Читать книгу Bitter Elation - Fae Clarke - Страница 8

Das Erwachen

Оглавление

V

erstört blickt sie auf die Scherben der geborstenen Tasse. Der restliche Kaffee tropft auf den kühlen Fliesenboden. Dieses platschende Geräusch kommt ihr wie ein eindringliches Hämmern auf einem Amboss vor; ein Traum … tropf … ein Wunschtraum … tropf …

Sie presst ihre Finger an die pochenden Schläfen. Das kann alles nicht wahr sein! Wieso passiert das ausgerechnet ihr? Und warum so realistisch? Aufseufzend greift sie zum Küchentuch und wischt die schwarze Brühe auf. Dabei muss sie immer wieder an diesen verflixten Traum denken:

Mit Sonja ist sie ohne Eintrittskarten zum Konzert nach London gefahren und durch einen außergewöhnlichen Umstand wurden sie von Chris, dem Sänger höchstpersönlich zu dem Auftritt eingeladen. Bereits Backstage funkte es bei ihr und auch er hat deutliches Interesse an ihr gezeigt. Als der Abschied nahte, wurden die beiden Freundinnen überraschend eingeladen, im Hotelzimmer der Band zu übernachten - sie blieben drei Nächte. Lilith und Chris wurden in dieser kurzen, aber sehr aufregenden Zeit ein Liebespaar.

So etwas konnte doch auch nur ein Traum sein, schilt sie sich. Je länger sie darüber nachdenkt, desto mehr wird ihr bewusst, dass es genügend Hinweise gab, die sie im Nachhinein stutzig machen sollten. Warum hat sie diese Zeichen nicht als solche erkannt?

Da war zum Beispiel der Satz des Gitarristen: »Wir sehen uns schneller wieder, als du denkst.« Was hatte das zu bedeuten oder interpretiert sie da einfach nur zu viel hinein? Und was war mit der verschwommenen Sicht? Manchmal hatte sie das Gefühl, als würde sich alles in Nebel auflösen. War sie dabei kurz vor dem Erwachen? Das würde zumindest so einiges erklären.

Wie dumm und naiv von ihr zu glauben, dass das alles real wäre, als ob sich ein bekannter Sänger mit ihr einlassen würde! Aber sie weiß auch, dass sie gegen ihr Unbewusstsein nichts ausrichten kann, es ist schier unmöglich einen Traum zu steuern, zumal sie diesen Chris tatsächlich unglaublich anziehend und faszinierend findet.

Vor acht Jahren hörte sie in einem Indie-Club zum ersten Mal ein Lied der Band und war auf der Stelle hin und weg, vorwiegend wegen seiner klaren, hohen Stimme. Sofort erkundigte sie sich bei dem DJ nach dem Namen der Gruppe. In den darauffolgenden Tagen kaufte sie direkt die beiden veröffentlichten Alben und nur wenige Monate später besuchte sie ein Konzert der bis dahin noch relativ unbekannten Jungs.

Lilith genoss die familiäre Atmosphäre in der kleinen Veranstaltungshalle nahe ihrer Heimatstadt. Seine Bühnenpräsenz war einfach unglaublich und er sah so verdammt gut aus, noch besser als auf den Fotos, die sie bis dahin angeschaut hatte. Er wirkte schüchtern und doch zog er alle im Saal in seinen Bann, ebenso wie sie.

Der kommerzielle Durchbruch kam nach knapp einem Jahr, aber er hob selbst dann nicht ab. In den vielen Interviews, die sie natürlich so gut wie alle mitverfolgte, gab er sich stets charmant, witzig und vernünftig. Je öfter sie ihn sah und ihm zuhörte, desto mehr nahm er einen Platz in ihrem Herzen ein. Aber verliebt? Niemals!

Sie wollte nie zu viel über ihn recherchieren, irgendwie fühlte sie sich dabei unwohl, in dem Privatleben des heute 34-Jährigen herumzustochern. Nichtsdestotrotz weiß sie, dass er kinderlos ist und derzeit von seiner Frau, einer erfolgreichen, bildschönen Malerin, getrennt lebt. In der Presse wird viel gemunkelt, doch das interessiert sie nicht wirklich. Es geht niemanden etwas an, findet sie.

