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Vorspiel 1970 12. Juli 1970

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Ein zwölfjähriger Junge läuft lautlos den schmalen Pfad von der Ngala-Tierstation hinunter zum Timbavati-Fluss. Er zuckt kurz zusammen, als vor ihm eine Hyäne raschelnd im Gestrüpp verschwindet und dabei ein meckerndes Lachen ausstößt. Dann lacht er erleichtert zurück. Am Ufer wendet er sich nach Norden und folgt dem mit dünnem Buschgras bewachsenen Uferstreifen, für einen Moment geblendet von der untergehenden Sonne, die die Hänge des Mshatu-Berges mit dem Glanz dunklen Ockers überzieht und sich funkelnd in den Sykamoren bricht. Es ist heiß.

Nach und nach verstummen die Geräusche und weichen einer angespannten Stille. Denn wenn im Krügerpark die Dunkelheit hereinbricht, hält die Welt für einen Augenblick den Atem an. So, als wolle sie das Spiel der Farben auf jeden Fall bis zum Ende genießen und noch einmal die gleißende Helligkeit des Tages in sich aufnehmen, bevor die Nacht das Sagen hat.

Der groß gewachsene Junge ist stehen geblieben und hat jetzt in der Dämmerung zwischen der Karoo-Vegatation den Mopane-Baum mit den zwei Kronen ausgemacht - und freut sich über den glimmenden Punkt zwischen den Ästen. Bongani wartet schon auf ihn.

Wüsste der Vater des Jungen von diesem Ausflug, er wäre aus verschiedenen Gründen schockiert: Erstens soll ein Zwölfjähriger nicht allein im Busch herumlaufen - schon gar nicht unbewaffnet. Zweitens beginnen nach Einbruch der Dunkelheit die meisten Raubtiere mit der Jagd. Und drittens sieht der fromme, energische Tierpfleger es nicht gern, wenn sein Sohn mit Schwarzen spielt. Bongani ist vierzehn und gehört zum Stamm der Sotho sprechenden Pedi.

Der Junge klettert zu seinem Freund hinauf, hebt lässig die Augenbrauen und nickt leicht, als ihm der Schwarze eine Zigarette hinhält - selbst gedreht, aus Sukkulenten-Blättern.

»Glaubst du, heute Nacht kommen sie?«

Bongani grinst. »Ich weiß es nicht. Die Legende von den weißen Löwen ist uralt, aber es hat noch niemals jemand einen gesehen.«

»Doch, der alte Shaka! Letzte Woche.«

»Ja, aber Shaka glaubt auch, dass Nilpferde als Oryxantilopen wiedergeboren werden. Das macht ihn nicht gerade zu einem verlässlichen Augenzeugen. Egal.Wenn es weiße Löwen gibt, dann kommen sie irgendwann hier an die Wasserstelle. Hast du die Kamera dabei, Tshwane?«

Tshwane guckt verwirrt. Vielleicht, weil er sich immer noch nicht daran gewöhnt hat, dass Bongani seinen schwierigen deutschen Vornamen nicht richtig aussprechen kann und ihm deshalb einen Sotho-Namen gegeben hat: »Tshwane - Wir sind gleich!« Dabei ist dieser Name eigentlich ein würdiger Titel, eine Ehre, eine Art Brüderschaft.

Der junge Weiße nickt und klopft auf seine Tasche. »Und nicht nur das. Mein Vater hat sich letzte Woche aus Deutschland ein brandneues Blitzgerät schicken lassen.Tolles Teil, sage ich dir.«

Gemeinsam inspizieren die beiden Jungen den eleganten schwarzen Aufsatz für den Fotoapparat, rauchen, drücken ihre Kippen aus und warten dann in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit gespannt auf die Löwen. Zum Glück weht der Wind von Osten den Hang herunter, sodass keines der Tiere, die zur Tränke kommen, sie wittern kann.

