Читать книгу Jamil - Zerrissene Seele - Farina de Waard - Страница 9

Schwäche

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Jamils Mutter hatte die Nähe der anderen nicht mehr ausgehalten. Eigentlich war sie es als wichtige Persönlichkeit von Kas’Tiel gewohnt, permanent von allen beobachtet zu werden … doch hier machte es sie nervös. Als Aldos Frau schauten alle erwartungsvoll zu ihr hin, vor allem die Frauen vertrauten darauf, dass sie ihnen Hoffnung und Trost spendete. Aber in Wahrheit zerriss es Navenne jedes Mal das Herz, wenn ihr Blick in die Nähe des Hügels glitt oder man über ihren Sohn als Ungetüm und Dämon sprach.

Es war dunkel geworden, während die anderen Frauen Essen für die hungrigen Mäuler zubereiteten. Der Mond und einige Kochfeuer erhellten die Senke – da hatte sie sich davongestohlen und verbarg sich in der Dunkelheit hinter der Baustelle ihres Hauses, das jetzt auf Aldos Befehl hin entstand. Die ersten Wände standen bereits, waren aus gefällten Stämmen geschichtet, die sie für den nahenden Winter noch irgendwie würden dämmen müssen. Die Frauen hatten Moos und Gras dafür vorgeschlagen, während die Männer einfach verbissen und stur weiterarbeiteten, als würden sie von den Göttern angetrieben.

Mit steifen Bewegungen ließ Navenne sich im Schutz des halbfertigen Hauses auf einige Stämme sinken, die darauf warteten, ebenfalls verarbeitet zu werden.

Einen Moment hielt sie die Luft an, dann fiel die ständige Kontrolle von ihr ab.

Tränen traten ihr in die Augen und ihre Kehle schmerzte, so zugeschnürt fühlte sie sich an.

»Mein armer Junge«, flüsterte sie atemlos und schlang sich die Arme um die schmerzende Brust.

Als Aldo plötzlich neben der Baustelle auftauchte, fühlte sie sich schlagartig ertappt. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und stand von den Stämmen auf.

»Was tust du da? Die Seherin hat doch gesagt, wir sollen dem Dämon keine Aufmerksamkeit schenken. Um ihn zu trauern, macht ihn nur stärker!«, begann Aldo erbost.

»Das ist mir egal! Ich zeige es nicht vor den anderen. Aber was ich tief in mir empfinde, ist allein meine Angelegenheit.«

Sie wusste, wie schrecklich sie in ihrer Verzweiflung und Verletzlichkeit aussehen musste, aber das war ihr gleich.

»Bitte, Aldo! Tu etwas! Ich ertrage das nicht … gib mir meinen Sohn zurück!«, flehte sie.

»Jamil ist tot! Er existiert nicht mehr!«

»Die Seherin muss sich irren!«

Aldo hob die Hand und einen Moment lang dachte sie wirklich, er würde sie schlagen. Entsetzt starrte sie ihren Mann an, der ihr auf einmal so fremd vorkam.

»Das erzürnt die Götter, Navenne!«, presste er schließlich zwischen schmalen Lippen hervor und ließ die Hand wieder sinken. »Wir haben hier keine Tempel und nur eine einzige Seherin. Ihr Wort gilt! Sie hat mit den Göttern gesprochen und von ihnen die eindeutige Warnung erhalten, dass Jamil gefährlich ist. Er ist kein Mensch mehr.«

»Dann besänftige du die Götter!«

»Wie denn, Weib? Wir. Haben. Nichts. Mehr!«

»Du bist unser Rätor! Du musst doch etwas tun können.«

Aldo schnaubte, doch in seinem Trotz spürte sie eine tiefe Verbitterung. »Diesen Titel gibt es nicht mehr. Er ist mit den Feuern in Kas’Tiel verbrannt. Wir sind Flüchtlinge und ich bin nur noch der Anführer einer Gruppe Überlebender.«

Navenne starrte ihn an und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ihre Trauer hüllte sie ein wie eine große Glocke aus Taubheit, die sie von ihrem Mann entfernte.