Immer wieder wollte sie auf eines der mittlerweile großen und leider schnell ausverkauften Konzerte, doch sie konnte es zeitlich nie einrichten. Und wenn sie es in Erwägung zog, gab es schon keine Tickets mehr. Das Geschäft nahm sie zu sehr in Anspruch. Aber nun hat sie es endlich geschafft! Dieses Mal konnte sie rechtzeitig zwei Karten ergattern und sorgte bereits im Vorfeld dafür, dass alles geklärt wäre, wenn sie hinfahren würde. Dafür saß sie während ihrer Arbeitszeit vor dem PC und schlug sofort nach Freigabe der Tickets zu. Was auch gut war, denn bereits nach nur wenigen Minuten waren wieder alle restlos ausverkauft.

Warum schmerzt es nur so sehr? Sie reibt sich den Brustkorb, als ob diese Handbewegung alles wegwischen könnte. Seufzend und tief durchatmend richtet sie sich auf. Was solls! Es war lediglich ein Traum und damit muss sie fertig werden. Letztendlich wird sie sich damit abfinden müssen, dass er sie niemals ansprechen würde. Warum sollte er das auch tun?

Dumm nur, dass sie den Rest nicht unter Kontrolle hatte. Solch ein Vorfall passiert ihr so gut wie nie, immerhin war es bloß ein Gefäß und es ist glücklicherweise nichts Schlimmeres geschehen. Missmutig wirft sie das durchtränkte Küchentuch in den Mülleimer, die Scherben fliegen im hohen Bogen hinterher.

Kopfschüttelnd über ihre eigene Dummheit schenkt sie sich erneut eine Tasse ein. Am Kaffee nippend überlegt sie, ob sie … Nein! Niemals ist ihr das passiert, das darf nicht passiert sein! Schnell wischt sie den aufkommenden Gedankengang fort. Denn wenn sie weiter darüber nachdenken sollte, kann das richtig böse enden.

Das Klingeln an der Haustür unterbricht zum Glück jede weitere unsinnige Überlegung. Lilith blickt auf die Uhr, es ist kurz vor elf und sie ist noch nicht umgezogen. Immerhin ging sie beim Aufwachen davon aus, dass sie arbeiten würde. Deshalb hat sie noch immer ihre Alltagskleidung an.

Als sie die Tür öffnet, begrüßt Sonja sie überschwänglich. »Wieso bist du noch nicht fertig?«, fragt diese überrascht und blickt an ihr herab.

Auf die Schnelle erzählt sie ihrer Freundin von dem Traum, während sie in die Küche hinübergehen, lässt allerdings die pikanten Details aus und reißt nur grob ihre Überlegungen dazu an. Diese hört ihr schweigend zu und denkt nach, bevor sie entgegnet: »Mach dir mal nicht so viele Sorgen! Es wird schon nichts passiert sein. Und ehrlich gesagt wundert es mich nicht, dass du so etwas träumst. So wie du dich in letzter Zeit hineingesteigert hast. Es gab ja nur noch Chris hier, Chris da und … das bevorstehende Konzert. Nun mach dich erst einmal fertig und denk nicht weiter darüber nach!«

Während Sonja sich einen Kaffee einschenkt, eilt Lilith in ihr Schlafzimmer hinauf, um sich umzuziehen. Dabei spukt ihr der Sänger weiterhin im Kopf herum – und die Dinge, die sie miteinander … Abrupt stoppt sie diesen Gedankengang und schmunzelt vor sich hin. Hastig kleidet sie sich weiter an, vor allem, um sich selbst abzulenken.

