Читать книгу Die Gier der Karnivoren - F. Schröder-Jahn - Страница 4
Kapitel 2: Über das Unvermögen, sich in der Fremde heimisch zu fühlen
ОглавлениеOrt war der Name von meinem neuen Zuhause. Seit vielen Umläufen war ich bei den Wesen hier und ich fürchtete sie noch immer.
In Ort lebten zwei Schwärme. Der eine bestand aus einer Sippe der Stelzenwesen.
Sie rochen tatsächlich alle nach trockenem Laub oder Gräsern. Untereinander unterhielten sie sich mit leisen Knacklauten. Redeten sie mit Mitgliedern des zweiten Schwarmes, benutzten sie eine andere Sprache.
Im zweiten Schwarm lebten Wesen, die mir erschreckend ähnelten!
Ich glaube, zu Beginn wäre ich ihnen fast unter den Händen weggestorben. Ich lag in einem weich gepolsterten Bambuskäfig und immer wieder flößte mir jemand eine warme, wohltuende Flüssigkeit ein. Sanft wurde ich von meinen Kot und anderem Unrat gereinigt. Bei der Gelegenheit bemerkten sie wohl auch, dass meine Federn nicht tatsächlich aus mir heraus wuchsen, und dass meine Sporne ebenfalls nicht wirklich ein Teil von mir waren. Denn kaum hatte ich mit Hilfe der wundersamen Flüssigkeit etwas Kraft gewonnen, demütigten sie mich gründlich. Zu dritt hoben sie mich aus meinen Käfig heraus und stopften mich, trotz heftiger Gegenwehr, in ein Wasserbad.
Der Schwarm badet gern und fast jeder Regen wird dazu genutzt. In sehr trockenen Zeiten, wenn selbst das letzte Wasser in den Baumhöhlen verdunstet ist, steigen die mutigsten Hennen für ein Bad gelegentlich sogar auf den Waldboden hinunter. Davon hatte mir meine Mutter erzählt.
Nach einem Bad ist das Wichtigste für uns die Gefiederpflege. Geduldig hatte Gaia mir die Federn gerichtet. Zerzauste und verklebte wurden liebevoll gereinigt und mit den Schnabelzähnen ordentlich gekämmt und gelegt. Schadhafte löste sie vorsichtig heraus und flocht neue ein. Die Federn am Kopf hatte sie mit meinem natürlichen Bewuchs dort verbunden. Die am Körper befestigte sie mit einem speziellen Gemisch aus Honig, Läusesekret und Wachs. Das ergab ein Federkleid, das ich brauchte, um mich vor Parasiten, Kälte und den Strahlen der Tagesplaneten zu schützen. Außerdem bewirkte es, dass ich äußerlich mehr den anderen Hühnchen ähnelte. Sehr nützlich zum Schutz gegen Feinde, denn es ist schwer sich bei einem Schwarm auf ein einzelnes Mitglied zu konzentrieren, wenn keines besonders auffällt. Eine Schwarmschutztheorie, die ich bereits zusammen mit der ersten Kropfmilch eingeflößt bekommen hatte.
Jetzt musste ich alle Federn lassen. Sie rupften mich, im wahrsten Sinne des Wortes und ich hasste sie dafür. Auch meine Sporne knickten und hebelten sie von den Hacken und Handgelenken. Dann weichten sie mich wieder und wieder ein. Zwischendurch hüllten sie mich in heiße Tücher und Schicht um Schicht löste sich von mir und ein nackter, knochiger, blauhäutiger Körper kam zum Vorschein, der gar nicht meiner zu sein schien. Ich sah aus wie sie, wenn sie ihre künstlichen Häute ablegten. Zumindest ähnelte ich ihnen stark. Nur hatte ich anscheinend viele Knochen mehr im Körper. Überall konnte man sie unter der Haut hervortreten sehen. Fasziniert starrte ich an meinen Körper hinunter. Als sie mir eine harte Fläche vorhielten, die wie eine stille Pfütze mein Gesicht wiederspiegelte, dämmerte in mir langsam die Erkenntnis, dass es eines ihrer Eier gewesen sein musste, aus dem ich ursprünglich geschlüpft war. Das änderte aber nichts an meiner Angst, die ich ihnen gegenüber empfand. Ich fühlte mich, als hätten sie mir mit meinem Federkleid auch meine Identität genommen und mein Wissen darüber, wer ich war.