»Ich bin müde«, murmelte Aldo und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich bin müde und alt und möchte einfach nur eine kleine Siedlung errichten. Balor und die Jäger werden uns vor den Wilden schützen und die Seherin soll den Dämon vertreiben.«


Dunkelheit hatte sich über die Wiese gelegt und die Gestalt des Mädchens verschluckt. Seine Stirn fühlte sich an, als wollte sie zu brennen anfangen, auch sein restlicher Körper glühte und er sah in seinem Sichtfeld graue Flecken anstelle des Grases.

Der Durst brannte in ihm wie ein gleißendes Feuer, das auf seine Haut strahlte und ihn noch mehr schwitzen ließ.

Das plötzlich wiederkehrende Flüstern des Baumes ließ ihn zusammenzucken.

»Bitte …«, flehte er, »Bitte, gib mich frei! Warum willst du mich zu einem Dasein als Dämon zwingen? Kannst du mich nicht retten … weil ich schon verflucht und verloren bin? Das ist es, nicht wahr? Du tust das, was du auch für ihr Volk immer tust, und versuchst mich so nah am Leben zu halten, wie es geht … ein Geisterdasein. Das ist kein Leben! Selbst wenn ich noch aus Fleisch und Blut … bestehen sollte, werde ich zu einem willenlosen Monstrum …«

Jamil schwieg, doch niemand antwortete ihm. Er schloss die Augen, als ihn neue Schwäche überkam und er wieder Blut auf den Lippen schmeckte. Für eine lange Zeit lauschte er dem Wind und dem Rauschen des Meeres, die ihm ebenfalls Geschichten erzählen wollten. Er konnte es durch die Hitze seines Fiebers spüren. Das Meer … groß und tief und dunkel … es wollte ihn in die kühle Tiefe seiner Erfahrungen ziehen, doch er wehrte sich dagegen. Bilder suchten ihn heim, wie er wieder über die Klippe stürzte und die schäumenden Wellen auf ihn zurasten. Er würde in ihnen versinken und von den Algen verschlungen werden.

Gerade als er das Gefühl hatte, zu ertrinken, zuckte der Schmerz der Wunden durch seinen Körper und riss ihn wieder aus dem Fieber.

Was geschieht mit mir? Ich habe Wunden, die für drei Tode reichen – und bald habe ich auch kein Blut mehr, nur noch Feuer und flüssige Asche, die durch meine Adern strömen …

Er öffnete zitternd wieder seine Augen, als Schritte über die Wiese auf ihn zukamen. Zeit schien vergangen zu sein.

Mutter? Vater? Kommt ihr mich endlich holen?

Das Mädchen tauchte in seinem Blickfeld auf, blieb stehen und kniete sich nach einem kurzen Zögern neben ihn ins Gras. Sie hob eine Schale vor sein Gesicht.

»Ich habe Wasser für dich.«

Er wollte ihr antworten, doch seine Stimme versagte, noch bevor er seinen Mund zu öffnen versuchte. Sie stellte die Schale neben ihm ins Gras, doch als er sich nicht rührte, verstand sie.

Zögerlich fasste sie in seinen Nacken und hob seinen Kopf etwas an. Sie legte den Rand der Schale an seine Lippen, doch das Wasser lief aus seinem Mundwinkel und sein Kinn herab, ohne dass er auch nur einen Schluck trinken konnte.

Sie befeuchtete ihre Finger mit dem Wasser und strich ihm über die Lippen, um das eingetrocknete Blut zu lösen, das sie verklebt hatte.

»Ich wusste nicht, dass man zu schwach sein kann, um seine Lippen zu öffnen«, murmelte sie und setzte wieder die Schale an. Sie flößte ihm das Wasser in kleinen, fürsorglichen Schlucken ein, es rann mehr seine Kehle hinunter, als dass er trank.

Das kühle Nass linderte seine Schmerzen und ließ die Flammen kleiner werden, die in ihm brannten. Er fühlte, wie mit jedem Schluck ein Hauch seiner Kraft zurückkehrte.

Als sie die Schale von seinen Lippen nahm, war sein Durst nicht im Mindesten gestillt. Am liebsten hätte er ihr Handgelenk gepackt und sie zu sich gezogen, doch sein Arm zuckte nur kurz, als er versuchte ihn anzuheben.

»Willst du noch mehr?«

Anstatt zu antworten, deutete er ein Nicken an und sie setzte die Schale wieder an. Sie gab ihm Wasser, bis das Gefäß leer war, und stellte es dann neben sich ins Gras.