»Na das ging ja schnell!«, meint die wartende Freundin, als sie nach wenigen Minuten wieder in der Küche steht. »Dann können wir ja doch gleich losfahren!«

Flugs greift sie nach den Konzerttickets und schiebt sie in ihre Tasche. »Ja, wir können los!«

Die Sonne scheint warm auf die beiden herab, als sie das Cottage verlassen. »Was für ein wundervoller Tag!«, lässt sie verlauten und steigt in Sonjas roten Polo.

»Was will man mehr«, erwidert diese und fährt los, nicht ohne die Musik laut aufzudrehen.

Kurzzeitig schießen ihr die pikanten Szenen des Traums durch den Kopf, doch sie bleibt ganz ruhig. Immer wieder redet sie sich ein, dass es nur ihre Fantasie ist, die ihr niemand nehmen kann. Nun hat sie immerhin ein kleines, intimes Geheimnis für sich ganz allein. Ob er tatsächlich … Nein, daran will sie jetzt nicht denken. Jählings reißt sie sich zusammen und blickt nach links auf die Landschaft.

Sie verlassen Landsbury und schon bald ist das Meer nicht mehr zu sehen. Allmählich rücken auch ihre verrückten Überlegungen in den Hintergrund, denn nach und nach wird ihr vollends bewusst, dass heute das finale Konzert der großen Welttournee in London stattfindet. Ein Kribbeln im Bauch kündigt schlagartig die Vorfreude an. Erst jetzt erinnert sie sich auch daran, dass sie gestern Nacht lange nicht einschlafen konnte. Viel zu aufgeregt war sie gewesen.

Die Veranstaltung vor acht Jahren war bereits fantastisch, aber das ist sicherlich nichts im Vergleich zu den heutigen Events. Denn das, was sie in den aktuellen Konzertmitschnitten gesehen hatte, war einfach grandios. Zugegeben, ein bisschen ist sie schon auf ihn gespannt. Mittlerweile strahlt er auf der Bühne eine unheimliche Selbstsicherheit aus, agiert viel mehr mit den Fans als damals. Lilith kann es kaum erwarten, endlich an der Halle anzukommen.

»Na? Aufgeregt?«, fragt die Gefährtin sie amüsiert.

»Und wie! Ich bin so gespannt!«

Grinsend legt Sonja die aktuelle Scheibe ein. Kaum ertönt seine Stimme, singen beide aus vollem Hals mit.

Ob er tatsächlich so charmant wie in ihrem Traum ist, oder war das nur ihr Wunschtraum? Aber das wird sie wahrscheinlich nicht herausfinden. Außer … Nein! Erneut versucht sie den weiteren Gedankengang wegzuwischen. Daran darf sie nicht einmal annähernd denken! Schließlich ist sie kein Teenager mehr. Schnell blickt sie aus dem Fenster, um sich abzulenken.

Allmählich nähern sie sich der Hauptstadt, sie war schon lange nicht mehr da. Es gab, seitdem sie in dem idyllischen Küstenstädtchen lebt, nichts, was sie nach London gezogen hätte. Die Hektik der Großstadt ist ihr mittlerweile zuwider. Als Jugendliche wollte sie immer wieder hierher und nutzte jeden Schulausflug dazu. Damals hätte sie sich sogar vorstellen können, in dieser riesigen Stadt zu leben. Lilith schmunzelt, als sie an ihre Mutter denkt, die verzweifelt versuchte ihr das Ganze auszureden und bei ihr zu bleiben - mit Erfolg. ›Ach, Ma, wie recht du doch hattest.‹

Trotz allem beschlossen Sonja und sie vor knapp sechs Jahren ihr Elternhaus zu verlassen. Irgendwann wollten die beiden ebenso wie jeder andere Mensch auf eigenen Füßen stehen. Monatelang suchten sie nach dem passenden Fleckchen Erde für sich. Obwohl ihre Mütter es nicht gern sahen, dass sie wegziehen wollten, unterstützten sie sie dabei. Manchmal vermissen sie ihre Familien noch heute. Regelmäßig telefonieren sie miteinander, um sich Ratschläge einzuholen oder einfach nur, um mit ihnen zu reden und die wohlvertrauten Stimmen zu hören.

