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Kapitel 5: Wie ein Baum ein Zuhause sein kann und von den vielen Fremden, die Einzug in Ort halten und der Neugier, die das mit sich bringt

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In dem riesigen Baum war alles noch fast so, wie ich es zurückgelassen hatte. Zum ersten Mal konnte ich mich frei in der Hirtenweide bewegen. Hin und her huschte ich und tat alles um meine schlimmen Gedanken zu verdrängen. Ich baute mein Nest frisch auf und entsorgte die durchgemoderten Flechtkörbe, um dann neue herzustellen. Auch meine Baumgärtchen und meine Not-Nahrungskammern mussten gepflegt und frisch bestückt werden. Die Raupen hatten sich alle verpuppt und als Flatterlinge davon gemacht, mir glücklich entronnen. Auch meine Maden waren schon lange gewandelt und auf und davon. Mit meiner Vorratshaltung musste ich völlig neu beginnen.

So werkelte ich herum, Umlauf für Umlauf und gewöhnte mich ein. Die vertrauten Tätigkeiten machten mir Freude. Und dann, irgendwann, erfüllte mich zum ersten Mal seit langer Zeit ein Gesang. Ich sang von dem, was ich liebte und ließ meine Stimme weit hinaus wandern. Ich erzählte den Küken von dem wundervollen Leben in den Wipfeln, von der Gemeinschaft des Schwarms und von den Lichterspielen am grünen Nachthimmel und von vielem mehr.

Jahre hatte ich gebraucht, um die Gesänge der Werhennen zu lernen. Länger als jede andere im Schwarm. Die Töne waren für meine Zunge schwierig zu modulieren. Lieder sind im Leben des Schwarmes sehr wichtig. Gesungen wird über alles. Singen ist Teil des gemeinschaftlichen Lebens und neben der gegenseitigen Federpflege und dem Geschichtenerzählen, der wichtigste Zeitvertreib im Schwarm. Ungeheuer umfangreich ist daher das Liedgut und jeden Tag entstehen neue Stücke und alte ändern sich, wachsen möglicherweise und werden irgendwann zu einem Großlied. Großlieder sind Teil der Werhennen Kultur. Mit ihrer Hilfe wird Leben, Ursprung und Geschichte erklärt und bewahrt.

Die Orter hatten offenbar beschlossen mich in der Hirtenweide leben zu lassen. Ich meinerseits beschloss ebenfalls im Baum zu bleiben, da es inzwischen mein Baum war. Ich nahm mir fest vor, bis zu meiner Flucht niemanden mehr zu verletzten. Ich hatte überhaupt nie vor gehabt jemanden zu verletzten, dafür hatte ich viel zu viel Angst vor allen. So waren wir uns im Grunde einig, und die Küken wurden wohl ermahnt, mich ein für alle Mal in Ruhe zu lassen. Knäcksta versuchte noch einige Male, mich von der Hirtenweide hinunter zu locken, akzeptierte schließlich jedoch, dass ich bleiben wollte wo ich war. So wurde ich teil von Ort, blieb gleichzeitig für mich und wachte über alle.

Ich hätte Ort jetzt jederzeit verlassen können. Zweimal stand ich im Dunkeln am Rand des Waldes und rang mit mir. Doch immer war die Angst vor dem Wald und den Fressern die darin lauerten stärker, als der Drang nach Hause zu kommen. Ich vertröstete mich auf später. Dass ich mich dabei selbst belog, ahnte ich irgendwo im Inneren. Die Zeit verstrich. Ein Umlauf wie der andere.

Schließlich näherte sich die Zeit der großen Hatz. Und es kam die Zeit meines Blutens. Als ich morgens erwachte rannen mir einzelne Tropfen die Schenkel entlang, sickerten in die Schutzkruste und verklebten mein Blattgewand. Erschreckt machte ich mir einen Druckverband aus Blättern zwischen den Beinen. Nach drei Umläufen hörte es endlich auf. Ich schob das auf den Schlafkrabblersaft, den ich gegen meine innere Verletzung in großen Mengen getrunken hatte.

Erleichtert über meine Genesung, sang ich während ich das Schlafnest reinigte und ausbesserte ein Gesundungs-Lied und webte meine eigene Geschichte mit hinein. Als ich zufrieden im Nest auf und ab hüpfte, zum einen aus Spaß und zum anderen, um die Polsterung zu festigen, beendete ich meinen Gesang. Plötzlich merkte ich, wie still es ringsherum war. Normalerweise gab es in Ort jede Menge Lärm. Irgendwo riefen Küken, Arbeitsgeräusche ertönten, Stimmen waren zu hören. Jetzt herrschte Totenstille. Selbst durch den Flötenbambushain ging kein Lüftchen. Vorsichtig kletterte ich an den Rand der Baumkrone, um besser sehen zu können. Doch da setzte bereits der übliche Alltagslärm wieder ein. Beruhigt zog ich mich zurück.

