Читать книгу Jamil - Zerrissene Seele - Farina de Waard - Страница 5

Prolog

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Niemals hatte Jamil damit gerechnet, dass seine Verlobung mit Lezana ein Inferno solchen Ausmaßes auslösen würde.

Jetzt zerrte er seine Mutter aus dem beißenden Rauch und stolperte hustend mit ihr die Treppe hinunter. Sie verließen ihr brennendes Haus durch den Seiteneingang und stießen dort auf Jamils Bruder, den eine wild zusammengewürfelte Gruppe verängstigter Menschen umringte.

Als Balor einige der Männer anwies, wie sie ihre Armbrüste einsetzen sollten, wurde Jamil mit Schrecken klar, dass nicht einer von ihnen der Stadtwache angehörte. Balor war von der Mauer zurückgekehrt, ohne ernsthafte Verstärkung mitzubringen.

Schmerzensschreie und verzweifelte Rufe schallten über die Gebäude, hinter denen schwarze Rauchsäulen in den sternenklaren Nachthimmel aufstiegen.

Das Brüllen des angreifenden Heeres erfüllte die Luft und wurde mit dessen Nahen immer lauter. Weinende Frauen umklammerten ihre Kinder, flohen aus den Häusern, ohne zu wissen, wo sie vor der Verheerung Schutz finden sollten.

Die ganze Stadt versank vor ihren Augen in Chaos und Feuer.

Navenne strauchelte, vom Anblick der Zerstörung völlig übermannt, doch Jamil fing ihren Blick und holte sie ins Hier und Jetzt zurück.

Der funkenstiebende Himmel spiegelte sich in ihren glänzenden Augen, als sie ihm endlich wieder zuhörte.

»Mutter, du musst diesen Leuten helfen! Flieht zum Hafen und versteckt euch dort am Wasser! Notfalls klettert unter die Piers und seid ganz still. Wir versuchen, sie aufzuhalten!«

Navenne nickte zitternd, als er ihr ein Messer in die Hand drückte. Jamil wusste, dass sie als Schreiberin bisher noch nie eine Waffe eingesetzt hatte. »Ich werde Vater suchen. Du bist die Frau des Rätors, also führe diese Leute! Wir treffen uns am Hafen, hast du verstanden?«

Als sie nicht sofort reagierte, schloss er ihre Finger um den Messergriff. »Alles wird gut. Jetzt geht!«

Seine Mutter versteifte sich, dann rannte sie mit den anderen Frauen und Kindern die dunkle Allee entlang und verschwand über den Hügel, hinter dem der Hafen lag. Jamil wandte sich an seinen Bruder, der den zurückgebliebenen Männern weitere Anweisungen gab.

Ein Junge kam durch die rauchverhangene Straße auf sie zugestolpert, das Gesicht rußverschmiert und voller Schrammen. Er blieb keuchend vor ihnen stehen und deutete die Straße hinab. »Die Verteidigung ist gefallen. Die Grauen stürmen die Stadt und erschießen jeden mit ihren Gewehren!«

Tränen traten dem Jungen in die Augen. »Ich muss meine Eltern finden!«, flehte er und rannte Hals über Kopf in Richtung des Lärms.

»Warte!«, brüllte Jamil ihm hinterher, doch da verschwand der Junge schon um die Straßenecke – und Schüsse krachten durch die dunklen Gassen.

Jamil widerstand mühsam dem Impuls, dem Unglücklichen nachzueilen und half stattdessen seinem Bruder. Balor scharte die wenigen Bewaffneten um sich. »Wir brauchen Barrikaden! Die Karren da! Werft sie um!«

Im Augenwinkel sahen sie, dass am unteren Ende der Straße die ersten Feinde auftauchten. In ihren grauen Uniformen und mit den dunklen Metallplatten und Helmen glichen sie eher Geschöpfen aus Schreckensgeschichten als Menschen, denen man etwas entgegensetzen könnte.

