Читать книгу Der Philipperbrief des Paulus - Eve-Marie Becker - Страница 47
Оглавление4. Form und Funktion von AutobiographieAutobiographie, autobiographisch bei Paulus
4.1. Methodische Zwischenüberlegung
Die bisher angestellten Überlegungen zu Paulus als Autor und zur Erforschung der AutobiographieAutobiographie, autobiographisch in historischer, literarischer und anthropologischer Perspektive (vgl. 2. und 3.) führen zu einem methodisch verwertbaren Zwischenergebnis, das die theoretische Basis für die Durchsicht der Paulusbriefe auf autobiographische Aussagen darstellen kann:
autobiographische Texte haben historischen Wert,
autobiographische Texte sind von literarischer Bedeutung,
autobiographischAutobiographie, autobiographisch gefärbte Texte finden sich kulturübergreifend,
spezifisch als Autobiographien geformte Texte stammen aus dem griechisch-römischen Bereich; sie erleben in der frühen Kaiserzeit eine gewisse Blütezeit,
autobiographische Texte sind mit biographischen Texten gattungsverwandt,
JosephusJosephus vertritt den singulären Typus eines orthonym schreibenden jüdischen Autobiographen im hellenistisch-römischen Kontext,
die AutobiographieAutobiographie, autobiographisch ist eine spezifische literarische Gattung der Selbstinterpretation und der Selbstdarstellung,
autobiographische Texte haben apologetische oder bekenntnishafte Funktion,
autobiographische Texte stehen in literarischer, thematischer und autorenpsychologischer Hinsicht mit dem anthropologisch relevanten Aspekt der Individuierung in Zusammenhang.
4.2. Autobiographische Aussagen und Texte bei Paulus – Eine Übersicht
Paulus hat keine AutobiographieAutobiographie, autobiographisch geschrieben, die mit der in etwa zeitgenössisch verfaßten vita des JosephusJosephus oder der autobiographischen Schrift des NikolaosNikolaos von Damaskus vergleichbar wäre. In den paulinischen Briefen sind jedoch autobiographische Aussagen und Passagen zu finden.Wischmeyer, OdaBormann, Lukas1 Die autobiographischen Texte in den paulinischen Briefen können – in Anknüpfung an die Herkunftsbestimmung griechischer Autobiographik durch H. Görgemanns (s.o.) – daher als ‚Ursprungsbereich‘ frühchristlicher Autobiographik bezeichnet werden.Autobiographie, autobiographisch2
Die autobiographischen Texte des Paulus lassen sich zum einen eher in Hinsicht auf ihren biographisch-historischen Wert und zum anderen eher in Hinsicht auf ihre literarische Gestaltung untersuchenWischmeyer, Oda3. Zur Untersuchung der autobiographischen Texte in den paulinischen Briefen ergibt sich daher folgende Heuristik4:
autobiographische Einzelaussagen | biographisch-historisch literarisch |
autobiographische Passagen | - biographisch-historisch - literarisch |
(1.) In folgenden autobiographischen Einzelaussagen macht Paulus historische bzw. biographische Angaben zu seiner Herkunft, seiner Missionstätigkeit etc.:
biographisch-historische Einzelaussagen | Belege |
Herkunft | 2 Kor 11,22 Röm 1,1ff. Phil 3,5ff. |
Missionswirken/Missionsgeschichte | 1 Thess 1,2ff.; 3,1ff. 1 Kor 2,1ff.; 3,1ff. |
(Reise-)Pläne | 1 Kor 16,5ff. Röm 15,22ff. Phil 2,19ff. |
Berufung und Apostolat | 1 Kor 1,17; 4,9ff.; 15,3ff. Röm 15,15 |
Apostolische Lebensweise | 1 Kor 9 2 Kor 11,7ff. Phil 3,12ff.; 4,11ff. |
Krankheit | Gal 6,17 |
Verfolgung, Bedrängnisse, Peristasen, Gefangenschaft | 1 Thess 2,2 1 Kor 15,32 2 Kor 1,8ff.; 11,23ff. Phil 1,7.13ff. |
Vorgeschichte des Briefeschreibens | 2 Kor 2,1ff.; 7,5ff. |
Einige autobiographischAutobiographie, autobiographisch gestaltete Aussagen sind weniger in Hinsicht auf ihren historischen oder biographischen Wert, als vielmehr hinsichtlich ihrer literarischen Valenz von Bedeutung: Paulus gestaltet z.B. das erzählerische ‚Ich‘ über das autobiographische Moment hinaus teils topisch, teils fiktiv weiter aus.06Röm07Deissmann, AdolfTheißen, GerdPerson, personaAutobiographie, autobiographischWischmeyer, Oda5
literarische Einzelaussagen | Belege |
generisches/autofiktionales ‚Ich‘ | 1 Kor 13,1-3.8ff. Röm 7,7ff. |
Topos ‚Gefangener‘ | Phlm 1.8ff.23 |
‚Schwachheit‘ und Körper | Gal 4,13f.; 6,17 |
(2.) In zwei zentralen autobiographischen Texten widmet sich Paulus autobiographischen Themen unter wiederum eher historisch-biographisch zu würdigender Perspektive (Gal 109Gal01-209Gal01-02), in welcher er über die Anfänge seines apostolischen Wirkens chronologisch berichtet. 2 Kor 12082 Kor12,1-10082 Kor12,1-10 ist hingegen programmatisch literarisch gestaltet: Paulus formuliert seine autobiographische narratio weitgehend in der 3. PersonPerson, persona Singular und verleiht ihr dadurch narrativ-fiktive und dabei teilweise apokalyptische ZügeWischmeyer, Oda6.