Gaia war meine Mutter. Sie hatte schon immer im Schwarm gelebt. Im Gegensatz zu meinen beiden Ziehgeschwistern Tekel und Gaak, war ich jedoch nicht aus einem ihrer Eier geschlüpft, - geduldig und behutsam über viele Monde ausgebrütet. Nein, sie fand mich, als sie an ihrem Brutnest baute. Auf der Suche nach geeignetem Nistmaterial, entdeckte sie mich zufällig in einem Astloch. Dort lag ich bleich und zusammengekrümmt wie eine Made. Wie sie mir später oft erzählte, war ich nackt und winzig und ganz starr vor Kälte. Vorsichtig stocherte sie mich mit einem ihrer Sporne aus dem Loch und stopfte mich zwischen ihre Federn.
Gaia zog mich auf. Mit Tekel und Gaak teilte ich Kropfmilch und Gries, wir kuschelten uns aneinander, balgten miteinander. Wir liebten uns und stritten uns trotzdem heftig, wie wütende Läusemarder. Die erste große Reifezeit erreichte ich als fröhliches Hühnchen, das nur ein bisschen zarter und ungeschickter war, als die anderen Küken. Ich war glücklich, eine Henne zu sein, -Teil des Schwarms, und ich machte mir nichts aus meiner Andersartigkeit, weil ich mich nicht anders fühlte.
In den folgenden Umläufen, in meinem Bambuskäfig hockend, litt ich fürchterlich unter der Einsamkeit. Werhühner können sterben, wenn sie gezwungen sind allein zu leben, hatte mir Gaia erzählt. Ich versuchte daran zu denken, dass ich Zeit meines Lebens ein Schwarmmitglied sein würde. Daran konnte nichts und niemand etwas ändern. Man blieb im Schwarm solange man lebte. Selbst wenn man starb, dauerte die Verbundenheit an, nur dann flog man im Schattenschwarm.
Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschien,durfte ich endlich den Käfig verlassen. Als erstes biss ich die Person, die mich heraus ließ, kräftig in die Hand und trat sie den Bauch. Dann, endlich frei, lief ich so schnell es ging hinaus und einem Stelzenläufer direkt in die Arme. Es war, als wäre ich gegen einen Baum gerannt. Ich biss wieder fest zu und einer meiner Beißer brach mir heraus. Er zuckte nicht einmal zusammen.
Danach banden sie mich fest. An einem Bein wurde eine Leine aus Spurschnüfflerleder befestigt. Das kann man nicht so einfach durchbeißen oder –schneiden. Soweit ich weiß, ist es nur mit Werhennenkot oder einem Zeffallogebiss zu zerstören. Das andere Ende der Leine wurde am Fuß des Marktbaumes befestigt. Es war eine riesige, uralte Hirtenweide auf einem freien Platz mitten im Zentrum von Ort. Sie bot mir genügend Platz. Ungesehen konnte ich mich in ihr bewegen, je nach Belieben auftauchen oder wieder verschwinden.
Meine Laufleine war sehr lang. Zu Beginn beschäftigte ich mich haüfig damit ihren Verlauf zurück zu folgen, um sie wieder zu entwirren und versuchte, halbe Umläufe lang und völlig umsonst, die Verschlüsse am Baum oder am Bein zu öffnen. Ich sollte noch großes Geschick im Umgang mit der Leine entwickeln.
Schnell entdeckte ich einen dicht mit Flauschflechten bewachsenen Platz, an dem ich mir ein Nest baute. Zuerst nur ein paar Zweige und Fasern, doch allmählich wuchs es zu einem gemütlichen Wohnnest heran. Meine Ausscheidungen schenkte ich dem Wald. In Astkörbchen wandelten Kotasseln und Plattwürmer sie nach und nach in Humus, den ich im Wind verstreute, wie ich es von klein auf gelernt hatte. Meine neue Nahrung wurde mit täglich an den Baum gestellt. Das fremde Zeug das mir meine Wärter gaben, vertrug ich glücklicherweise gut.