Als sie sich wieder auf die Umgebung konzentriert, bemerkt sie, dass sie sich bereits mitten in London befinden, so sehr war sie in den Erinnerungen versunken. Sie blickt auf ihre kleine silberne Uhr. Es ist erst kurz vor vier.

»Wir sind ja viel zu früh dran. Was machen wir in der ganzen Zeit bis zum Konzert?«, fragt sie neugierig.

»Zuerst müssen wir mal einen Stellplatz finden. Wer weiß, wo wir das Auto abstellen müssen! Danach sehen wir weiter.«

Bereits jetzt kann sie die Kuppel der Halle erkennen. Gleich sind sie da! Ihr Herz beginnt zu rasen, ihre Handflächen werden feucht. Noch nie war sie in der Royal-Albert-Hall gewesen. Die Bilder vom Inneren der Location haben sie sofort begeistert. Hoffentlich hat sie die richtige Wahl mit der Loge getroffen. Lieber wäre sie unten im Saal gewesen, um die Band zu feiern, doch die Stehplätze waren innerhalb von Sekunden ausverkauft gewesen und sie hatte doch etwas zu lang gezögert.

Sonja fährt auf einen der überfüllten Plätze. Kein freier Stellplatz mehr zu sehen, fluchend sucht sie weiter. Auf dem dritten angefahrenen Parkplatz finden sie endlich eine winzig kleine Lücke. So schnell hat sie wahrscheinlich noch nie eingeparkt. Glück gehabt, denn als sie aussteigen, suchen bereits die Nächsten eine Parklücke.

»Das ging ja grade noch einmal gut«, meint die Freundin erleichtert. »Die Location muss ja völlig überfüllt sein!«

Langsam schlendern sie zwischen den Häusern Richtung Konzerthalle, obwohl sie am liebsten rennen würde. Aber wozu? Der Einlass findet erst in einer Stunde statt.

»Was machen wir denn jetzt noch?«, fragt Lilith erneut. Gleichzeitig entdeckt sie von weitem Kensington Gardens und deutet darauf. »Lass uns doch noch etwas spazieren gehen.«

»Gute Idee!«

Kaum schlendern sie am Seiteneingang des Rundbaus vorbei, fährt ein riesiger schwarzer Bus vor. Neugierig schaut sie auf und entdeckt den Schriftzug Bitter Elation. Es ist der Tourbus! Plötzlich wird ihr heiß und kalt zugleich, das Blut schießt ihr ins Gesicht und färbt ihre Wangen wahrscheinlich umgehend knallrot. Tief durchatmend hebt sie den Blick zu den Fenstern und erstarrt. Irgendetwas lässt sie eine der schwarz getönten Scheiben fixieren, obwohl sie logischerweise dahinter nichts sehen kann, während Sonja sie mit sich weiterzieht. Das ist auch gut so - denn kaum hält der Bus, stürmen bereits die ersten Fans herbei, um ein heiß begehrtes Autogramm zu ergattern.

»Willst du warten? Soll ich versuchen ein Autogramm für dich zu bekommen?«, fragt die Gefährtin, die noch immer innerlich erstarrte Lilith.

Diese schüttelt den Kopf und geht langsam rückwärts weiter. Zu faszinierend ist der Anblick, als sich die Tür geräuschlos öffnet und ein Bandmitglied nach dem anderen aussteigt. Der Sänger verlässt als letztes den Bus. Wie angewurzelt bleibt sie stehen.

Obwohl sie sich bereits etliche Meter vom Bus entfernt haben, kann sie erkennen, dass er sie sofort fixiert und sie regelrecht mustert. »Sag mir bitte, dass ich mich täusche«, flüstert sie, unterdessen sie nicht aufhören kann ihn weiter anzustarren.

»Nein, du täuschst dich wirklich nicht, außer wir brauchen beide eine Brille. Ja, er schaut dich tatsächlich an.«

Dann wendet er endlich den Blick von ihr ab. »Lass uns von hier verschwinden!«, sagt Lilith beinahe erleichtert und zieht an Sonjas T-Shirt.