Als Tshwane zum dritten Mal auf seine Uhr schaut, ist es kurz nach neun. Bislang sind mehrere Blessböcke, einige Streifengnus, eine Herde Ngalas und ein Kudu an der Wasserstelle gewesen, aber noch keine der wirklich seltenen Tiergattungen, schon gar nicht die sagenumwobenen weißen Löwen.

In diesem Moment knackt es mehrmals hintereinander unter ihnen. Bongani packt Tshwane am Arm.

»Da! Epila!«

»Wer ist Epila?«

Der Schwarze deutet auf zwei Büsche, zwischen denen sich jetzt langsam ein unförmiger, rotbraun behaarter Kopf hervorschiebt. Zentimeter für Zentimeter. Ein Elefantenjunges. Höchstens ein paar Wochen alt und noch ganz mit dem braunen Fell neugeborener Elefanten bedeckt, das erst nach sechs Monaten den schwarzen Borsten weicht.

Bongani flüstert: »Epila ist die Tochter von Shingwezi, einer sehr klugen Elefantin, die vor Kurzem zum ersten Mal Mutter wurde. Merkwürdig.«

»Wieso merkwürdig?«

»Elefanten lassen ihre Kleinen niemals allein. Epila muss heimlich davongelaufen sein.«

Das Elefantenkind schaukelt ein paarmal mit dem Kopf und rennt dann übermütig zum Timbavati. Dort geht es vorsichtig in die Knie und legt den Kopf ins Wasser, um zu trinken.

»Siehst du? Elefanten müssen erst lernen, das Wasser mit dem Rüssel aufzusaugen und es sich in den Mund zu spritzen. Anfangs trinken sie wie wir.«

Fasziniert schaut Tshwane dem kleinen Elefanten zu, der kaum größer als einen Meter sein dürfte und jetzt vergnügt durch das Wasser tollt. Die herumfliegenden Tropfen fangen das Licht der untergehenden Sonne ein und glitzern rötlich. Epila tänzelt vor Freude und jagt ihnen nach. Spielerisch und leichtfüßig.

Plötzlich krallen sich die Finger Bonganis derart fest in die Schulter seines Freundes, dass dieser zusammenzuckt. Der Schwarze hat angefangen zu zittern und schaut mit weit geöffneten Augen zum Rand der Lichtung. Er atmet flach und schluckt schwer.

Nun sieht es auch Tshwane: Zwei Löwinnen haben den offenen Platz betreten. Und sie sind beide … weiß. Hell leuchtet ihr Fell im fahlen Mondlicht.Als wären sie Geister. Löwen-Geister. Hinter den Geschichten von den bleichen Raubtieren stecken also nicht nur Legenden und das Geschwätz eines halbblinden Alten. Es gibt sie tatsächlich. Welch ein Anblick.

»Wir müssen etwas tun«, raunt Bongani. »Schnell.«

Tshwane spürt sein Herz schlagen.Aufgeregt hebt er den Fotoapparat und …

»Nein, nicht das.Wir müssen Epila retten.«

»Fressen Löwen Elefanten?«

»Natürlich. Sehr gern sogar. Was lernt ihr eigentlich in eurer Schule? Wenn ich nur wüsste, was wir tun können.«

Inzwischen hat das Elefantenjunge die Löwinnen bemerkt und brüllt.Voller Panik. Ein wildes, hysterisches Trompeten. Es ahnt den Tod. Die Raubkatzen dagegen sind sich ihrer Sache sicher und nähern sich dem verzweifelten kleinen Elefanten eher tänzelnd, Schritt für Schritt, Tatze für Tatze. Mit einem herrisch lauernden Blick.

Bongani spannt alle Muskeln an. »Was machen wir nur?«

»Was können wir schon machen? Es sind Löwen und wir haben keine Waffen.«

Die Stimme des Schwarzen klingt rau und vibriert: »Gib mir den Fotoapparat!«

»Was? Willst du jetzt doch fotografieren?«

Bongani antwortet nicht. Er reißt Tshwane wortlos den Apparat aus der Hand und springt vom Baum. Mit einem Satz.