Wenige Tage danach, trafen die ersten Jagdkunden ein. Sie kamen geritten. Solche Reittiere wie ihre sah ich zum ersten Mal. Sie werden Hosper genannt Als Steppenbewohner haben sie sechs lange Beine, die einen langgestreckten Körper tragen. An ihrem schmalen Kopf sitzen zwei in alle Richtungen drehbare Ohren und drei große Augen. Eines in der Mitte der Stirn und die anderen beiden weit an der Außenseite des Kopfes. Sie bewegen sich unabhängig voneinander. Ihr Körper ist sandrotfarben mit schwarzen Längsstreifen.

Die Reiter saßen im hinteren Teil des Rückens, in einer mit dichtem Fell gepolsterten Kuhle im Steißbereich der Hospers. Wie ich später erfuhr tragen die erwachsenen Tiere dort über mehrere Großperioden ihre Jungen mit sich herum. Die Reiter lenkten die Tiere mit einer Flöte, die sie zwischen den Zähnen hielten. Stoßweise atmeten sie in das Instrument. Wie es aussah, reagierten die Tiere bereitwillig auf die verschiedenen Flötentöne.

Drei weitere, noch erstaunlichere Wesen begleiteten den Tross. Geschmeidig schritten sie auf ihren vier muskulösen Beinen voran. Zwei liefen neben den Reitern und eines folgte hinterher. Vier Reißzähne schoben sich seitlich auf beiden Seiten aus ihren Mäulern. Wie bei einer Grabhyäne, fiel der Körper nach hinten ab. Große, lila Krallen entwuchsen den mächtigen Pranken. Sie glänzten im Licht wie poliert. Über ihrem grün-gelb gestromten Fell trugen sie zusammengenähte Häute von Spurschnüfflern. Unbeaufsichtigt und frei, strahlten sie Stärke und Selbstbewusstsein aus. Sie erinnerten mich an Zeffallos.

Hinter ihnen und den Reitern zogen zwei schwerfällige Buffas einen großen abgedeckten Wagen. Mit ihren raumgreifenden Schritten konnten sie trotz ihrer tonnenschweren Körper, mühelos das Tempo mithalten. Kleinere Buffas kannte ich aus dem Wald. Der Schwarm ärgerte sie gelegentlich in Mangelzeiten. Es war schwer, sie in Rage zu bringen. Aber waren sie einmal wütend, konnten sie mit ihren kräftigen schaufelartigen Stirnknochen Waldboden, Schlamm oder Sand hoch in die Bäume schleudern. Genau richtig für uns, um an zusätzliche Mineralien, Samen, Bodenpilze oder Baumaterial zu gelangen. Diese beiden waren allerdings um einiges Größer als die Waldbuffas, die ich kannte.

Mitten auf dem Marktplatz hielt der Tross. Stelzenläufer und Bläut strömten zusammen, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Ich kletterte unauffällig weit hinunter, um alles gut sehen zu können. Jeder der Gäste erhielt als Geschenk einen kleinen Kasten gereicht. Darin waren ein Zwergmadenhacker für die Zahn- und Körperreinigung und ein Garausfalter, um Stechplagen fernzuhalten. Ich seufzte neidisch bei dem Anblick. - Einen Garausfalter hätte ich auch gerne wieder gehabt. Ich hatte ihn verloren oder eigentlich hatte eher er mich verloren, als ich nachts aus dem Schlafnest gefallen war und das Zeffallo mich verschleppte.

Die Ankömmlinge waren von ihren Reittieren gestiegen und bedankten sich für die Gaben. Einer schlug dazu seine Staubkapuze und den Plagenschleier zurück. Da bemerkte ich erst, dass einige von den Reitern keine Bläut waren.

Das Gesicht des Wesens war breitflächig geschnitten. In ihm dominierten zwei große, weit auseinander stehende, honigfarbene Augen. Der Mund war klein und lief spitz zu. Die Arme wirkten länger und breiter, als die der Bläut und die Beine sahen kurz und kräftig aus. Was mich am meisten beeindruckte waren die Flaumfedern die Gesicht und Hände bedeckten. Unweigerlich musste ich an den Schwarm denken. Wie ich nach und nach bemerkte, waren mehrere dieser Wesen unter den Gästen.