Ganz anders war das zuletzt im Schwarm gewesen. Als Gaia mir kaum noch Kropfmilch geben konnte, war mein behütetes Leben in der Gemeinschaft der Werhennen plötzlich schwierig geworden. Übelkeit, Magenschmerzen und Durchfälle plagten mich. Ich konnte die Erwachsenenkost einfach nicht bei mir behalten. Da ich vieles wieder von mir gab, wurde ich mit der Zeit schwächer. Während der Schwarm mich besorgt mehr und mehr unter die Fittiche nahm, verlor ich zusehends an Gewicht. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich häufig nur in irgendeinem Nest herumlag. Die prallsten Früchte, die saftigsten Pilze und die zartesten Knospen wurden mir geschenkt. Doch nichts half, ich konnte nur wenig davon bei mir behalten. Schließlich fiel ich aus dem Schlafnest, als ich mich weit über den Rand beugte, weil mir wieder einmal das Essen hochkam. Kraftlos versuchte ich mich noch festzuhalten, aber meine Finger konnten nicht stark genug zupacken. - Und so hatte meine sonderbare und erschreckende Reise ihren Anfang genommen.
Ich nahm mir vor, zunächst wieder zu Kräften zu kommen und unterdessen weiter mit Nahrung zu experimentieren. Sowieso hatte ich nicht vor lange zu bleiben.
Von der Hirtenweide aus war es möglich vieles zu beobachten, was in Ort geschah. Schon in der dritten Nacht merkten die Bewohner von Ort, wie praktisch es für sie sein konnte, dass ich ihren großen Baum bewohnte. Als sich eine Horde Läusemarder in eine Gerbhütte, voller Felle schleichen wollte, krähte ich ganz Ort wach und die lästigen Parasiten mussten schleunigst das Weite suchen. So wurde ich der Wächter im Baum und alle gewöhnten sich an mich. Eigentlich achtete nach einigen Perioden niemand mehr richtig auf mich, ausgenommen ich schlug Alarm. Mein Essen wurde einfach unten am Stamm abgestellt und immer wieder kam es vor, dass jemand versehentlich in die Schüssel trat. Die ersten Wörter, die ich in ihrer Sprache lernte waren darum alles Flüche. Dass mein Essen mit den Füßen getreten wurde, störte mich nicht. Ganz gleich wer auch darin herumgelatscht war, alles bekam mir offenbar besser, als meine Kost im Schwarm. So sehr ich mich auch bemühte, mir selbst das Gegenteil zu beweisen, von vielem was ich an Werhennennahrung fand wurde mir einfach übel. Jetzt nahm ich wieder zu und meine herausstehenden Knochen bedeckten sich allmählich mit Fleisch und Muskeln.
Da ich keine Federn mehr hatte, machte ich mir aus Blättern und Flechten einen Ersatz. Wenn ich mich sehr schnell bewegte klang es fast so, als ob eine Brise durch den Baum strich. Einmal brachte mir der Wind eine Werhennenfeder. Mein Geschrei brach erst ab, als sie mir drohten, Feuer unter der Weide zu machen. Die Feder verflocht ich mit meinem Kopfbewuchs. Aus Kernholz machte ich mir auch neue Sporne für die Fuß- und Handgelenke. Sie waren nicht so gut wie meine alten, die von zwei kleinen Blattböcken stammten, die nach einem Hochwasser tot in einem Baum hängen geblieben waren. Der Schwarm hatte mir die Sporne zu den Jugendriten geschenkt, da mir einfach keine eigenen wachsen wollten.
(Läusemarder: kleine, flinke Fleisch-und Aasfresser, die einem Mauswiesel ähneln. Ungeheuer flink, wendig und formbar, können sie sich überall durchzwängen. Sie geben zwitschernde Laute von sich und sind immer in kleinen Trupps unterwegs. Sie haben einen sehr hohen Energieverbrauch und suchen deshalb die meiste Zeit nach etwas Fressbaren.