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Kapitel 4: Über Frustfressen und vom Zauber des Flötenbambus

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Ein paar Tage später versuchten sie, mich aus der Hirtenweide zu holen. Da niemand zu mir in den mächtigen Baum wollte, versuchten sie das Spurschnüfflerseil, an das ich gefesselt war einzuholen. Unter großem Geschrei und Geschnaufe zogen sie doch tatsächlich einen der gewaltigen Äste ein Stück zu sich herab. Ich hatte meine Laufleine mehrere Male fest um ihn herum geschlungen. Schon glaubte ich, der Ast würde brechen und einige von ihnen erschlagen, da bemerkten sie, womit sie sich abplagten. „Es muss doch etwas Intelligenz besitzen, oder glaubt ihr, das ist nur ein Zufall?“ hörte ich eine Bläut sagen. „So bekommen wir das Huhn niemals aus dem Baum.“ Ja und dann, ohne viel Aufwand, hungerten sie mich einfach aus. Nach einer Woche magere Fliegen und Raupenkost und Übelkeit erregender Plattwürmer war ich so gierig, dass ich, obwohl ich es besser wusste, im Dunkeln leise herunterstieg, um mir den frisch gefüllten Napf vom Boden zu schnappen. Eine ihrer Schleuder-Netzfallen schnappte zu und hilflos lag ich bis zum Morgen, in dem Tauwerk verheddert, auf dem Boden. Sie hatten es nicht mal für nötig gehalten eine Wache aufzustellen.

Keiner in Ort wollte mich dann aus dem Netz herausholen. Sobald sich jemand näherte trat und schnappte ich wild um mich herum und stieß drohende Laute aus. Zu viert gelang es ihnen schließlich, mich festzuhalten, ja, ich war deutlich stärker als zum Zeitpunkt meiner Gefangennahme, - und mit einem geschärften Zeffallozahn schnitten sie mir die Fessel von meinem Bein. Anschließend schleppten sie mich mitsamt dem Netz zum Dorfteich und warfen mich ins flache Wasser. Dort wurde ich unter allgemeinem Geschrei hin und her gezerrt, im Netz gespült und über den Sand gezogen, solange, bis sich meine selbst konstruierte Blätterbefiederung und Sporenbewaffnung vom Körper löste und auf dem Tümpel trieb.

Abermals gerupft und gedemütigt, nackt, wie ein frisch geschlüpftes Küken zappelte ich halbersoffen im Netz und spuckte Wasser. Da mich noch immer niemand anfassen wollte hängten sie mich mitsamt Netz zum Trocknen in die untersten Äste der Hirtenweide. Dort schwang ich leise im Wind und versuchte keinen von ihnen anzusehen. Ihre nackten Gesichter machten mir Angst. Am Abend steckten sie mich, verschnürt wie ich war, in einen Käfig und gaben mir ein Messer, damit ich mich aus dem Netz schneiden konnte. Das Messer musste ich schließlich gegen Nahrung zurücktauschen.

Es begann eine schwere Zeit, in der ich glaubte, langsam verrückt zu werden. Mein Käfig war ungefähr so groß wie ein Legenest. Ich konnte mich bequem einmal lang auszustrecken. Dauernd schob jemand etwas zu Essen zwischen die Stäbe, denn ich war nun im Haus des Kollektivs untergebracht. Hier wurde je nach Lust und Laune gemeinsam gegessen und geredet. Hier trafen sich die Orter, wenn es etwas zu klären gab, Entscheidungen getroffen werden mussten oder man einfach die Gesellschaft anderer suchte.

Da ich nichts anderes zu tun hatte, aß ich ständig die Häppchen, die mir zugesteckt wurden, beobachtete und lernte dabei die Sprache der Bläut und auch die Sprache der Stelzenläufer immer besser zu verstehen, ohne dass ich bewusst zuhörte. Meine Notdurft musste ich völlig ungenutzt, in einen wasserdichten, mit einem Deckel versehenen Korb verrichten. Jeden Morgen wurde der Korb ausgewechselt. Die meiste Zeit lag ich zusammengekauert in einer der Käfigecken und träumte vom Schwarm: spielte mit anderen Küken Wipfelspringen, suchte nach schmackhaften Kleinigkeiten in den Baumkronen, sang am Abend mit Gaak und Tekel und ließ mich vom Wind schaukeln und von den Strahlen der Tagesplaneten wärmen. In Zeiten der größten Einsamkeit verkroch ich mich zwischen Gaias Federn.

