Sinne bezeichnet werden kann. Dieser Umstand konvergiert mit einer für unsere Fragestellung geeigneten Definition autobiographischer Literatur durch Arnaldo Momigliano: „any statement about oneself, whether in poetry or in prose, can be regarded as autobiographical“4.

(2.) AutobiographieAutobiographie, autobiographisch und autobiographische Texte sind ein konstitutiver Gegenstand der historischen Anthropologie. Denn die „anthropologisch orientierte Geschichtsschreibung“ thematisiert „nicht nur objektive Lebenszusammenhänge wie die materiellen Sachgüter, die familiare Struktur …“, sondern richtet sich ebenso „auf die soziale Praxis, auf die Wahrnehmungsweise, GefühlsGefühl(e)welt und Subjektivität der Menschen“5. Historische Anthropologie basiert also auf der Erschließung von Subjektivität und Personalität. Autobiographische Texte leisten einen Beitrag zu dieser Fragestellung und tragen zur Deutung historischer Prozesse bei.6 Dies gilt insbesondere für den an ‚Mentalitäten‘ orientierten Bereich der Geschichtswissenschaften.7

(3.) Die Altertumswissenschaften differenzieren antike Formen der ‚AutobiographieAutobiographie, autobiographisch‘ gattungs- und formspezifisch. Die dabei entstehenden unterschiedlichen Klassifizierungen8 autobiographischer Formen rühren vom bereits zu Anfang benannten Definitionsproblem her: Autobiographien im modernen Sinne als umfassende Selbstreflexion und Selbstdarstellung bzw. „introspektive Selbsterfahrung“ in literarischer Form existieren in der Antike – zumindest vor Augustinus – nichtAutobiographie, autobiographisch9, ebensowenig wie eine eigene Gattung ‚Autobiographie‘. Es finden sich aber autobiographisch gefärbte Texte, die – wie Herwig Görgemanns für die griechische Literatur vorschlägt – zunächst in verschiedenen literarischen Ursprungsbereichen (Rhetorik, Briefe, Memoiren, Autorenvorstellungen und sittliche Selbsterforschung) beheimatet sind, hieraus entstehenAutobiographie, autobiographisch10 und gleichsam das Phänomen der Autobiographik in der antiken Literatur und Kultur konstituieren.Autobiographie, autobiographisch09Gal0109Gal01,1109Gal01,11ff.11

Festzuhalten ist, daß autobiographische Aussagen und Texte zunächst in verschiedenen Bereichen der Literatur (z.B. Briefe, Rhetorik) begegnen und daß sie in gattungsspezifischer Hinsicht tendenziell mit biographischer Literatur verwandt sindDihle, Albrecht12. Autobiographische Texte lassen sich historisch auswerten. Dies gilt insbesondere für die Hypomnemata-FGrHist23113, Memoiren- und Commentarii-Literatur, die seit dem Hellenismus, besonders aber in der Tradition der Aufzeichnungen Caesars in der frühen Kaiserzeit einen deutlichen Aufschwung erlebt und dem Feld der autobiographischen Literatur, hier im weiteren Umfeld der historiographischen LiteraturFGrHist8114, zugerechnet werden kann. Ein prominentes Beispiel sind die Selbstdarstellungen des AugustusAugustus, die sich allerdings trotz ihrer erheblichen BedeutungAugustus15 nicht in der literarischen Form der Selbstbiographie (de vita sua [Sueton, Aug 85,1SuetonAug85,1]; griech.: ὑπομνήματα [z.B. Plutarch, Brut 27PlutarchBrut27 und 41PlutarchBrut41] – diese Schrift des Augustus dürfte den Titel: Imperatoris Caesaris Augusti de vita sua libri XIII gehabt habenAugustus16), sondern als res gestaeAugustusRes gestae durch das Monumentum AncyranumNikolaos von DamaskusAugustusRes gestaeAugustus17 erhalten haben. An die Tradition kaiserlicher Selbstdarstellung schließen sich die iulisch-claudischen Memoiren18 und in programmatischer Weise auch die Memoiren VespasiansHRR2,108JosephusJosephusVita342JosephusVita358Autobiographie, autobiographisch19, die den Aufstieg der Flavier dokumentieren, an.

(4.) Die jüngste sog. ‚gender-orientierte‘ bzw. ‚gender-sensible‘20 AutobiographieAutobiographie, autobiographisch-Forschung beleuchtet einen zentralen Aspekt, der auch für die Analyse autobiographischer Passagen bei Paulus von großer Bedeutung sein könnte. Die gender-orientierte Autobiographietheorie nämlich „muß … vor allem fragen, inwieweit Geschlechtervorstellungen (mit)bestimmen, welche Kommunikationsbeziehungen eingegangen werden können, welche textuellen und paratextuellen Signale für deren Steuerung somit erfolgreich verwendbar sind, welche Chancen ein Text hat, in den Gattungskanon aufgenommen zu werden, und welcher Gattung Lesende einen bestimmten Text überhaupt zuordnen … Geschlecht ist nach heutigem Verständnis ein soziokulturelles Konstrukt“21. Analog zu diesem gender-orientierten Ansatz der jüngsten Autobiographie-Forschung müßten die autobiographischen Passagen bei Paulus konsequent religions-orientiert erfaßt und ausgewertet werden: Das Paradigma der Gender-Forschung lenkt das Augenmerk der Autobiographie-Forschung darauf, daß die von Männern und Frauen verfaßten autobiographischen Texte zwar nicht dichotomisch einander gegenübergestellt22, wohl aber geschichts- und literaturtheoretisch differenziert werden müssen. Analog dazu müßte das von der Paulus-Forschung vielfach betrachtete Paradigma der ‚Religion‘ des PaulusWischmeyer, Oda23 die Wahrnehmung und Interpretation der autobiographischen Aussagen in den paulinischen Briefen schärfer in den Blick nehmen.24

Die vier genannten geschichtswissenschaftlich orientierten Ansätze zeigen, in welcher Weise das Phänomen der ‚AutobiographieAutobiographie, autobiographisch‘ historisch und insofern auch für die Frage nach der historischen Biographie und PersonPerson, persona des Paulus relevant ist:

 autobiographische Texte dokumentieren Zeit- und Ereignisgeschichte,

 autobiographische Texte stellen eine wichtige Quelle für historische Anthropologie dar,

 verschiedene autobiographische Einzeltexte und -formen können, wenn auch nur in unspezifischer Weise, einer Makro-Gattung ‚autobiographischer Literatur‘ zugerechnet werden; sie lassen sich auf ihren historischen Aussagegehalt hin untersuchen,

 autobiographische Texte weisen, wenn sie sozial- und religionsgeschichtlich differenziert betrachtet werden, spezifische Kommunikationsstrukturen auf, die Einblick in die Individualität der historischen PersonPerson, persona geben und zugleich gattungstheoretisch bedeutsam sind.

Der Philipperbrief des Paulus

Подняться наверх