Die Löwinnen sind einen Moment irritiert, dann wenden sie sich ihrem neuen Herausforderer zu, der offensichtlich nicht weiß, mit wem er es zu tun hat. Beide Raubkatzen fauchen. Und Tshwane stößt einen verzweifelten Schrei aus, der weit durch das Tal hallt und den er nie vergessen wird: »Bongani! Nein!«

Die Löwinnen blicken zu dem Weißen hoch, verwundert. Noch so ein übermütiger Mensch. Doch sie riechen seine Angst und weiden sich daran.

Nun macht Bongani einen Satz auf die Löwinnen zu. Das haben sie nicht erwartet. Nur:Was ändert es? Sie spannen die Muskeln an, zum Sprung bereit, und reißen die Augen weit auf. Da löst der Schwarze das Blitzgerät aus - und jagt den grellen Lichtschein wie einen Schuss durch die Nacht. Zu spät. Eine der Löwinnen hat sich schon vom Boden gelöst. Bongani wirft sich zur Seite. Das geblendete Raubtier sieht es nicht und landet verunsichert auf seinen Tatzen. Die empfindlichen Augen zusammengekniffen. Es dreht sich um, versucht, den fremdartigen Gegner wieder zu fixieren. Und schaut direkt in einen zweiten Blitz, der die Dunkelheit mit seinem gleißenden Licht durchzieht. Beide Löwinnen senken den Kopf, knurren laut, warten einen Augenblick unschlüssig - und verziehen sich dann ins Dickicht.

Tshwane kann es nicht fassen. Er schreit vor Erleichterung. Und will ebenfalls vom Baum klettern. Doch Bongani ruft bestimmend: »Bleib, wo du bist!«

»Warum? Du hast sie doch vertrieben.«

»Die Löwinnen sind nicht die Gefahr.Viel schlimmer …«

Noch ehe Bongani zu Ende sprechen kann, stürmt eine wütende Elefantenkuh auf die Lichtung am Timbavati. Der Schwarze kann sich nur mit einem erneuten Sprung davor bewahren, überrannt und zertrampelt zu werden.

Die Elefantin Shingwezi tobt und schiebt sich zwischen die Menschen und das Elefantenjunge, das immer noch voller Panik brüllt. Tshwane nimmt die Laute erst jetzt wieder wahr. Während des Angriffs der Löwinnen hat sein Verstand sie offensichtlich ausgeblendet. Doch sie waren laut genug, um die Mutter herbeizurufen, die jetzt aufgeregt vor ihrem Nachwuchs Aufstellung nimmt und sich den vermeintlichen Gegnern ihres Kindes zuwendet.Aufgeregt trompetet sie und reckt den Rüssel steil in die Höhe. Sie scharrt mit den Füßen und schnaubt die beiden Eindringlinge drohend an.

»Klettere so hoch du kannst. Sonst tötet sie dich.«

»Bongani, renn weg. Bitte!«

Jetzt macht sich Shingwezi zum Angriff bereit. Erde und Sand spritzen durch die Luft. Und die gebogenen Stoßzähne ragen wie Bajonette empor. Die breiten Ohren an den Körper gedrückt, rast die Elefantendame auf Bongani zu.

»Renn!«

Doch Bongani steht einfach nur da. Mit über der Brust gekreuzten Armen. Regungslos. Er wartet in aller Ruhe - und fängt an zu singen. Oder besser: zu brummen. Irgendwo aus seinem Inneren kommen warme, dunkle Töne, die den Platz überfluten. Tiefe Schwingungen, die körperlich spürbar sind, weil sie sich fast zärtlich auf alles legen und mit der Welt eins werden: mit Tshwane, mit dem Timbavati, den Akazien und Sykamoren - und mit dem Mopane-Baum.

Die Elefantenkuh aber hat gestoppt. Abrupt. Direkt vor Bongani. Ihr riesiger Kopf ist höchstens noch dreißig Zentimeter von seinem entfernt. Sie lauscht den eigentümlichen Klängen. Minutenlang. Dann legt sie ihren Rüssel um den schwarzen Jungen - so, als wolle sie ihn streicheln.