Dann kam Knäcksta zurück! Die vertrauten Laute vor meinem Käfig brachten mich dazu, nach langer Zeit wieder jemanden in die Augen zu schauen. Knäcksta öffnete meinen Käfig, ergriff ohne zu zögern meinen Arm und zerrte mich heraus. Ich konnte kaum stehen. Der lange Aufenthalt im Käfig, hatte meine Muskeln schrumpfen lassen. Schwächlich versuchte ich nach dem Stelzenläufer zu schlagen, entlockte Knäcksta damit aber nicht mehr als ein unwirsches Knacken. Er hob mich hoch und trug mich hinaus in das Tageslicht, um mich dort gründlich zu betrachten. „Du grantige, kleine blaue Henne, du bist ja doppelt so schwer geworden. Von einem Extrem ins andere. So gut im Futter, dass es schon viel zu gut ist. Ich glaube fast, ich werde dich rollen müssen.“ Im Gegensatz zu seinen Worten nahm Knäcksta mich erneut mühelos auf und trug mich in den Flötenbambushain. Der Hain war das Wohnnest aller Stelzenläufer von Ort. Sie bogen das lebende Rohr, das lang und horstig wächst, und verflochten es mit Hilfe reißfester Gräser. Daraus war nach und nach ein eindrucksvoll großer, hoher Bau entstanden, den das Licht mit warmen, hellen Strahlen durchflutete. Grasteppiche bedeckten die Erde und Blättervorhänge trennten die verschiedenen Räume voneinander. Sanft bewegten sie sich beim leisesten Lufthauch. Wind erzeugte im Flötenbambus kaum hörbare Töne, die zu einer leisen Klangflut verschmolzen. Das Bauwerk bezauberte mich. Ich kannte ähnliches aus den Schlafnestern des Schwarms. Auch dort gab es Künstler, die den Flötenbambus ins Nest einflochten und ihm mit Hilfe des Windes die unterschiedlichsten Melodien entlockten.

Der Stelzenläufer setzte mich auf einen hohen Tisch und sah mir eindringlich in die Augen.

„Höre Blau-Henne, du hast bis heute nichts und niemanden hier in Ort akzeptiert. Du bist gefangen, obwohl dich niemand gefangen halten möchte. Das, was passiert ist, lässt sich nicht ändern, aber was vor dir liegt, kannst du beeinflussen.“ Knäcksta beugte sich zu mir vor „Denke darüber nach.“ Eindringlich blickten die großen Facettenaugen mich an.

Ich starrte zurück. Mein Gesicht spiegelte sich. Dutzendfach ein nacktes, blaues, fremdes Gesicht. Es machte mir Angst. Unwillkürlich schlang ich meine Arme um den Stelzenläufer und presste mich fest an das harte Wesen. Von mir selbst überrascht zuckte ich zurück, schaute zu Boden und schlenkerte verunsichert mit den Beinen. Knäcksta wich ebenfalls zurück und begann unverständliches zu knattern. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Ich blieb zurück, auf meinem Tisch. Jetzt hatte ich ein Problem.

Der Tisch war so gebaut, dass die hochgewachsenen Stelzenläufer bequem im Stehen von ihm essen konnten. Ich dagegen war vielleicht halb so hoch, wog dabei aber zurzeit so viel wie ein voll gefressener Baumsackler vor der Schlafzeit und meine Beine waren wie aus Pudding. Also legte ich mich der Länge nach auf den Tisch und tat nichts. Zum ersten Mal seit ich hierhergekommen war, hatte man mich nicht angebunden oder eingesperrt. Das ich nicht so ohne weiteres vom Tisch konnte, zählte nicht. Wenn ich wirklich wollte, wäre das kein echtes Hindernis. Mir stand jederzeit der freie Fall zur Verfügung.

Ja, ich würde heimgehen, ganz sicher, - aber nicht heute. In meiner derzeitigen Verfassung, wäre ich spätestens nach einer Stunde im Wald tot. Willkommendes Fressen für alle Räuber.

Im Raum herrschte ein dämmriges Licht, draußen musste es Dunkel werden. Die leisen Flötentöne des Bambus lullten mich ein.

Als ich wenig später wach wurde, stakste ein Stelzenläufer im Raum umher und verteilte Harzlichter, die er aus einem Beutel nahm, den er um den Hals trug. Fasziniert beobachtete ich ihn heimlich, während ich mich schlafend stellte. Er trug außerdem einen Krug, der eine lange, besonders schmal zulaufende Tülle hatte, in seiner Hakenklaue. Vorsichtig stellte er die Lichter auf zierliche Podeste, die an der Wand hingen und zündete sie an. Lauter winzige Brände, ich schauderte. Darüber hingen kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Gläser. Aus dem Krug gab er jeweils einige Tropfen einer dunklen Flüssigkeit in die Gläser. Der Stelzenläufer beachtete mich überhaupt nicht und verließ das Zimmer.