In der Nacht wurde gefeiert. In dem Gemeinschaftshaus wurde noch lange getanzt und gelacht. Ich saß auf meiner Hirtenweide und versuchte besonders wachsam zu sein. Es waren so viele Fremde in Ort und trotzdem schienen alle ganz sorglos zu sein. Ich fand sie schrecklich leichtsinnig. Irgendjemand musste ja ein Auge auf die Zugereisten haben. Mitten in der Nacht schreckte ich plötzlich hoch. Unten schlich eines dieser freilaufenden Räuberwesen, mit den lila Krallen herum. Misstrauisch beäugte ich es. Es benahm sich seltsam. Zunächst schlug es sein Wasser mitten auf dem Marktplatz ab und scharrte dann vehement und mit Hingabe Furchen in den Boden. Es schwankte unsicher zur Hirtenweide und stützte sich Halt suchend dagegen. Dabei knurrte und brummelte es unentwegt vor sich hin. Mühsam zog es sich dann mit seinen Vorderpranken weit am Stamm hoch und wetzte sich die lila Krallen. Dabei trat es mit einem seiner Hinterbeine in meinen Essnapf. Zu meiner großen Freude rutschte es mit der Schüssel am Fuß weg und landete mit einem deutlichen Plumps auf sein Hinterteil. Essensreste flogen im hohen Bogen durch die Luft und einige landeten genau auf seinem Kopf. Ich kreischte auf vor Vergnügen und flüchtete gleichzeitig hoch hinauf in den Wipfel, auf die dünnen, äußersten Zweige. Wusste ich doch nicht, wozu dieses Wesen fähig war. Doch sah und hörte ich nichts mehr von ihm in dieser Nacht. Als ich nach einer Weile vorsichtig wieder meinen Beobachtungsposten einnahm, war die „Lila Pranke“ weg. Nur die Urinpfütze, die auf dem Markplatz allmählich in den hart getretenen Boden einsickerte, war noch zu erkennen.

In den nächsten Tagen trafen weitere Trupps in Ort ein. Zumeist waren es Bläut und diese Federwesen mit den honigfarbenen Augen. Und ich erkannte überrascht, dass die „Lila Pranken“ offenbar keine gut abgerichteten Wildwesen waren, sondern ebenfalls Andere, wie die Bläut, die Stelzenläufer und die Federlinge. Um sich zu unterhalten verwendeten alle überwiegend die Sprache der Bläut. Ich bekam zunächst jedoch nur wenig zu hören, denn die meiste Zeit spielte sich leider alles im Gemeinschaftshaus ab. Das passte mir gar nicht. Doch seit dem Morgen nach der Ankunft der ersten Gäste regnete es fast ununterbrochen. Keiner der Anderen mochte offenbar gerne im Regen sitzen. Ich selbst übrigens eingeschlossen. Also hockte ich die meiste Zeit trübsinnig im trüben Wetter herum, wischte mir die Blätterkleidung trocken und sang dem Regen leise ein Lied. Doch fast jede Nacht gab es etwas zu sehen. Immer wieder schwankten und torkelten Leute über den Marktplatz, die offensichtlich nicht ganz Herr ihrer Sinne waren. Sie erinnerten mich an die schwerkranke Hock, die den Schwarm drei Wochen lang in Atem hielt, weil man ständig aufpassen musste, damit sie oder andere nicht zu Schaden kamen. Ihr Selbst war immer wieder abwesend. Nach eingehender Beobachtung kam ich zu dem Schluss, dass diese hier allerdings nicht krank waren, sondern etwas genossen haben mussten, das ihnen die Sinne vernebelte. Ich begann meinen Schabernack mit ihnen zutreiben. Beim ersten Mal kletterte ich vorsichtig hinunter, auf die untersten Äste und bewarf eine dieser wankenden Gestalten, die sich mit Mühe aufrecht hielt, mit Borkenstückchen. Diese fuchtelte daraufhin wild herum, lallte etwas über grässliche Plagen und wankte weiter. Beruhigt über die Harmlosigkeit des Rauschboldes auf dem matschigen Dorfplatz, schlüpfte ich in mein Nest. Ich kannte es den Geist zu wandeln. Immer wenn die Schaapsfrüchte gammelten, trafen sich in den Schaapshainen die Werhennenschwärme und sammelten die giftigen Früchte in sogenannten Schaapsnestern. Dort saßen alle eng beieinander und atmeten tief den intensiven Gestank ein, der aus den Nestern aufstieg. Schwer berauscht, feierten die Hennen dann manchmal tagelang.