Zum ersten Mal bereute Jamil es, dass ihre Handelsstadt sich nie auf die Weiterentwicklung von Schusswaffen spezialisiert hatte. Bisher hatten sie nur Armbrüste für die Jagd oder auf der Stadtmauer zur Abschreckung eingesetzt.

Er packte mit an und in ihrer Verzweiflung fanden sie gemeinsam die Kraft, die Wagen umzustürzen. Darauf geladene Fässer polterten die abschüssige Pflasterstraße hinab und prallten splitternd gegen die Soldaten, die gerade ihre Gewehre angelegt hatten.

Tausend Gedanken schossen Jamil durch den Kopf, während sie sich hinter den dicken Bohlen und Streben des Karrenbodens in Sicherheit brachten.

»Wo sind Lezana und ihre Familie?«, fragte er seinen Bruder, doch der bittere Ausdruck auf dessen Gesicht sprach Bände. Balor biss sich auf die Lippe und wirkte einen Moment so, als leide er mehr, als Jamil es jemals könnte.

»Sie … sie haben es nicht geschafft«, stammelte Balor und wurde dabei ganz blass. »Es tut mir leid! Die Soldaten waren auf einmal überall auf dem Handelsplatz beim Stadttor und überfielen die Wachen und …«

Jamil spürte eine eisige Kälte in seiner Brust, die rasch zu einem schmerzhaften Knoten wurde. Er hatte seine Verlobte zwar nicht geliebt, aber einer ausgehandelten Heirat so zu entgehen, hätte er sich niemals gewünscht. Er wollte immer alles tun, um seiner Familie und ihrem Stadtstaat zu dienen. Die Verlobung mit der Königstochter war eine Abmachung gewesen, die ihre Handelsbeziehung stärken sollte … und von ihren jetzigen Angreifern als folgenschwerer Bündnisbruch aufgefasst wurde.

Es wollte nicht zu ihm durchdringen, dass Lezana jetzt tot sein sollte. Einfach so? Ihr unschuldiges, sanftes Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, ihr Anblick, als sie mit ihren Eltern aus dem zerschlagenen Königreich zu ihnen floh und um Schutz bat. Die Grauen Soldaten hätten sie damals ohne zu zögern getötet. Die Flucht zu ihnen nach Kas’Tiel war ihr letzter Ausweg gewesen … und besiegelte ihr Schicksal ebenso wie das der Handelsstadt.

Als er sich endlich von den Erinnerungen losreißen konnte, war Balor schon nicht mehr neben ihm, sondern kommandierte die Verteidigung.

»Schießt!«, brüllte er über den Lärm des Schlachtengetümmels hinweg und schickte damit einen kleinen Schauer aus Bolzen auf die Angreifer. Rufe bellten durch die Straßen, die Grauen Soldaten hoben wie ein Mann ihre Schilde. Dennoch fielen einige getroffen zu Boden.

Balor wollte etwas befehlen, duckte sich dann aber rasch hinter den umgestürzten Karren neben Jamil, als ihr Beschuss erwidert wurde. Das Krachen der Gewehre und der einschlagenden Kugeln erfüllte die Häuserschlucht und fällte einen nach dem anderen in ihrer kleinen Verteidigungslinie, bevor die restlichen die Flucht ergriffen.

Holzstücke flogen durch die Luft, als die Geschosse durch den Wagenboden schlugen und die Brüder hinter den Streben nur um Haaresbreite verfehlten. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie allein, umgeben von sterbenden jungen Männern und fallengelassenen Armbrüsten.

Balors Verteidigung war vernichtet, das wurde Jamil schneller bewusst als seinem jüngeren Bruder, der gerade aufsprang und einen Bolzen nachlud.

»Wir können sie nicht mehr aufhalten! Selbst wenn du im Alleingang zehn erschießt, kommen hundert neue von der Stadtmauer. Sie werden unsere lächerliche Verteidigung einfach überrennen!«, brüllte er über die Schüsse hinweg – da riss eine Explosion allen Lärm mit sich und schleuderte die beiden mit einer Druckwelle gegen den Karren. Brennendes Stroh, Holz und Ziegelsteine regneten auf die Straße, als auf der anderen Seite mehrere Häuser in einem Feuersturm auseinandergerissen wurden. Ein Balken krachte direkt neben ihnen zu Boden, Staub und Rauch verhüllten einen Moment lang die Umgebung.