Nach einem Moment begannen die Gläser sanft zu glühen. Ihr Leuchten verstärkte sich und tauchte den Raum in ein warmes, angenehmes Licht. Ich staunte und verstand gar nichts, aber ich fand es wundervoll. Neugierig rutschte ich an die Tischkante und schaute mir das nächste Glas an, das in greifbarer Nähe an der Wand leuchtete. Vorsichtig steckte ich einen Finger hinein und hielt bestürzt inne. Kaum hatte mein Finger die laue Flüssigkeit berührt, erlosch das Licht. Nach einem Moment jedoch begann das Glas wieder zu glimmen und schon bald darauf hatte es seine alte Leuchtkraft wieder. Ermutigt tauchte ich noch einmal einen Finger hinein und abermals wurde die Flüssigkeit dunkel. Nach einem Augenblick der Ruhe begann die Flüssigkeit erneut zu leuchten. Jetzt begann ich zu experimentieren. Zunächst steckte ich mehrere Finger in das Glas, dann spuckte ich hinein und warf anschließend ein paar Haare in die Flüssigkeit. Das Resultat war immer gleich, das Licht erlosch für einen Moment.

Gerade als ich mit dem Gedanken spielte, hinein zu pinkeln und deshalb probeweise, mit einem vor Schwäche zitternden Bein auf dem Tisch stand und das andere gegen die Wand stemmte, kam jemand herein.

Erschrocken zuckte ich zusammen, mein Standbein gab nach und ich krachte mit dem Rücken auf dem Tisch. Dann rutschte ich unaufhaltsam in den Spalt zwischen Tisch und Wand. Würdelos steckte ich fest und versuchte, mich frei zu zappeln. Schließlich zog Knäcksta mich heraus und stellte mich auf meine Beine. Die zitterten, aber sie hielten mein Gewicht. „Schon viel besser als vorhin.“ sagte Knäcksta zufrieden.

„Wenn du in die Gläser pinkelst, geht das Licht aus und bleibt aus. Die kleinen Lebewesen brauchen Wasser und Blut und sie lieben Wärme. Harn in großen Mengen vertragen sie nicht. Später, wenn die Kerzen schon längst erloschen sind, leuchten die Lumas noch fast die ganze Nacht hindurch. Als Nahrung dient ihnen Blut. Jede Woche schütten die Gläserhüter einige Tropfen davon in jeden Behälter.

Eigentlich leben diese winzigen Lebewesen in alten Moorlöchern. Man sollte sich hüten hineinfallen, denn sie dringen durch die größeren Körperöffnungen ein und verzehren dein Blut. In warmen Nächten strahlen diese Moorlöcher manchmal feurig in den Nachthimmel. Das sieht wundervoll aus, vor allem, wenn ein sehr großes Opfer in den Pfuhl gefallen ist. Das Leuchten wird mit abnehmenden Temperaturen immer schwächer. Ein weiterer guter Grund, in kalten Nächten Moore zu meiden. Allerdings sind sie ziehmlich selten. Wir züchten sie. Bei feierlichen Anlässen färben wir das Wasser in verschiedenen Tönen und die Gläser erhellen die Räume mit bunten Farben.“

Knäcksta nahm meine Hand und führte mich langsam aus dem Raum.

Er brachte mich in einem Raum mit Behältern in unterschiedlicher Höhe. „Hier kannst Du dich erleichtern. Such dir einen aus und dann streust du das Mehl aus dem großen Korb dort einfach darüber und schließt den Deckel. - Stinkt dann nicht mehr.“ Als ich fertig war gingen wir in ein anderes Zimmer, in dem viele weiche Pflanzenfaserdecken lagen und in einer Ecke war ein großer, duftender Heuhaufen aufgeschichtet. An einem besonders hohen Tisch stand eine kleine Leiter. „Hier kannst du dir deine Schlafstätte bereiten, so wie du es dir wünschst.“ Knäcksta drehte sich um und ließ mich allein zurück. Ich baute mir ein Ruhenest aus Heu auf dem Tisch und legte mich hinein.

Am nächsten Morgen erwachte ich durch die Klänge eines Windspiels. Ein Stelzenläufer stakste durch den Bambushain und läutete leise damit. Genüsslich streckte ich mich, da schaute Knäcksta herein und sagte “Los, lass uns etwas essen, ich habe Hunger.“ Der Stelzenläufer musterte mich skeptisch „ Wobei, wenn ich es recht bedenke, du wahrscheinlich länger keine Nahrung brauchst, so drall wie du geworden bist. Dann begleite mich also einfach.“ Ich vergrub mich tiefer in meinem Nest. Doch einen Augenblick später kletterte ich langsam meine kleine Leiter hinunter und folgte Knäcksta. Ich musste viel lernen, um endlich nach Hause gelangen zu können.

