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Hexen

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ie Schuldgefühle plagten Lilith, da sie ihm nicht mehr antwortete. Gern hätte sie mit Sonja darüber gesprochen, aber sie konnte und wollte auch nicht.

Seit Montag ging alles drunter und drüber. Kaum hatte Laura wie geplant frei, fiel prompt die gesamte Ostküste über sie herein, zumindest hatte sie das Gefühl, dass es so war. Dementsprechend musste sie länger und mehr arbeiten, da sie es in der Zeit trotz tatkräftiger Unterstützung von Mia nicht schaffte, alle Bestellungen abzuarbeiten.

Dann stürzte ihre Angestellte am Mittwoch auf dem Weg vom Kindergarten zum Büchercafé unglücklich vom Fahrrad und ist seitdem ans Bett gefesselt. Sofort fuhr sie am folgenden Morgen ins Krankenhaus, um sie zu besuchen. Ihr ging es soweit ganz gut, abgesehen von den Schürfwunden, den Schmerzen und Zerrungen. Sie erfuhr, dass die liebe Seele zumindest ab Freitag wieder nach Hause kann, um sich dort zu erholen.

Hinzu kam, dass Lilith ihr Gewissen quälte. Je öfter sie sich mit Chris hin und her schrieb, desto mehr erinnerte sie sich an diesen verdammten Traum. Und plötzlich war er wieder detailreicher denn je präsent. Wie sollte sie ihm das erklären? Sollte sie es ihn überhaupt darüber aufklären?

Donnerstagabend kam sie endlich einmal dazu, seine letzte Nachricht zu lesen. Er fragte nach dem Geschäft. Sie hatte sich tatsächlich verplappert! Zu dumm! Was sollte sie nun machen? Auf ewig konnte sie es ihm nicht verheimlichen. Anfangs war sie froh, dass er dachte, er kenne die beiden von einem vorangegangenen Konzert. Doch dass sie sich so intensiv schreiben würden, damit hatte sie damals nicht gerechnet. Letztendlich hoffte sie, dass er den Traum nach und nach verdrängte und somit vergaß.

Tagelang überlegte sie verzweifelt, was sie tun solle. Sonja wollte sie nicht in ihr Dilemma mit einbeziehen, das musste sie selbst ausbaden. Am Sonntag entschloss sie sich dann dazu, ihm einfach die Tatsachen zu schreiben. Eventuell hat er nicht alles erfasst? Vielleicht hatte sie es ja doch irgendwie kontrollieren können? Aber Fakt war, dass sie es nie herausfinden würde, wenn sie ihm nicht schrieb.

Montagmorgens ging sie vor der Arbeit aus online und sie bemerkte, dass er gerade anwesend war. Diese Gelegenheit musste sie ergreifen. Schnell schrieb sie ihn an. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, aber er antwortete ihr tatsächlich. Er war ihr nicht böse, er meinte sogar, dass er sie vermisst hätte. Gut, dass er sie in diesem Moment nicht sehen konnte, denn sie wurde knallrot.

Mit keiner Silbe erwähnte er das Thema Büchercafé, worüber sie mehr als froh war. Dafür berichtete er ihr von Andys Junggesellenabschied. Sie wusste nicht einmal, dass der Bassist verlobt war. Da hatten sie alle verdammt gut dichtgehalten! Und nun wird er auch noch in wenigen Wochen heiraten. Lilith musste Chris schwören, dass sie es keinem weitererzählen würde. Das konnte sie ihm reinen Gewissens versprechen. Nicht einmal Sonja würde sie davon berichten, das war klar.

Als sie auf die Uhr blickte, erschrak sie. Minuten zuvor hätte sie im Geschäft sein müssen! Schnell würgte sie das Gespräch ab und verabschiedete sich. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen und eilte zum Laden. Da ihre Freundin an diesem Tag einen Termin hatte, wurde sie diesmal nicht abgeholt und sie konnte deshalb eine Weile für sich sein, um ihren Gedanken nachzuhängen.