Jamils Ohren klingelten und er klopfte sich hustend brennendes Stroh von den Schultern, bevor er die Trümmer eines Balkens von Balor hob. Sein Bruder war benommen, schien aber unverletzt, als Jamil ihn auf die Beine zog und einen kurzen Blick durch eines der Löcher im Karren wagte.

Die grauen Soldaten hatten sich schneller aus ihrer Starre befreit, eilten formiert die Straße entlang auf sie zu.

Eine weitere Explosion erschütterte den Grund und ließ die restlichen Fensterscheiben der sie umgebenden Häuser bersten. Balor schreckte auf und kam wieder zu sich, spannte seine Armbrust und schoss den letzten Bolzen. Die Spitze schlug in die Brust des ersten Soldaten, der gerade über den umgestürzten Wagen auf sie zusprang.

Der Angreifer brach zusammen und Rufe hallten zu ihnen, die den anderen befahlen, sich Deckung zu suchen. Scheinbar hatten sie geglaubt, dass auf ihrer Seite niemand mehr am Leben war.

»Wir müssen hier weg!«, zischte Jamil und packte Balor am Arm, doch sein Bruder riss sich los und zog dem toten Soldaten das Gewehr aus den Händen.

Er gab brüllend einen Schuss ab, der ihm die Waffe gegen die Schulter presste, und tastete dann fluchend den Toten nach Schießpulver und weiteren Kugeln ab.

»Lass das, Idiot!« Jamil zerrte ihn auf die Beine und hinter sich her. Die Straße vor ihnen war von Schutt und Balken versperrt, also trat er eine Tür auf ihrer Seite ein und stieß seinen Bruder in den dämmerigen Eingang. Er schlug die Tür hinter sich zu und verbarrikadierte sie mit einem Stuhl, auch wenn das kaum helfen würde.

Balor war mittlerweile wieder bei Sinnen und suchte mit ihm nach einem zweiten Ausgang. Gemeinsam eilten sie in den fremden Innenhof, in dem ein kleiner Gemüsegarten unter Schutt begraben lag.

»Diese verfluchten Bomben!«, murmelte Balor und ballte die Fäuste.

»Weiter!«, befahl Jamil und deutete auf eine gegenüberliegende Tür, die hoffentlich auf die Nachbarstraße führen würde. »Wir müssen zum Hafen, das ist unsere einzige Chance!«

»Wir können die Stadt nicht aufgeben! Was ist mit Vater? Wie sollen wir ihn finden?«, fragte Balor, während Jamil sich gegen die Tür warf und den Schmerz in seiner Schulter ignorierte, als sie aus dem Schloss brach.

»Ich lasse nicht zu, dass du ihn auf eigene Faust suchst. Wir helfen den Überlebenden im Hafen!«

Sein Bruder folgte ihm fluchend und sie stolperten durch das fremde Haus auf die nächste Straße, die zu ihrer Erleichterung verwaist war.

Obwohl der Lärm der Zerstörung die ganze Stadt erfüllte, war ihre Umgebung gespenstisch leer. Einen Moment lang hatte Jamil die Hoffnung, dass hier alle hatten fliehen können – dann fiel sein Blick auf die reglosen Gestalten von Männern, Frauen und Kindern, die allesamt vor ihren Häusern niedergestreckt worden waren.

Beim Anblick der Toten, so sinnlos aus dem Leben gerissen, wurde Jamil übel.

Zu seiner Überraschung war es jetzt sein kleiner Bruder, der ihn am Arm weiterzog. Schlagartig fühlte er sich hilflos und verloren. Die Grauen Soldaten fielen eiskalt über Kas’Tiel her und zeigten kein Erbarmen.

Er folgte Balor durch ein Gewirr aus Gassen und mehr als einmal sahen sie die Uniformierten, wie sie mit ihren Gewehren Menschen vor sich hertrieben.