Essen gab es in einem großen Saal voller Stehtische. Sie waren gedeckt mit großen Schüsseln und Platten, voll mit verschiedenen Kräutern, Blättern und Hölzern. Die Kost der Stelzenläufer schien mir ziemlich karg, doch fand ich mit Knäckstas Hilfe einige Süßgräserarten, die mir gut schmeckten und auch das eine oder andere Blatt mundete mir. Knäcksta war ja sowieso der Ansicht, dass es mir gut täte einiges an Gewicht wieder loszuwerden. Nach dem Essen hob Knäcksta mich vom Tisch herunter und räumte ab. Die Reste wurden in große Bottiche gekippt. Sobald ein Behälter voll war wurde er verschlossen und weggebracht. Die anderen Stelzenläufer hatten mich die ganze Zeit nicht sonderlich beachtet.

Danach zeigte Knäcksta mir das Haus der Lehre. Außerhalb des Flötenbambushains war eine große Höhle in einen sanft ansteigenden Hang gegraben worden. Hier wurden Bläut- und Stelzenläuferküken unterrichtet. Zum Glück war jetzt außer uns niemand da. Viele Küken schliefen gern länger und frühstückten ausgiebig, deshalb begann der Unterricht üblicherweise spät. Wir gingen durch verschiedene Räume und sahen uns alles an. Niedrige und hohe Tische, Stühle für die Bläut, und Räume voll mit Bildsprachen an den Wänden, Decken und Böden. Überall lagen kleine Schiefertafeln und gebleichte Blätter. Auf manchen waren Bilder drauf. Ich begann mich zu entspannen und wurde neugierig. Vielleicht konnte man doch in Ort eine kleine Weile leben, bis ich einen sicheren Rückweg fand, so dachte ich.

Doch dann stieß ich wieder auf die bizarre und so abstoßende Fremdartigkeit der Wesen hier. Der nächste Raum den wir betraten war ein großes Leichen-Zimmer, voll mit konservierten, toten Lebewesen. Eine Giftgurke hing getrocknet unter der Decke. Ein junger Spurschnüffler stand lebensecht in der Ecke, aber in ihm war nichts lebendiges mehr. Drei Läusemarder, wie im Kampf erstarrt. Überall tote Waldbewohner.

Und ich sah noch mehr. In einem großen durchsichtigen Behälter schwamm ein aufgeschnittenes Brutei mitsamt dem vollständig erhaltenen Embryo. Der Kopf einer noch jungen Werhenne steckte auf einem Stock, der Schnabel im Schrei aufgerissen, ihre Augen durch glitzernde Steine ersetzt. Die abgenutzten, erprobten Sporen einer alten Werhenne baumelten in einer Ecke, direkt neben einem frisch aufgeschnittenen Kuschler, der auf einem Tisch genagelt war. Bei dem Anblick wurde mir so schlecht. Große Fresser waren sie doch alle miteinander und nichts anderes. Hühnchentöter waren sie! Schwarmübel! Unwesen!

Der Stelzenläufer hielt mich fest, als ich versuchte heftig nach ihm zu treten und zu schlagen. Dann schleppte er mich, während ich noch alles tat, um ihn zu verletzen, zu meiner Hirtenweide auf dem Marktplatz. Schwerfällig kletterte ich hoch und versteckte mich in den unteren Zweigen. „Ich hätte Dich damals vermutlich besser in dem kümmerlichen Bäumchen hängen lassen sollen“, sagte Knäksta und stakste mit schweren Schritten davon.

(Baumsackler: kleines, struppiges Wesen, das sich ähnlich wie das Murmeltier einen dicken Vorrat an Fett anfrisst. Unwirtliche Zeiten oder auch andere verbringt der Baumsackler in tiefen Schlaf. Also, er schläft eigentlich die meiste Zeit und den Rest verbringt er damit Blätter zu fressen. Sein Fell ist dicht und hat die Fähigkeit Wasser, aktiv wegzuschleudern. Der Pelz senkt sich mit zunehmender Regenmenge, aber ab einem bestimmten Gewicht, schnellt das Fell katapultartig in seine ursprüngliche Stellung zurück. Jede Flüssigkeit wird versprengt. Das Baumsackler Männchen hat einen Beutel auf dem Rücken in dem es sein Junges aufzieht, das ihm die Mutter nach der Geburt übergibt.

Die Gier der Karnivoren

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