»Du hättest dich vorhin nicht so überanstrengen sollen. Kannst du sprechen oder willst du erst noch mehr trinken?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Danke …«, krächzte er und musste sich bemühen, nicht vor seiner eigenen Stimme zu erzittern. »… dass du zurück … gekommen bist. Ich hatte nicht … damit gerechnet …«

Er musste alle paar Worte eine lange Pause einlegen, in der sein röchelnder Atem ging. »Ich kann mich nicht … erinnern, wann ich das letzte Mal … etwas getrunken habe …«

Sie beugte sich etwas näher und zog die Brauen hoch. In der Dunkelheit reflektierten sich erneut seltsam fremde Lichtpunkte in ihren Augen. Ihm wurde nur langsam klar, dass es seine eigenen sein mussten, die so blau schimmerten.

Sie strich ihm ein paar Haare aus dem Gesicht und ließ dann seinen Kopf zurück auf die Wurzel sinken. »Warum seid ihr hierhergekommen?«

Er sah ihr nicht länger in die Augen, sondern richtete seinen Blick auf die dunkle See. »Unsere Heimat … wurde von Feinden zerstört. Die Flucht aufs offene Meer war unsere einzige Chance. Unser Schiff wurde von heftigen Stürmen gepackt und wir verloren die Orientierung. Meine Leute … wollen ein neues Leben aufbauen und den Schrecken hinter sich lassen. Zumindest dachte ich das, bis ich erschossen wurde.«

Sie presste die Lippen zusammen. Er hatte den Eindruck, dass sie wirklich versuchte, sich seine Situation vorzustellen. Dass sie dabei so unzufrieden wirkte, bekräftigte ihn, weiter zu erzählen.

»Mein Vater wollte euch kein Land … streitig machen, wir hatten euer Dorf nicht gesehen und die Seherin segnete den Ort … Aldo ist kein kriegerischer Anführer, aber jetzt, da ich von Pfeilen … durchbohrt wurde und mein Bruder meinen Platz einnimmt …«

»Du hast einen Bruder? Warum ist er nicht hier, um dir zu helfen oder um zu trauern, wenn sie dich doch für tot halten?«

»So eine Art Mensch … ist mein Bruder nicht. Er ist jünger als ich, aufbrausend und … meinte immer, ich sei zu besonnen, um ein guter Rätor zu werden … aber jetzt, wo sein älterer Bruder getötet und zum Dämon geworden ist … bin ich schon gespannt, wie er auf meinen Tod reagieren wird …«, murmelte er und bemerkte ihren fragenden Blick. »Er erkundet die Wälder zusammen mit einigen Jägern … müsste bald zurück sein …«

»Könnte er sich gegen mein Volk richten? Würde er einen Kampf gegen uns wagen?«

»Er könnte versuchen, so etwas anzuzetteln … wenn er glaubt, dass ihr die Pfeile … auf mich geschossen habt.«

Das Mädchen schwieg und Wut kochte in ihm hoch.

»War es einer von deinen Leuten, Mädchen? Wart ihr es, die diese Pfeile abgefeuert und mich zu dem hier gemacht haben?« Er nickte abfällig zu seinem Körper hinunter.

Sie schüttelte wild den Kopf. »Nein! Die Sukrani lieben den Frieden! Außerdem habe ich mir einen der Pfeile angesehen«, sagte sie und deutete ins Gras. »Sie sind nicht so gemacht wie unsere.«

Mit einem Stirnrunzeln streckte er fordernd die Hand danach. »Zeig mir einen.«

Als sie sich nicht regte, versuchte er beschwichtigend zu lächeln. »Bitte.«

Doch beim Anblick des Pfeiles fiel jegliches Lächeln von ihm ab und Eiseskälte rann seinen Rücken hinab. Er starrte auf die blutverkrustete Metallspitze.

»Es war jemand von meinen Leuten«, murmelte er kaum hörbar. Eine Hitze flammte in seiner Brust auf und vermischte sich mit tiefer Verzweiflung.

Seine Finger umkrallten den verdammten Pfeil und er knirschte mit den Zähnen, wollte diese schreckliche Erkenntnis nicht wahrhaben. Doch es blieb ihm keine Wahl.