Der Himmel klarte auf und das Leben in Ort verlagerte sich nach draußen und damit endlich zu mir. Ich war hocherfreut und voller Tatendrang. In der ersten regenfreien Nacht machte ich mir einen bösen Spaß daraus, einem schlafenden Federling unter meinem Baum das Gesicht mit Rotelsaft einzureiben. Der juckt wie verrückt und man muss sich gründlich viele Male waschen, um ihn von der Haut zu bekommen. Noch im Halbschlaf hatte mein Opfer angefangen sich zu kratzen und dabei jede Menge Dreck in seinem Gesicht verschmiert, denn ich hatte Sand und Staub über ihn gestreut. Ziemlich fies, wie ich genau wusste, hatte ich das gleiche einmal am eigenen Leib erfahren, als ich mein Gesicht mit Schlamm einrieb, um es vor den Tagesstrahlen zu schützen. Ich hatte nicht bemerkt, dass einige Rotelbeeren in dem Schlamm waren. Eine Woche zierten meine eigenen Kratzspuren mein zerschundenes Gesicht. Von da an hatte ich die Schutzschicht immer sehr sorgfältig zubereitet.

Der Geplagte stand am Morgen unter meiner Weide und beschimpfte mich fürchterlich. Er hatte den Rest der Zeit damit verbracht, den Juckreiz zu lindern. Woher er wusste, dass ich der Übeltäter gewesen war, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht hatte mich jemand beobachtet. Er jedoch hatte nicht den geringsten Zweifel. „Ich werde Dich erwischen und dich in dem Scheißzeug baden und wenn es das Letzte ist, was ich tue“ zeterte er und warf mit einem Stein nach mir. In seinem Gesicht leuchteten die Kratzspuren flammend rot. Nein, das war wirklich nicht besonders nett von mir gewesen, dachte ich gut gelaunt.

Zur Dunkelzeit saßen alle draußen an den Feuern und aßen. Ab und zu warf eine nette Person einen Brocken hoch in die Hirtenweide. Wieselflink rannte ich hinterher und versuchte ihn noch im Flug zu erwischen. Dabei musste ich mich mit Raubfaltern herumbalgen, die ebenfalls scharf auf die Stücke waren. Sie schwirrten in großer Zahl um das Fleisch und Gemüse auf den Rosten herum, ohne sich je die Flügel anzusengen.

Später kehrte allmählich Ruhe ein. Nur eine kleine Gruppe von Ortern und Gästen blieb nahe der Weide an einem Feuer sitzen. Vorsichtig ließ ich mich unbemerkt auf einen der unteren Äste herab, um zu lauschen. Dabei brach ein kleiner Zweig und fiel hinunter. Alle blickten hoch, konnten mich aber offenbar zwischen den Blättern nicht entdecken. „Wie lange lebt es schon in dem Baum?“ fragte ein wohlgenährter Federling. „und was tut es, außer euch Ärger zu bereiten?“ „Nun, es ist ein guter Wächter.“ antwortete jemand. „Ort wurde noch nie so gut bewacht, seitdem es in unserem Marktbaum hockt. Und das macht es jetzt schon seit Ende der letzten Jagd.“ Eine Bläutjägerin mischte sich ein, „die meisten von uns glauben, dass es als eine von uns das Licht der Welt erblickt hat. Reinigt man es, sieht es aus wie ein Bläut. Manche sind der Ansicht, dass es denkt und versteht. Wie auch immer, - wir konnten uns noch nicht auf seine Zukunft einigen.“ „Dann kann ich es vielleicht haben?“ fragte mein Rotelsaft-Opfer, das mit am Feuer saß interessiert und kratzte sich nachdrücklich die Stirn. „Nein“, sagte der einzige Stelzenläufer in der Runde. „Sie denkt und fühlt ganz ähnlich wie wir. Man kann sie also nicht einfach haben. Sie braucht nur ihre Zeit, dann irgendwann gehört sie zu Ort.“ Ein Alter, der seine knorrigen Hände an der Glut wärmte, verdrehte genervt die Augen und brummelte, „Ich bin es wirklich leid, über diese monströse Plage im Baum zu sprechen.“ Damit wandte sich das Gespräch der bevorstehenden Jagd zu. Offenbar gab es nicht nur eine richtige Methode Zeffallos zur Strecke zu bringen. Ich verkroch mich leise.

(Würmling: wurmartiges, rosa Wesen tief im Boden lebend. Es verwertet faulende Pflanzenreste, die es als Erde ausscheidet. Es entwickelt auf seinem Weg zur Oberfläche schimmernde Flügel und steigt dann überraschend in großen Schwärmen vom Boden auf, um sich in der Luft zu paaren. Die Eier legt das Weibchen nachts auf Mulchen ab, die diese in ihre Höhlen tief in die Erde hinuntertragen. Die Larven ernähren sich zunächst von Hautschuppen der Mulche. Dann lassen sie sich zur Erde fallen und graben sich tiefer ein.)

Die Gier der Karnivoren

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