»Warte!«, sagt diese auf einmal und nun ist sie diejenige, die einen Punkt in der Menge vor sich fixiert.

»Was ist los?«

»Ich weiß es nicht genau, aber irgendetwas ist da. Ich kann es nicht beschreiben. Aber es fühlt sich … vertraut an«, antwortet sie.

Sofort betrachtet sie ebenfalls aufmerksam die Menschenansammlung und plötzlich nimmt auch sie das unbekannte und dennoch vertraute Gefühl wahr. »Was ist das?«

»Ich weiß es nicht. Aber es ist verdammt stark! Los lass uns gehen!«, sagt die Freundin hastig.

Noch immer versucht Lilith die Ursache der Empfindung zu ergründen und erkundet noch einmal rasch die Menge. Da erblickt sie den Sänger erneut. Abermals mustert er sie und sie bemerkt einen Funken des Wiedererkennens in seinen Augen. »Oh nein! Was habe ich getan?«, stammelt sie bestürzt.

Schnell dreht sie sich herum und die beiden eilen über die breite und stark befahrene Hauptstraße, in den Park. An einer Parkbank halten sie endlich an und setzen sich, um zu verschnaufen.

»Was ist denn los, Süße?!«, fragt Sonja sie besorgt.

Sie kann es aber nach wie vor nicht begreifen, immer wieder stammelt sie: »Er hat mich erkannt! Was habe ich getan?«

»Nichts Schlimmes, nichts Böswilliges und vor allem war es keine Absicht, oder?«, versucht die Begleiterin sie zu beruhigen. »Es war dein Unbewusstsein, das kannst du im Schlaf nicht so einfach steuern! Vergiss es, okay?«

Es war also nicht nur eine Tasse gewesen, im Gegenteil - sie hatte wirklich komplett die Kontrolle verloren und war sich dessen bis gerade eben nicht einmal bewusst.

»Das darf mir nicht passieren!«, presst sie hervor.

»Das darf niemandem passieren, aber du konntest ja nichts dafür, Süße! Ich flehe dich an: Vergiss es, denk nicht mehr darüber nach! Du weißt, was sonst passieren kann.«

Lilith ist froh jemanden an ihrer Seite zu haben, mit dem sie über ihr Geheimnis sprechen kann. Sie nimmt allen Mut zusammen und erzählt ihr von der geborstenen Tasse. Die Freundin schaut sie wie vom Blitz getroffen an.

Nach einer Weile sagt sie: »Okay. Das hättest du mir heute Mittag erzählen sollen. Aber gut, das tut nun auch nichts mehr zur Sache. Konzentrier dich, mach es wie immer, dann geht es dir auch wieder besser!«

»Was meinst du, ob er mich tatsächlich erkannt hat oder hatte er nur eine Art Déjà-vu?«, hakt sie noch einmal nach.

»Wahrscheinlich hat er nur einen Verdacht. Ich glaube nicht, dass er wirklich weiß, wer du bist«, entgegnet Sonja. »Mach dir mal keinen allzu großen Kopf darum.«

Wenn es nur so einfach wäre! Immerhin war der Traum teilweise ausgesprochen leidenschaftlich. Erneut errötet sie leicht. Ungern muss sie zugeben, dass er zumindest einen Teil davon geträumt haben muss. Es ist ihr unendlich peinlich und würde sich wünschen, dass sich der Boden unter ihren Füßen auftun würde, um sie mit sich zu reißen. Aber ihre Süße hat recht.

Tief durchatmend fixiert sie die vor ihr spielenden Kinder. Allmählich wird sie ruhiger, das Zittern lässt nach, ihr Herz rast nicht mehr so heftig. Sie greift in ihre Tasche und holt ihre Zigaretten heraus. Während sie raucht, genießt sie die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und schließt für kurze Zeit ihre Augen. Ein leichter Wind fährt durch die Zweige der Bäume um sie herum und lässt die Blätter leise rascheln. Erst jetzt nimmt sie auch das Vogelgezwitscher, die lachenden Kinderstimmen und die sich unterhaltenden Spaziergänger wahr.