»Ihr solltet euch wappnen. Ich kann nicht für die anderen übersetzen oder vermitteln … Sie würden nur denken, ich lüge.«

Das Mädchen nickte nachdenklich. »Danke, dass du so ehrlich zu mir warst.« Sie stand auf und lief in den Wald, von wo sie wenig später mit der Schale voll kaltem, klarem Quellwasser zurückkehrte, das sie ihm einflößte.

Er atmete erleichtert auf, als er den letzten Schluck getrunken hatte und sich erfrischter und wacher fühlte.

»Wird es nicht bemerkt werden, dass du die Nacht über fort bist?«, fragte er diesmal ohne Pausen der Erschöpfung und sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin die Tochter eines Jägers, ich kann kommen und gehen, wann ich will, da ich oft in der Dämmerung jage und in der Dunkelheit zu den guten Plätzen wandere.«

»Hast du keine Angst alleine nachts im Wald?«

Sie lachte, bemerkte dann aber, dass seine Frage ernst gemeint gewesen war. »Wieso sollte ich davor Angst haben? Die Wölfe und Bären meiden uns, solange wir ihren Höhlen nicht zu nah kommen. Wir Jäger sind schon von klein auf Tag und Nacht draußen, das macht für uns keinen Unterschied.«

»Was ist mit den anderen deines Volkes? Könnten sie auch herkommen?«

Sie zögerte. »Nein, ich denke nicht. Ich bin beauftragt worden, dich zu beobachten. Ich habe die schärfsten Augen und soll berichten. Die anderen dürfen nicht herkommen.«

»Dann bist du auch nur hier, um darauf zu warten, dass ich sterbe? Ich dachte, du wolltest, dass ich geheilt werde?«

»Unsere Schamanen haben die Geister befragt, nachdem ich ihnen von deinem Unfall berichtet hatte. Sie sagten, dass du von einem Fluch befallen wurdest und nun kein Mensch mehr bist.«

»Hast du ihnen auch gesagt, dass du mich zum Baum gebracht hast?«

Nachdenklich betrachtete sie seine Gestalt. »Ich … ein anderer Jäger hat entdeckt, dass du hier bist, bevor ich die Chance dazu hatte. Sie sind sich jetzt sicher, dass du ein Dämon bist, der von den Fremden erschaffen wurde, um unseren Hara–Baum zu besetzen.«

Er lachte trocken. »Das ist doch die pure Ironie, oder nicht? Unsere Leute haben noch kein Wort miteinander gewechselt und sind sich schon über mich einig.«

»Es erscheint mir nicht gerecht, was dir zugestoßen ist. Irgendjemand sollte sich deine Version der Geschichte anhören, oder nicht?«

»Du solltest trotzdem vorsichtig sein.«

»Du meinst, es wäre nicht ratsam, entdeckt zu werden, wie ich einem Dämon helfe?«, meinte sie und schmunzelte leicht.

»Ich …«

»Keine Sorge, mein schwacher Dämon, ich kann stiller sein als der Mond.«

Ehe er etwas erwidern konnte, war sie im Schatten des Baumes verschwunden und er blieb allein zurück.


Ashanee erreichte den Waldrand und die Felsen, zwischen denen sie ihren Bogen und die Pfeile versteckt hatte.

Sobald sie das starke, biegsame Holz mit den Fingern umschlossen hielt, fühlte sie sich wieder vollständig.

Zuerst hatte sich alles in ihr gegen diesen Impuls gesträubt, ohne ihren Bogen zu dem Dämon zu gehen … aber er war so schwer verletzt und seine Augen waren jetzt leuchtend blau statt rot. Seltsamerweise wollte sie ihn nicht erschrecken oder bedrohlich wirken.

Sie wollte ihn schützen, was völlig verrückt war, denn er war ein Dämon, vermutlich unsterblich, mordlüstern und gefährlich … und dennoch so sonderbar verletzlich.

Ashanee tastete nach der Lederschnur um ihren Nacken und holte das Amulett hervor, das die Schamanen ihr gegeben hatten. Das Holz mit dem eingelassenen grünen Stein wirkte in seiner Einfachheit und Unscheinbarkeit doch erhaben und machtvoll. Es sollte sie als Beobachterin davor schützen, von dem Dämon bemerkt oder attackiert zu werden. Die Schamanen hatten allen im Dorf eingeschärft, den Dämon nicht anzusehen, weder mit ihm zu sprechen, noch zur Wiese oder zum Baum zu blicken.