Oh Sonja! Nun musste sie ein weiteres Geheimnis vor ihr bewahren. Die Lüge machte ihr mehr als zu schaffen und jetzt eine erneute Geheimniskrämerei, welche sie aber nur zu gern auf sich nahm. Und sicherlich konnte sie bald alles auflösen! Das war ja immerhin schon etwas.

Nun, am Abend, liest sie seine Nachricht und sie ist absolut geschockt. Er schreibt, er hätte von einem Laden geträumt! Das Geschäft erwähnte sie allerdings in dem Traum nur nebenher in einem Gespräch und daran konnte er sich vollständig erinnern?

Panisch tigert sie durch ihren Garten. Das erste Mal hört sie nicht das sanfte Blätterrauschen der Bäume, lauscht nicht dem späten Gesang der Vögel, sieht nicht die letzten Sonnenstrahlen, die durch die Äste dringen. Stattdessen überlegt sie verzweifelt, wie sie ihm das Ganze erläutern soll. Würde er ihr glauben? Wie soll sie ihm erklären, dass sein Traum eigentlich ihrer war und er sich keine Sorgen machen müsse? Wie viel hatte sie ihm denn überdies übertragen? Etwa wirklich alles? Bei dem Gedanken wird sie wieder rot und kurz darauf kreidebleich. Denn somit wüsste er beinahe alles über sie, wenn er sich nur etwas anstrengt und sich dessen gewahr wird.

Ihre Mutter wüsste Rat, sie könnte ihr mit Sicherheit helfen, aus dieser Misere zu entkommen. Darum hätte sie das schützende Elternhaus auch nicht verlassen sollen, jetzt wird es ihr nach Jahren endlich klar. Niemals hätten sie gegen die Regeln verstoßen sollen und sich einfach ein Leben nehmen dürfen, dass ihnen gar nicht zustand.

Lilith entstammt, genauso wie Sonja, einer uralten Linie von Hexen. Sie selbst würde sich nicht als solche betiteln, aber die Chroniken besagen es ebenso wie ihre Familien. Ihre Ahnenfrauen eigneten sich von Generation zu Generation immer mehr Wissen und Fertigkeiten an, wodurch sie im Laufe der Jahrhunderte sehr mächtig und stark wurden.

Zudem waren sie Protestanten, was Liliths Familie im Jahre 1557 beinahe zum Verhängnis wurde. Die Ketzerjagd wütete zwar sehr kurz, aber unsäglich im damaligen England. Nur mit viel Glück hatten ihre Vorfahrinnen überlebt, indem sie bei unbescholtenen und reichen Bürgern im Nachbarort unterkamen, den Lightons. Das waren keine Geringeren als Sonjas Urahnen.

Ihre Familie wurde nie der Ketzerei bezichtigt, da sie viel Einfluss hatte und großes Ansehen genoss. Sie nahmen die Fairchilds, die bereits davor für sie arbeiteten, bei sich auf und versteckten sie vor den Verfolgern. Allerdings verloren sie dadurch einfach alles. Sowohl ihr Hab und Gut als auch die Tiere und einige entfernte Angehörige. Es war eine enorme Prüfung für diesen Zweig.

Im anschließenden Jahr 1558 waren die Gräueltaten endlich vorbei, ein Machtwechsel im Königshaus begünstigte dies und die Gefahr war schlussendlich gebannt. Zuerst teilten sich die beiden Familien das große Gutshaus, bis Liliths Ahnenfrauen allmählich wieder zu finanziellen Mitteln kamen und einen Teil des enormen Grundstücks erwarben. Seitdem lebten die Lightons und die Fairchilds unzertrennlich Seite an Seite.

