Читать книгу Der Philipperbrief des Paulus - Eve-Marie Becker - Страница 49

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5.2. Individuierung und Identitätsbildung

Colin MorrisMorris, Colin beschreibt in einer Untersuchung zur Entdeckung der Individualität im europäischen Hochmittelalter einleitend die Wurzeln der Individualität wie folgt:

„The hard core of this individualism lies in the psychological experience with which we began: the sense of a clear distinction between my being, and that of other people“Morris, Colin1.

Individualität wird durch Abgrenzung entdeckt. Autobiographische Formen sind, wie MorrisMorris, Colin selbst konzediert – wenn auch freilich frühestens erst mit den ConfessionesAugustinusConf des AugustusAugustus beginnend – ein entscheidendes Vehikel der SelbstSelbst, self, selfhood-Reflexion und -Artikulation.Morris, Colin2

Für Paulus sind hier seine ständige Reflexion über Israel und das Judentum einerseits und seine heftige Auseinandersetzung mit seinen Gemeinden und seinen ‚Gegnern‘ andererseits heranzuziehen. Seine Personalität und Identität als Apostel formt sich in diesem von ihm als freundlich-feindlich erlebten Koordinatensystem.

Die Wechselwirkungen von AutobiographieAutobiographie, autobiographisch und Individuierung lassen sich also auch bei Paulus deutlich beobachten: Weder die religiösen oder sozialen Faktoren seiner Individuierung noch seine autobiographischen Texte als literarische Leistung lassen sich allein und voneinander unbeeinflußt untersuchen. Erst die wechselseitige Zusammenschau von Individuierung und Autobiographie erschließt Paulus als Apostel und als frühchristliche PersonPerson, persona.

5.3. Literarizität

Auch AutobiographieAutobiographie, autobiographisch und Literarizität stehen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis. Autobiographische Texte sind zum einen als literarische Leistung zu werten: Ein historisch greifbarer Autor schreibt über sich selbst. Zum anderen prägen autobiographische Texte Literatur weiter aus und schaffen dabei auch eigene literarische Topoi, Formen und Gattungen: Es wäre (s.o.) zu prüfen, ob die bei Paulus schwer verständlichen literarischen ‚Ich‘-Aussagen (z.B. Röm 706Röm07; 1 Kor 13071 Kor13) als ‚Autofiktion‘ interpretiert werden könnten, also als ‚Ich‘-Aussagen, die kaum biographisch gestaltet, aber autofiktional, d.h. literarisch stilisiert sind (s. dazu die Tabelle oben).

5.4. Theologie

Der 2 Kor enthält umfassende Selbstaussagen des Paulus zu seinem Selbstverständnis als Apostel und PersonPerson, persona, so z.B. auch zu seiner Krankheit. Die daraus abgeleitete ‚Schwachheitstheologie‘ in Hinsicht auf den Apostolat (2 Kor 11,30082 Kor11,30; 12,9071 Kor12,9) korrespondiert der in 1 Kor 1,18ff.071 Kor01,18ff. formulierten ‚Kreuzestheologie‘. Paulus stellt also sein apostolisches Selbstverständnis in expliziten Bezug zur Christologie (vgl. 2 Kor 4,7ff.082 Kor04,7ff.). Biographie und Theologie bzw. AutobiographieAutobiographie, autobiographisch und apostolisches Selbstverständnis einerseits und Christologie andererseits bilden einen gemeinsamen Deutungshorizont.Person, persona1

5.5. Charakter und Personalität

Paul RicœurRicœur, Paul formuliert in „Oneself as Another“ (1992)Ricœur, Paul1 die gleichermaßen literaturwissenschaftlich wie anthropologisch interessante Überlegung, das Wesen der Personalität werde im Zuge autobiographischen Schreibens gleichsam wie ein ‚Charakter‘ erschaffen:

„A character is the one who performs the action in the narrative. The category of character is therefore a narrative category as well, and its role in the narrative involves the same narrative understanding as the plot itself … characters, we will say, are themselves plots“Ricœur, Paul2.

Nach RicœurRicœur, Paul entsteht der Charakter also als plot im Zuge des autobiographischen Schaffens.

Auch diese Beobachtung benennt m.E. eine genuine Aufgabe der Paulus-Forschung: Die Frage nach dem Charakter- und PersonenPerson, persona-Begriff in der Antike ist höchst komplex.Gill, ChristopherPerson, persona3 Christopher GillGill, Christopher schlägt vor, ‚Charakter‘ zumindest in der Antike als moralisch bewertete und bewertbare Größe zu verstehen: „I have associated the term ‚character‘ with the process of making moral judgements …“Gill, Christopher4. Im Unterschied zum Charakter, der allgemeinen moralischen Normen und Normierungen unterliegtGill, Christopher5, verbindet Gill erst mit ‚Person‘ und ‚Personalität‘ ein individuelles, reales oder authentisches SelbstSelbst, self, selfhood:

„I have connected [the term personality, Verf.in] … with a response to people that is empathetic rather than moral: that is, with the desire to identify oneself with another person, to ‚get inside her skin‘, rather than to appraise her ‚from the outside‘“Gill, Christopher6.

Im Hinblick auf das Verhältnis von ‚AutobiographieAutobiographie, autobiographisch‘ und ‚Personalität‘ bei Paulus könnten mögliche Fragestellungen der Paulus-Forschung daher lauten: Inwieweit ist die paulinische SelbstSelbst, self, selfhood-Bezeichnung als ‚Apostel Jesu Christi‘ ein zunächst fiktives Moment paulinischer Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Darstellung, d.h. ein zentraler Aspekt des von Paulus in seinen Briefen selbst geschaffenen und literarisch gestalteten Charakters? Wieweit unterliegt dieser Charakter im Kontext frühchristlicher Identitätsbildung moralischer oder ethischer Beurteilung? In welchem Verhältnis stehen die paulinische Apostolizität als literarischer Charakter und Paulus als möglicher Prototyp individueller christlicher Personalität?

Der Philipperbrief des Paulus

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