Nur sie konnte und durfte das jetzt … aber funktionierte dieser Schutz überhaupt noch, wenn sie ihn freiwillig aufgegeben hatte? Immerhin war sie zu dem Mann gegangen und hatte mit ihm gesprochen.

Seufzend zog sie sich den gespannten Bogen über die Schulter und massierte sich dann kurz die Schläfen, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Sie hatte Pflichten zu erfüllen und nach dem Dämon zu sehen, kostete sie Nerven und Kraft, die sie eigentlich für die Jagd in der frühen Dämmerung brauchte.

Ihre Füße wählten ganz von selbst den besten Schleichweg durch den Wald. Sie kannte ihn im Schlaf, lief einmal die kleinen Fallen ab und warf seufzend einen Blick auf das Gebiet, das die Fremden bereits verwüstet hatten.

Der Wald war gerodet und ein Großteil der Tiere war geflohen, der Mangel an gefüllten Fallen war das beste Zeugnis davon.

Eigentlich hätte Asha wie die meisten anderen Jäger jetzt auch viel weitere Strecken auf sich nehmen müssen, doch da sie die Aufgabe hatte, den Dämon zu beobachten, waren ihr die naheliegenden Fallen zugeteilt worden. Die Jäger machten mittlerweile längere Jagdausflüge in Richtung der Berge, denn sie fanden kaum noch Großwild in der Nähe.

Wie schnell sich alles ändern kann …, dachte Asha und schüttelte den Kopf. Da kommt ein seltsames, riesiges Boot über das Meer und spuckt mehr Menschen aus, als bei uns im Dorf leben … und dann schickt Haluschk ausgerechnet mich als erste zum Hara–Baum, in ihre Nähe. Wie aufgeregt ich war … ich wollte nichts mehr, als ihm und Chaled zu zeigen, dass ich dieser Aufgabe gewachsen war. Wollte sehen, was die Fremden da machten, was sie für Hütten bauen würden, wie sie lebten … und jetzt haben wir einen Dämon zwischen uns und ihnen.

Asha kontrollierte die letzte Falle und spannte dann seufzend die Sehne von ihrem Bogen ab. Heute Nacht würde sie nichts nach Hause bringen außer ein paar neuen Lügen und Ausflüchten.

Ob Haluschk mich wohl darum gebeten hatte, die Gaben zum Hara–Baum zu bringen, um mich zu prüfen? Ob ich als Partie für seinen Sohn geeignet bin? Aber das wäre … nein, das würde nicht funktionieren, er ist wie ein Bruder für mich.

Asha erreichte den Pfad, der sie zu ihrem Dorf führte, durchquerte die Reihe der Felder und erspähte die Lehmhütten im Dunkeln. Sie lief auf das Haus ihrer Eltern zu, schlüpfte an dem dicken Leder am Eingang vorbei und schlich zu ihrem Bett.

Ihr Vater schlief leise schnarchend auf seinem Lager, ihre Mutter war noch nicht von ihrem nächtlichen Streifzug zurück.

Ashanee lehnte ihren Bogen an die Wand, zog sich leise aus und rollte sich auf ihrem gemütlichen Fell zusammen. Sie seufzte und genoss den Geruch der teuren Webdecke, die sie um sich geschlungen hatte. Das kostbare Geschenk, das sie zu ihrem fünfzehnten Jahrestag bekommen hatte, roch nach wohliger Geborgenheit. Sie schloss die Augen, dämmerte in dunkle, ruhige Träume weg und wachte erholt wieder auf, als ihre Mutter einige Holzstücke in das kleine Feuer nachlegte. Die Luft war frisch und klamm, das erste Licht des schattenlosen Morgens drang zur Tür herein. Kalla hatte das Leder zurückgeschlagen, um den Tag hereinzulassen. Akando war wohl bereits auf und draußen.

Gähnend streckte Asha sich, schälte sich aus ihrer Decke und stellte sich neben ihre Mutter an das kleine Feuer. Kalla band mehrere Zweige eines Krauts zusammen und hängte sie an einer Schnur über den Rauch, um sie zu trocknen.