biographisch-historischer Text | Beleg |
Berufung und Missionswirken | Gal 1,12-2,14 |
Literarischer Text | Beleg |
Entrückungs-Erlebnis | 2 Kor 12,1-10 |
4.3. AutobiographieAutobiographie, autobiographisch und Individuierung
(1.) Die in seiner Biographie erfahrene Individuierung (κλητὸς ἀπόστολος ἀφωρισμένος …, Röm 106Röm01,106Röm01,1) führt Paulus zum autobiographischen Schreiben. Dieser Zusammenhang von Individuierung und autobiographischem Schreiben wird in der AutobiographieAutobiographie, autobiographisch-Forschung spätestens seit Wilhelm DiltheyDilthey, Wilhelm deutlich gesehen und in den Prozeß geschichtlicher Entwicklung eingebettet.Dilthey, Wilhelm1 Die gegenwärtigen Geschichtswissenschaften betonen eher die geschichts-konstruktive Tendenz autobiographischer Texte.Autobiographie, autobiographisch2 Beide Tendenzen – die Wirkung und die Konstruktion von (Lebens-)Geschichte auf und durch Autobiographik – lassen sich bei Paulus, besonders in Gal 109Gal01,1009Gal01,10ff.09Gal01,11ff. beobachten: Paulus beschreibt sich selbst in seinem ‚früheren Leben‘ im Judentum als Verfolger und Zerstörer der Gemeinden Gottes (Gal 1,1309Gal01,13). Dabei übertraf er (προέκοπτον … ὑπὲρ πολλούς … περισσοτέρως) viele seiner Altersgenossen (Gal 1,1409Gal01,14). Zumindest im autobiographischen Rückblick skizziert Paulus Momente von Individuierung also bereits in seinem Leben im Kontext des pharisäischen Judentums. Zugleich finden sich in dieser autobiographischen Skizze auch Elemente konstruierter Lebensgeschichte (z.B. Gal 1,1509Gal01,15f.09Gal01,15f.).
Der eigentliche Individuierungsprozeß beginnt freilich mit der ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ (Gal 109Gal01,1209Gal01,12)Misch, GeorgDilthey, Wilhelm3: Paulus versteht und beschreibt seine Berufung zum Apostel Jesu Christi als ‚Aussonderung‘ nämlich zur Evangelienpredigt unter den Heiden (ἀφορίζω: Gal 1,1509Gal01,15; Röm 106Röm01,106Röm01,1). Es ist eine Berufung ad personam, die in dieser Weise nur ihm zuteil wird. Die notwendige Apologie dieser Evangeliums-Verkündigung (Gal 1,1109Gal01,11) führt Paulus dazu, seinen individuellen Autoritätsanspruch als Apostel Jesu Christi vor dem Hintergrund seiner erfahrenen Individuierung darzulegen und autobiographischAutobiographie, autobiographisch zu gestalten. Individuierung führt also zu orthonymer Autorschaft und Autobiographie.
(2.) Dies gilt auch umgekehrt: Autobiographisches Schreiben führt zu Individuierung. Je mehr Paulus die mit seiner Bekehrung einhergehende Individuierung reflektiert, beschreibt und autobiographischAutobiographie, autobiographisch gestaltet, umso mehr individuiert er sich wiederum vor und gegenüber seinen Gemeinden (z.B. 2 Kor 10,1082 Kor10,1ff.082 Kor10,1ff.) und möglichen judaisierenden Gegnern (z.B. 2 Kor 11,22082 Kor11,22): Im Präskript des Römerbriefes verknüpft Paulus seinen Apostolat und die Aussonderung dazu formal-epistolographisch, d.h. nahezu stereotyp bzw. als Topos apostolischer Existenz.