Es gab nur wenige Bedingungen, an die sich alle Frauen ihrer Linien halten mussten. Eine davon war, dass sich alle Nachfahren nach einem Kodex richten mussten, auch die männlichen Familienmitglieder bildeten da keine Ausnahme. Der besagte unter anderem, dass keine Hexe ihre Fähigkeiten zu ihrem eigenen Nutzen anwenden durfte. Jede der Vorfahrinnen war schon einmal versucht, dagegen zu verstoßen. Doch da der Zusammenhalt untereinander sehr stark war, konnten die erfahrenen Frauen immer verhindern, dass es zu Schwierigkeiten kam. Und es gab die Regel, dass keiner etwas nach außen tragen durfte, dies konnte nur nach Absprache mit den Ältesten geschehen.

Als Kind stöberte sie gern und viel in der Fairchild-Chronik. Dadurch erfuhr sie, dass, sobald eine Tochter ein Mädchen gebar, sie unbesorgt ihr Elternhaus verlassen konnte. Sie bedurfte ab diesem Zeitpunkt keines familiären Schutzes mehr. Wieso das so war, wusste keiner genau. Es wurde auch nie hinterfragt, schließlich stand es in den Büchern niedergeschrieben und sie lebten Jahrhunderte sehr gut damit. Warum also etwas ändern?

Des Weiteren wurde zu keiner Zeit in den Schriften geklärt, warum alle Frauen ihren Familiennamen behielten und weitergaben. Wahrscheinlich hatte es sich wohl so ergeben und diese Tradition hatte bisher keine Nachfahrin gebrochen. Soweit sie wusste, waren die Männer in ihren Familien keine Hexen, hatten dementsprechend keine Fähigkeiten. Somit fand sie nie etwas über dieses Thema in den Chroniken. Allerdings vermutet sie, dass es auch Männer mit Begabungen gibt, begegnet ist sie leider noch keinem.

Lilith und Sonja waren die Ersten, die ihr Elternhaus aus eigenem Antrieb und entgegen allen Regeln verließen. Das war ein großes Drama, jedoch wollten sie sich nicht weiter an ihre Familien binden. Schließlich lebten sie im 21. Jahrhundert und Kinder waren für beide kein Thema! Dafür mussten sie allerdings schwören, dass sie sich gegenseitig schützen und aufeinander achten würden. Kein Streit dürfte die beiden trennen. Dies wurde auch akribisch in den Büchern festgehalten, obwohl es Lilith sehr merkwürdig vorkam, tat sie es und unterschrieb zudem diese Vereinbarung mit ihrem Blut. Ab diesem Zeitpunkt durften sie nie wieder bewusst ihre magischen Fertigkeiten nutzen.

Jede Hexe verfügt über unterschiedliche Gaben, die nicht strikt vererbt wurden. Einen ausgeprägten sechsten Sinn hatten sie jedoch alle – seit Anbeginn. Sie selbst besitzt telepathische Kräfte, sie kann ihre Gedanken auf andere Personen übertragen, auf die sie ein freies Blickfeld oder zu der sie eine starke Bindung hat. Somit wäre eine Übertragung auf den Sänger theoretisch nicht möglich gewesen, aber da sie sich wochenlang zuvor intensiv Videos sowie Bilder angesehen hatte, könnte sie tatsächlich eine Verbindung mit ihm eingegangen sein.

Solch eine Art von Vereinigung mit einer Person entsteht nur, wenn man sehr starke Gefühle entwickelt, egal ob negative oder positive. Dies konnte sie bisher nur mit ihrer Familie, Sonja und Mia, der sie es nur zur Veranschaulichung zeigte. Bei Ethan hatte sie es nicht getestet, es würde allerdings heute nicht mehr funktionieren, da die Bindung zu ihm aufgehoben ist. Außerdem darf sie es ja auch nicht, denkt sie schmunzelnd. Hingegen entstand die Übertragung auf Chris völlig unbewusst. Niemals hätte sie gedacht, dass sie so starke Gefühle für einen ihr eigentlich Unbekannten empfinden könnte. Aber die Bande zu ihm war da, das steht nun unwiderruflich fest.