»Heute Morgen wird es eine Versammlung geben. Die Schamanen wollen über den Dämon beraten, deine Anwesenheit wird gefordert.«

Asha nickte und trank mit ihrer Mutter zusammen etwas Tee, bevor sie hinausgingen.

Der Geruch von ersten Kochfeuern lag in der Luft und feiner Rauch hing in einer dünnen Schicht über dem Dorf. Es war noch so früh, dass kein Lüftchen wehte, doch bald würde das Meer wieder seine morgendlichen Böen schicken und den Rauch vertreiben, der im Tal festhing.

Die Versammlung fand diesmal nicht in der großen Gemeinschaftshütte statt, sondern draußen auf dem Dorfplatz. Die Schamanen standen wie unbewegte Statuen zu viert nebeneinander, eine Reihe voller Macht und Einfluss. Asha fragte sich nicht zum ersten Mal, wer eigentlich über ihr Dorf bestimmte, Haluschk als Anführer oder die Weisen? Vielleicht war es auch einfach schon immer so gewesen, dass dieses Gefüge so bestand.

Asha nannte die Vier genau wie alle anderen nie bei ihren echten Namen, diese waren durch ihre Ernennung zu heiligen Worten geworden. Für die Sukrani waren sie nur die Ältesten oder die Schamanen, aber insgeheim hatte Asha jeden von ihnen nach einer auffälligen Eigenschaft benannt.

Die Frau mit dem strengen Blick und den glatten roten Haaren, deren stechende Augen jeden zu durchbohren und erforschen schienen, nannte Asha die Nadel.

Ihre Meisterin war sehr alt, hatte ihr weißes Haar zu einem langen Zopf geflochten und würde vermutlich wieder nichts sagen, was ihr auch den Namen die Stille eingebracht hatte.

Neben ihr stand der riesige Mann, den Asha den Bären nannte. Er brummte meist zur Zustimmung, und wenn er doch etwas sagte, war seine Stimme so tief wie das Grollen eines Bären. Asha wusste, dass die Kinder im Dorf vor ihm am meisten Angst hatten, doch für sie war er eher ein alter, stoppliger Bär, der seinen Winterschlaf hielt und an den man sich anlehnen konnte.

Für sie wirkten der scharfe Blick der Nadel und die milchigen Augen ihres älteren Bruders, des wichtigsten Schamanen, viel bedrohlicher.

Dieser kleine Mann, der schon in Ashas jüngsten Erinnerungen immer runzlig und alt gewesen war, hieß für sie der Blinde. Seine Augen waren von einem milchigen Schleier verhüllt. Er konnte kaum mehr sehen als ein paar Bewegungen und Schatten, dafür war sein Blick in die Welt der Geister von allen am klarsten. Oft verfiel er in tiefe Traumzustände und bisweilen sprachen die Geister sogar direkt durch seinen Mund, wenn er bestimmte Kräuter und Pilze zu sich nahm.

Obwohl die Nadel nur die Nachfolgerin der Stillen war, hatte sie bereits so viel Ansehen wie alle anderen Schamanen. Was der Blinde und sie sagten, das galt, auch wenn Haluschk ihr Anführer war.

Die rothaarige Frau trat jetzt vor und wandte sich an ebendiesen, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte und jetzt ihr gegenüber seine Position einnahm.

»Ihr alle wartet schon seit Tagen auf unsere Verkündung. Wie ihr wisst, haben die Fremden sich offenbar dazu entschieden, hier bei uns zu siedeln. Die anderen Dörfer sind weit weg, wir sind abgelegen und müssen daher mit diesem Problem allein zurechtkommen. Wir haben gleich am ersten Tag einen Späher zu den Fremden ausgesandt, doch die Geister haben geschwiegen.«

Asha warf einen Blick auf die Versammelten, während Haluschk schließlich schwieg und der älteste Schamane verheißungsvoll die Hände hob.

»Die Geister haben jetzt wieder zu uns gesprochen. Sie erzählen, dass die Fremden aus einem weit entfernten Land gekommen sind. Sie konnten über die Weite des Meeres reisen und das muss bedeuten, dass sie den Schutz mächtiger Geister genießen. Der Sturm, der sie unversehrt hierher gebracht hat, ist ein deutliches Zeichen dafür«, berichtete der Blinde.