Ihr wird klar, dass sie nichts mehr ändern kann. Was passiert ist, ist passiert! Mit dieser Einsicht verbessert sich ihre Gemütsverfassung von Minute zu Minute. Etwas weiter entfernt spielen Jugendliche lautlachend Frisbee. Schmunzelnd erinnert sie sich an das Spiel am See in ihrem Traum. Ob die Bandmitglieder das wirklich tun würden - so einfach mit fremden Frauen ausgelassen herumzutoben?

Daraufhin schaut sie sich neugierig um. Für einen Wochentag herrscht reges Treiben in dem Park und das am frühen Nachmittag. Etliche Mütter sitzen auf den Bänken, manche mit Kinderwagen vor sich und lassen ihre Kinder miteinander tollen. Radfahrer sausen an ihnen vorbei und einige lümmeln tatsächlich leicht bekleidet auf den weitläufigen Wiesen, ähnlich wie sie es sich in ihrem Traum ausgemalt hatte. Sie lag also gar nicht so falsch, aber sicherlich sieht es in fast allen Parks auf der Welt bei solch einem großartigen Wetter aus.

Sonja meint auf ihre Uhr blickend: »Wir sollten langsam hinübergehen.«

Zustimmend erhebt sie sich und hakt sich bei der Freundin unter. Während sie zum Haupteingang zurückbummeln, unterhalten sie sich und nach und nach gewinnt sie ebenso an Sicherheit zurück. Der Besucherstrom vor der Halle hat nachgelassen, da sie länger im Park saßen als gedacht. Am Eingang zeigen sie ihre Tickets vor und betreten das großartige Bauwerk. Im Inneren des Gebäudes müssen sie sich durch die Massen kämpfen, um sich an einer der ewig langen Warteschlangen an der Bar anzustellen.

Als sie endlich ihre Getränke in den Händen halten, gehen sie zu ihrer Loge im zweiten Stockwerk hinauf. Dort sitzen bereits drei sehr junge Frauen oder eher Mädchen, die sich angeregt unterhalten und die beiden Freundinnen gar nicht beachten. Diese gehen nach vorn an die Brüstung und setzen sich auf ihre Plätze. Es war eine sehr gute Idee, sich die Sitze direkt am Geländer zu sichern.

Ihre Loge befindet sich linker Hand der Bühne und bietet eine fantastische Sicht auf die Tribüne und den gesamten Saal. Die Sessel und Logenwände sind mit rotem, etwas verschlissenem Samt bezogen. Sie fährt über den warmen, weichen Stoff, trotz der Risse und des Abriebs wirkt er noch edel. Überwältigt blickt sie sich im Saal um, als sie dabei nach oben schaut, entdeckt sie die riesigen Lampen, die die Kuppel zieren. Die riesige Orgel, die eigentlich im Hintergrund der Bühne thront, wurde mit einem übergroßen schwarzen Vorhang abgehängt.

Aufgeregt rutscht sie auf ihrem Stuhl herum. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir wirklich hier sind. Das wird bestimmt großartig!«, sagt sie kichernd. Sie fühlt sich in diesem Moment wie ein Teenager und nicht wie 32. Sonja stimmt ihr auflachend zu. Auch sie ist nervös, was für sie wirklich ungewöhnlich ist. Allerdings hat sie, im Gegensatz zu ihr, die Band noch nie live gesehen.

Da wird das große Licht abgeschaltet und die Vorband betritt die Bühne. Sofort erstrahlen die Scheinwerfer. Mit einem Mal verstummt das laute Stimmengewirr der Zuschauer und wird von einem tosenden Applaus abgelöst. Lilith kennt die Band nicht, aber sie klingen gut. Sofort ist sie im Konzertfieber und vergisst für eine ganze Weile, wen sie bald live singen hören wird.


Bitter Elation

Подняться наверх