Ihre angeborenen telekinetischen Fähigkeiten sind nicht so ausgeprägt. Dazu muss sie sich entweder sehr stark konzentrieren oder starke Emotionen befähigen sie dazu, Gegenstände zu bewegen oder gar zu zerstören – wie die Tasse. Die Wut auf sich selbst hatte sie hierbei übermannt. Theoretisch könnte sie ihre Gabe dazu nutzen, um die Menschen um sich herum zu beeinflussen. Doch sie hält sich, genauso wie die Freundin, an den Kodex. Niemals ist es ihr bisher in den Sinn gekommen, ihre Begabung zu missbrauchen. Damit würde sie auch jetzt nicht anfangen.

Als kleines Kind hatte sie Sonja aus Versehen gedanklich befohlen, ihr ein Spielzeug zu geben, welches diese in den Händen hielt. Damals hatte sie aber noch nichts von ihrer Fähigkeit gewusst, weshalb sie nicht dem Kodex unterlag. Der Freundin passierte es hingegen öfter, dass sich ihre Gabe selbstständig machte. Ihre Empathie war anfangs schwer zu steuern. Immer wieder empfing sie die Gemütszustände der Menschen um sich herum, es machte sie fast wahnsinnig.

Im Teenageralter wurde es sogar noch schlimmer. Die ganzen Schwingungen der Jungs ließen sie so manches Mal verzweifeln. Sie sagte einmal, dass sie es nicht abstellen konnte, das wäre wohl wie beim Gedankenlesen. Ihr Geist wurde mit den Emotionen der anderen überflutet. Jahrelang musste sie lernen und üben, damit umzugehen. Mittlerweile kann sie es auf Knopfdruck an- und abschalten. Aber der Weg dahin war lang und Sonja litt Qualen.

Als sie vor der Konzerthalle standen, spürte sie dieses vertraute Gefühl eher als Lilith. Deshalb erstarrte sie auch sofort, sie hatte die Schwingung einer anderen Hexe empfangen. Dies können alle mit einer Begabung, aber mit ihrer ausgeprägten Empathie war sie dafür noch viel empfänglicher. Selbst wenn die Person dazu in der Lage ist, sich abzuschotten, kann sie sie sofort wahrnehmen. Nur ging diese Hexe beim ersten Aufeinandertreffen in der Menschenmenge unter und auf dem Rückweg zum Auto war niemand zu sehen.

Einfacher war seit Anfang an ihre zweite Gabe zu handhaben - das Hellsehen. Dazu muss sie sich nur etwas anstrengen, um die Ereignisse zu sehen. Aber nicht in der Zukunft, wie manche glauben, sondern sie kann Dinge, die im Moment passieren, betrachten. Dabei ist es egal, wie weit sie sich von dem Ereignis aufhält. Hierfür braucht sie das Bild einer Person vor ihrem inneren Auge oder sie denkt an einen bestimmten Ort. Bisweilen passiert es ihr hin und wieder, dass sie schweißgebadet aus einem Traum erwacht und weiß, was beispielsweise soeben in Venezuela geschehen ist. Auch sie kann ihre Fähigkeit im Schlaf nicht kontrollieren. Das wurde ihr so manches Mal zum Verhängnis, wenn ein Mann neben ihr lag. Denn schließlich wusste dieser in dem Moment nicht, warum sie schreiend oder lachend erwacht.

Manchmal bedauert es Sonja, dass sie nicht die Zukunft einer Person oder gar die Lottozahlen vorhersagen konnte. Im letzteren Fall würde sie aber unweigerlich gegen den Kodex verstoßen, der für sie ebenso wie für alle anderen Hexen gilt. Doch wenn sie über ihr Erbe, ihre Fähigkeiten reden, dann seufzt die Freundin lächelnd auf und wünschte sich, dass sie es könnte.

Von ihren Müttern lernten sie die Kräuterkunde kennen und lieben, wie man die einzelnen Hexenfeste zelebriert, das richtige Räuchern und natürlich auch die Kerzenmagie. All die Dinge eben, die eine Hexe können und wissen muss. Die Natur wird selbstverständlich bis heute geheiligt und wertgeschätzt. Darum findet man gegenwärtig noch Altare in den Wäldern. Und auch sie hält sich so manches Mal an diesen heiligen Orten auf.

