Читать книгу FINSTERBLÜTE - Fabia Mortis - Страница 5
Prolog
ОглавлениеTräume neigen für gewöhnlich dazu, sich nach und nach aufzulösen. Je wacher man wird desto stärker entziehen sie sich dem Fassungsvermögen des Träumenden. Sie verflüchtigen sich wie ein flüchtiger Morgendunst, bevor sie irgendwann völlig in das Große Vergessen abdriften. Sie hinterlassen nicht den geringsten Hauch einer Erinnerung. Sie sind einfach weg. Verschwunden. Verloren. Für immer.
Manche von ihnen jedoch sind derart brennend, intensiv, ja geradezu verstörend, dass sie förmlich danach schreien aufgeschrieben zu werden. Und sie gehen nicht weg. Sie kommen immer wieder. Sie sind eine wahrhaftige Heimsuchung.
Irgendwo da draußen existiert ein Ort. Einer von der besonderen Art. Allerdings keiner von der lichtdurchfluteten Sorte. Er ist vielmehr von sehr düsterer Natur. Ein Flecken von rätselhafter Dunkelheit. Voll endloser Angst und mitternachtsfarbenem Entsetzen. Obwohl er zunächst freundlich und einladend erscheint. Ich weiß nicht, wo er zu finden ist. Vielleicht gibt es ihn nur in meinem geheimen verschlungenen Traum. In meiner blühenden Fantasie …
Dieser Ort ist ein See. Glasklar, mit kristallenem aquamarinblauem Wasser, in das man unwillkürlich seine bloßen Füße tauchen möchte. Er ist eingebettet in eine idyllische schneebedeckte Hügellandschaft, zu deren Füßen sich undurchdringliche dunkelgrüne Nadelwälder entfalten. So weit das Auge reicht. Bis zum fernen Horizont.
Der See ist wunderschön. Anziehend und abgrundtief böse zugleich. Von nahezu finsterer poetischer Anmut.
Nacht für Nacht stehe ich am Ufer dieses ungetrübten Gewässers. Und schaue staunend auf seine strahlende, trügerische Reinheit. Es übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus, obwohl ich instinktiv fühle, dass ich verloren bin, wenn ich ihm zu nahe komme.
Im vermeintlich so durchscheinenden Wasser lauert der Tod. Und zwar einer von der bitteren und grausamen Sorte. Denn ich stehe am Geisterbärensee.
Ihr kennt ihn nicht? Bis vor einigen Nächten wusste auch ich noch nichts von diesem verfluchten Ort. Aber seither stehe ich im Traum wieder und wieder an seinem abschüssigen Gestade und blicke wie paralysiert hinein, beobachte fasziniert die unzähligen, unscharfen, nebelhaften Schatten, die sich darin flink unter der ruhigen, jedoch tückischen Wasseroberfläche bewegen und geduldig auf ein unvorsichtiges ahnungsloses Opfer warten …
Erschreckt erkenne ich, dass es sich bei den geschmeidigen Schemen um Bären handelt. Genauer gesagt um Geisterbären. Ich frage mich, wie lange sie überhaupt unter Wasser bleiben können und trete näher heran, obwohl ich sehr wohl um dessen Gefahren weiß. Neugierig recke ich den Kopf – ich möchte nur kurz schauen, ob ich nicht einem verlockenden Trugbild aufgesessen bin … Und tatsächlich. Es sind Geisterbären, die dort so rege umher schwimmen. Keiner von ihnen taucht auch nur für eine einzige Sekunde auf, um Atem zu schöpfen. Ich finde das sehr merkwürdig. Geradezu widernatürlich. Abstoßend. Trotzdem streife ich meine Schuhe ab, möchte dieses kühle, betörende Nass unbedingt an meinen nackten Füßen fühlen. Nur für einen kleinen Augenblick, ich gehe auch nicht allzu weit vom Rand weg. Dann kann mir nichts Schlimmes geschehen …
Schon tauche ich meine Zehen hinein. Ganz nah an seinem Saum. Und das Gefühl, das ich dabei empfinde, ist derart exquisit, dass ich für den Bruchteil eines Augenblicks wie verzaubert meine Augen schließe. Und dieser Lidschlag eines kurzen, aber bedeutungsvollen Moments genügt, um mir den Grund unter den Füßen wegzuziehen, mich meiner Balance zu berauben und von einem unaufhaltsamen Sog erfasst zu werden. Der mich mit unvermuteter Energie fast bis ins dunkle Herz des Sees zerrt. Langsam sinke ich dort zum tiefen Grund hinab und kann dabei die düsteren Schatten sehen, die über mir weiter ihre munteren Bahnen verfolgen.
Starr vor Angst blicke ich mit zunehmender Hoffnungslosigkeit zur ersehnten Oberfläche empor, die sich mir von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr entzieht und bald in unerreichbare Ferne rückt. Ich habe furchtbare Angst, dass die Geisterbären mich entdecken. Ich kann nicht mehr atmen, und schließlich wird mir schwarz vor Augen. Nachtumfangen schwebe ich im Nichts.
Schweißgebadet schrecke ich schließlich aus dem Tiefschlaf in meinem völlig zerwühlten Bett auf und finde mich in einer senkrechten Hab-Acht-Position wieder. Ähnlich einem Erdmännchen in der afrikanischen Savanne, das auf seinem Hügel Wache vor Fressfeinden hält. Was für ein absolut durchgeknallter Albtraum! Ich trinke ein Glas Wasser und liege bis zum Morgengrauen wach. So sehr ich in dieser Nacht auch nach dem Schlaf jage, er entzieht sich mir mit vehementer Beharrlichkeit.
Und ich bin mir gewiss, dass ich noch in vielen folgenden Nächten am Ufer dieses von allen Göttern verlassenen Pfuhls stehen werde und seiner morbiden Anziehungskraft nicht widerstehen kann.
Wieder und wieder werde ich in seinen klaren Tiefen versinken. Meine Lungen werden sich mit eisigem Wasser füllen, und ich werde langsam und qualvoll ertrinken. Oder von den Geistern zerrissen und verzehrt. Wenn ich nicht rechtzeitig aufwache.
Dieser See ist ein verwünschter Ort. Ein Hort des Bösen, eine Brutstätte des Übels und der Verdammnis. Uralt und verderbt bis ins Mark verströmt er den giftigen Pesthauch von stinkender Fäulnis und grenzenloser Niedertracht.
Ich wünschte mir, ich hätte nie von diesem verhexten Morast geträumt. Und ich wünschte mir noch mehr, dass er nirgendwo in diesem Universum existiert.
Einen Geisterbärensee gibt es nicht. Oder vielleicht etwa doch …?!