Als sie das Hafenviertel erreichten, waren sich beide Brüder sicher, dass die Soldaten jeden auf ihrem Vernichtungszug erschießen oder versklaven würden.

Jamil stach der Anblick des Hafens so sehr in der Brust, dass er keuchen musste. Er hatte die Fliehenden und seine Mutter in den sicheren Tod geschickt.

Die Soldaten hatte ganze Arbeit geleistet: Auf den ersten Blick konnte er kein einziges Schiff erspähen, das nicht in Flammen stand. Funken stoben wie Myriaden von Glühwürmchen gen Himmel. Die Hitze erzeugte einen Sog, der an ihren Kleidern zerrte. Dazu kam der ohrenbetäubende Lärm von knackenden Balken und lodernden Flammen.

»Navenne! Wo seid ihr?«, brüllte Jamil atemlos über den tosenden Brand hinweg.

Balor wankte neben ihm. Sie spürten beide, wie sich Entsetzen in ihren Knochen breitmachte. Es war vorbei. Die Soldaten hatten die Stadt überrannt und nur die Götter wussten, wie viele schon gestorben waren.

Sie würden dazu gehören.

Gerade als Jamil Gebrüll in den Hafenstraßen hörte und Balor ins Wasser stoßen wollte, damit sie sich unter dem Pier verbergen konnten, fiel sein Blick auf den Rand der großen Bucht. Zwischen den Rauchschwaden schimmerten dort für einen Augenblick die Umrisse eines Handelsschiffes durch, das dem Funkensturm und den Soldaten noch nicht zum Opfer gefallen war.

Dort waren Menschen, die nicht in schimmernden Uniformen steckten!

Jamil packte seinen Bruder am Ärmel und deutete in die Richtung, bevor sie den Pier entlangrannten und dabei die glühende Luft einatmeten. Als sie durch den Rauch drangen, erblickten sie Flüchtlinge, die hastig zusammengeraffte Sachen auf das Schiff wuchteten, während andere es zum Auslaufen fertigmachten.

Männer hievten die letzten Kisten an Bord und lösten gerade die Taue, als die Brüder es erreichten und als Letzte an Deck sprangen.

Jamil konnte es kaum fassen, als er seine Eltern in der Menge erspähte, beide unversehrt.

Aldo rief Befehle über das Deck, auf dem sich ein bunter Haufen von Bürgern drängte, von denen die wenigsten jemals zur See gefahren waren. Zwei Matrosen, die von einem der anderen Schiffe entkommen sein mussten, halfen dem Stadtvorsteher und zeigten hektisch, was es zu tun gab, damit endlich die Segel gesetzt werden konnten.

Frauen und Kinder liefen hastig an Deck hin und her und klopften alles aus, das durch den Funkenflug zu schwelen begann.

Endlich nahm das Schiff Fahrt auf. Sie hielten es mit Stangen von den brennenden Wracks im Hafen fern und wandten die Gesichter ab, als die Hitze schier unerträglich wurde. Dann ließen sie das Hafenbecken hinter sich.

Auf dem offenen Meer meinte Jamil für einen kurzen Augenblick noch ein zweites Schiff zu erspähen, dann verhüllte dichter Rauch wieder die Sicht.

Jamil dachte schmerzerfüllt an die Freunde und die Heimat, die sie alle so plötzlich verloren hatten. Seit er denken konnte, war Kas’Tiel eine friedliche Handelsstadt, jetzt war sie von den Grauen Soldaten zerstört.

Das Gesicht seiner Mutter war von Tränen und Ruß verschmiert. Sie herzte ihre Söhne und drückte sie so fest, als wolle sie die beiden nie wieder loslassen.

Der Wind frischte auf, trieb den Rauch fort und trug das Schiff in die Schwärze der Nacht, während Jamil und sein Bruder auf die brennende Stadt starrten, deren Flammensäule sich noch lange im Meer spiegelte.

Jamil - Zerrissene Seele

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