Bongani hebt ruhig die Hand und winkt seinem Freund zu: »Du kannst jetzt runterkommen.«

»Wird sie uns nicht mehr angreifen?«

»Nein, ich habe ihr alles erklärt.«

Erklärt? Was soll das denn heißen? Jetzt erst begreift Tshwane. Natürlich. Er hat seinen Freund ja schon mehrfach liebevoll und souverän mit den gigantischen Tieren umgehen sehen. Bongani, sein Freund, ist ein Elefanten flüsterer. Er besitzt die seltene Gabe, mit Elefanten zu kommunizieren.Vielleicht, weil seine Familie seit vielen Generationen im Krügerpark bei der Betreuung der Elefantenherden hilft. Oder weil er einfach anders ist als andere Menschen.

Shingwezi jedenfalls hört und versteht diesen mutigen Schwarzen. Die Wut in ihren Augen ist einer tiefen Dankbarkeit gewichen.

Tshwane steigt - noch immer vorsichtig - vom Baum herunter und geht auf die beiden zu. Erschrocken weicht er zurück, als sich ihm der breite Kopf der Elefantenkuh nähert - doch dann lässt er die Berührung zu. Auch um seine Schultern legt Shingwezi ihren Rüssel. Die dicke raue Haut fühlt sich ungewohnt, aber nicht unangenehm an. Und als die Elefantendame ihm direkt in die Augen sieht, geht dieser Blick bis in die Seele.

Bongani strahlt ihn an: »Sie hat uns soeben adoptiert.«

»Wie bitte?«

»Ja. Sie hat verstanden, dass wir ihr Kind gerettet haben, und uns aus Dankbarkeit adoptiert. Sie wird von nun für uns sorgen wie für jedes ihrer Familienmitglieder. Du kannst stolz sein. Das passiert nur sehr selten.Vor allem aber gilt diese Adoption für alle Zeiten. Denn Elefanten haben ein gutes Gedächtnis. Also: Herzlich willkommen in der Familie der Elefanten.«

Tshwane guckt ungläubig. Dann fängt er an zu lachen. Ein erleichtertes, fröhliches Lachen. Er hat das Gefühl, endlich in Afrika angekommen zu sein.

Die Bilder, die Bongani ungewollt bei der Vertreibung der Löwinnen gemacht hat, schaffen es im September 1970 bis ins Time Magazine und sorgen dafür, dass sich Forschergruppen aus der ganzen Welt auf die Suche nach den geheimnisvollen weißen Raubtieren machen - und sie auch finden. Seither ist das ursprünglich 1956 eingerichtete Timbavati Game Reserve vor allem für seine seltene Population weißer Löwen bekannt, die auf einem Gen eine rezessive Mutation haben.

Tshwane aber erfährt zwei Wochen nach der Konfrontation mit den Wildtieren von seinen Eltern, dass die Familie in die DDR zurückkehren wird, weil sein Vater dort als Missionar arbeiten möchte. Schon kurze Zeit später reist er ab.Vor dem Abflug schwört der verzweifelte Junge seinem Freund Bongani in den Kronen des Mopane-Baumes ewige Freundschaft und beteuert, dass er sich regelmäßig melden wird. Doch als die Pubertät Tshwane in Deutschland wie ein heißer Wüstensturm überfällt und er sich zum ersten Mal verliebt - zum Schrecken seines Vaters in das frühreife FDJ-Mädchen Gisela -, vergisst er alle seine Versprechungen.

Nur das Bild von Shingwezi, die er in der ihm in Afrika verbliebenen Zeit nicht mehr wiedergesehen hat, begleitet Tshwane all die Jahre.Als wüsste er tief in sich, dass sie sein Leben noch einmal von Grund auf durcheinanderbringen und verändern wird. Elefanten haben ein gutes Gedächtnis.

Hannibal Mayer - Der Zug der Elefanten

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