Es ist bereits Mitternacht, als sie durchfroren hineingeht. Da sie zu keinem vernünftigen Entschluss kommt, geht sie hinauf, um sich hinzulegen. Im Bett wälzt sie sich noch lange hin und her. Morgen wird sie ihm schreiben, zumindest nimmt sie es sich vor. Mit diesem Gedanken kann sie auch endlich einschlafen.

Aber auch am nächsten Tag findet sie nicht die richtigen Worte, als sie vor ihrem Notebook sitzt und ihm antworten will. Sie befindet sich in einer dermaßen verzwickten Lage, dass sie schlichtweg nicht mehr weiß, was sie machen soll. Am Tag darauf beschließt sie einfach alles zu riskieren und fragt ihn geradeheraus, was er denn geträumt hätte, sie hätte ebenfalls einen verwirrenden Traum gehabt - was ja stimmte.

Seine Antwort lässt auf sich warten. Am Freitag schreibt er ihr endlich zurück. Nervös öffnet sie am selben Abend seine Antwort und liest:

›Hallo Lilith,

es war merkwürdig. Ich hatte von dir geträumt, noch bevor ich dich vor der Konzerthalle traf. Klingt das nicht verrückt? Und du erzähltest mir in diesem Traum, dass du in einem Büchercafé arbeitest, mit Sonja zusammen. Nein, dass ihr eines besitzt. Du kannst dir also meine Verwunderung vorstellen? Was hast du denn geträumt? Ich hoffe doch nicht etwas so Unerklärliches wie ich.

Es tut mir leid, aber ich werde ab morgen Abend für einige Tage nicht mehr online gehen können. Falls du mich also noch unbedingt erreichen willst, dann schreibe mir bis dahin. Ich werde trotzdem versuchen, ein Lebenszeichen von mir zu geben.

Liebe Grüße Chris

PS: Du ‚klingst‘ bedrückt. Ist alles in Ordnung bei dir?‹

Eine Benommenheit überkommt sie, ihr wird schwindlig. Verdammt! Was soll sie jetzt tun? Soll sie ihm einfach die Wahrheit schreiben? Zu gern würde sie nun noch einmal die Chroniken durchblättern, um auf eine Lösung zu kommen. Nur zu gut weiß sie, dass sie es nicht jedem auf die Nase binden kann und darf. Gibt es überhaupt eine Erklärung für solch einen Fall?

Trotz später Stunde ruft sie kurz entschlossen ihre Mutter an, da sie weder vor noch zurück weiß, und schildert ihr, was vorgefallen ist. Eine Zeit lang herrscht Stille am andern Ende. Lilith wird unruhig, ihre Mutter wird ihr doch nicht etwa böse sein?

»Maus, es ist alles Okay. Du hast gegen keine Regel verstoßen, weil du es ganz einfach nicht kontrollieren konntest. Und ob du es ihm sagen willst, ist deine Sache, da gibt es keine Vorschriften, meine Einwilligung hast du. Wenn er so ist, wie du denkst, dann wird er es sicher verstehen. Auch wenn es wahrscheinlich etwas dauern wird. Dein Vater hatte auch sehr lange gebraucht, aber ich muss gestehen, dass wir bereits verheiratet waren, als ich es ihm beichtete. Also kann ich dir da gar keinen uneingeschränkten Rat geben. Natürlich muss der Kodex beachtet werden, kein Außenstehender darf etwas erfahren, außer es wird notwendig. Da du ihm deinen Traum übertragen hattest, er sich auch noch daran erinnert und diesbezüglich verwirrt scheint, solltest du es eventuell aufklären. Aber bitte! Tu es nur, wenn du denkst, dass er danach nichts Dummes anstellt. Du verstehst, was ich meine?«

Gebannt lauscht sie den Worten ihrer Mutter. Im Grunde genommen kann sie ihr nicht wirklich weiterhelfen. Jedoch hat sie ihr tatsächlich beide Möglichkeiten offengelassen. »Ich verstehe, was du meinst. Okay, ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, erwidert sie.

»Wenn etwas vorfällt, dann werden wir das regeln. Melde dich und teile mir mit, wie du dich entschieden hast, Kind!«

»Mache ich, Ma und Danke!« Anschließend legt sie auf.

Zwar ist sie nicht schlauer als zuvor, aber sie weiß nun mit absoluter Sicherheit, dass sie nicht gegen den Kodex verstoßen hat und auch nicht würde, wenn sie es ihm sagt. Ihre Ma verfügt zwar, genau wie sie, nicht über allzu große Kräfte, aber wenn sie diese mit denen ihrer Schwester bündelt, können sie Chris vergessen lassen, dass sie existiert. Das weiß Lilith. Und es wäre zudem kein Eigennutz, sondern zum Schutz der Familie und das wiegt mehr als alles andere.

Trotzdem fragt sie sich, ob es nicht besser wäre, den Kontakt zu Chris einfach abzubrechen, um Schlimmeres zu verhindern. Aber wie sollte es anschließend weitergehen? Sie könnte doch dann niemals einem Mann alles anvertrauen, aber irgendwann müsste sie es, wenn sie eine Beziehung aufbauen möchte. Ihre Vorfahren hatten es ja auch alle irgendwie geschafft! Es kann also nicht so schwer sein. Aber wahrscheinlich ist auch genau das der indirekte Grund, warum sie keine Bindung mehr eingeht.

Sie überlegt, ob sie ihm heute noch schreiben oder lieber warten sollte, damit er erst nach seiner Klettertour ihre Erklärung liest. Was wäre passender? Falls er es davor liest, hat er genügend Zeit, um es sich durch den Kopf gehen zu lassen, bis er sich wieder melden kann oder sogar mit ihr zu brechen, wenn ihm das lieber wäre. Oder sollte er es erst danach lesen, um ihm nicht die Tour zu vermiesen? Und ihn damit weiter auf Abstand zu halten.

Nach einigem Hin und Her entscheidet sie, dass sie ihm sofort die Wahrheit schreiben sollte. Irgendwann muss sie sich tatsächlich einem Mann offenbaren, also warum nicht ihm und gleich? Klar, sie hätte sich wirklich einen gewöhnlicheren Typen dafür aussuchen können, aber wo die Liebe eben hinfällt und ihre Gabe hat sie regelrecht zu ihm geführt. Das muss also ihr Schicksal sein, somit setzt sie sich hin und beginnt beherzt zu schreiben.

›Hallo Chris,

ja ich bin tatsächlich etwas niedergeschlagen. Ich möchte auch gar nicht weiter um den heißen Brei herumreden. Ich habe das Gleiche geträumt wie du, weil es schlichtweg mein Traum war. Ich kann es dir nicht auf diesem Wege erklären und vor allem nicht schriftlich. Aber so viel sei gesagt, es war nicht meine Absicht! Das war auch der Grund, warum ich bei eurem Eintreffen an der Halle davongestürmt bin. Bitte verzeih mir. Ich will dir auch bestimmt keinen Schrecken einjagen!

Wenn du dich nun nicht mehr melden möchtest, fände ich das zwar schade, aber ich könnte es wirklich verstehen. Eine Bitte hätte ich allerdings, auch wenn das wohl egoistisch klingen mag, bitte erzähle es niemanden.

Ich weiß, dass das für dich sehr unwirklich scheinen mag und dich wohl noch mehr verwirrt, aber ich will und kann es nicht weiter verheimlichen.

Liebe Grüße Lilith

PS: Ich wünsche euch viel Vergnügen auf eurer Tour und hoffe trotz allem, dass du dich meldest.‹

Hastig schickt sie den Text ab, bloß nicht noch einmal durchlesen. Als ob sie somit weitere Konsequenzen verhindern könnte.


Bitter Elation

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