Haluschk nickte, während alle Versammelten weiter schwiegen. Er bedeutete seinem Sohn, näher zu kommen.

Chaled trat vor und strich sich die dunkelbraunen Haare aus der Stirn. Asha kannte diese Bewegung gut, das tat er immer, wenn er gelassen wirken wollte, in Wahrheit aber angespannt war. Sie war sich außerdem ziemlich sicher, dass die Nadel das mit Leichtigkeit durchschaute.

»Chaled, während Ashanee damit beauftragt wurde, den Dämon zu beobachten, wurdest du ausgesandt, um die Neuankömmlinge nicht aus den Augen zu lassen. Was hast du uns zu berichten?«

»Mehrere von ihnen sind in die Wälder aufgebrochen und seitdem verschwunden. Die anderen haben mittlerweile eine Schneise in den Wald geschlagen und das meiste Wild durch ihren Lärm vertrieben. Sie bauen ihre Häuser wohl vollständig aus Holz, statt den Lehm zu nutzen. Ihr riesiges Boot liegt zwischen den Felsen im Meer festgeklemmt. Ich glaube nicht, dass sie vorhaben, es noch einmal zu nutzen. Sie können es vielleicht auch nicht.«

Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach.

»Ich bin mir sicher, dass die Fremden die Wiese vor dem heiligen Baum zu einem Feld machen wollen. Damit haben sie auch auf der anderen Seite ihrer Siedlung begonnen, denn sie fällen ja den Wald«, berichtete Chaled und erntete ein zustimmendes Nicken seines Vaters, während die Umstehenden bei der Vorstellung unruhig wurden.

Haluschk wandte sich an die Schamanen.

»Das ist etwas, was wir bedenken sollten. Der Dämon ist ein schrecklicher Fluch, aber er hat uns möglicherweise vor einem Kampf bewahrt. Wir müssen damit rechnen, dass die Fremden die Wiese in Besitz nehmen wollen, sobald der Dämon fort ist. Wir müssen uns dafür rüsten, den heiligen Hara–Baum zu verteidigen! Sein Geist ist unser Heiler und mächtigster Schutz, das werden die Fremden notfalls im Kampf erfahren müssen.«

Asha zitterte jetzt. Der Gedanke, dass es zu einer Schlacht kommen könnte, erschreckte sie und erschien so absurd. Noch hatten sie sich ja nicht einmal miteinander verständigt!

Wenn doch bloß der Dämon wieder laufen könnte …, fing sie an, verwarf den Gedanken aber vorerst wieder.

Die Nadel trat neben den Blinden und richtete ihren stechenden Blick auf Asha, als hätte sie etwas bemerkt.

»Ashanee, Tochter von Akando, hast du noch etwas zu berichten?«

Sie straffte sich und trat vor, direkt neben Chaled. Sie berührte beinahe seine Schulter und er bewegte sich unauffällig etwas näher, um sie wie durch Zufall am Ärmel zu streifen. Sie ignorierte es mit trockenem Hals.

»Der Dämon wirkt leblos; er scheint schwach zu sein und kein einziger aus seinem Lager ist zu ihm gegangen. Sie scheinen ihn vollkommen verstoßen zu haben.«

Die Nadel wirkte zufrieden. »Das ist auch die einzig vernünftige Reaktion. Wir sollten darüber beratschlagen, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten. Offensichtlich verstehen sie etwas von Geistern und Dämonen, vielleicht haben auch sie Schamanen. Chaled, versuch bitte, etwas darüber zu erfahren, aber sprich noch nicht mit ihnen. Beobachte sie vom Hang auf der anderen Seite aus und schau, ob du jemanden entdeckst, der ein Ältester sein könnte. So können wir am ehesten mit ihnen in Kontakt treten.«

Als die rothaarige Älteste schwieg, nickten die anderen drei zustimmend. Asha konnte deutlich fühlen, dass sich hinter dieser Geste der Zuversicht in Wahrheit Sorge verbarg.

»Ashanee, du wirst weiterhin von einem Teil deiner Pflichten als Jägerin entbunden und beobachtest den Dämon. Tu nichts, was ihn provozieren könnte, halte deine Gedanken und Gefühle weiter ruhig und besonnen, wie es deine Art als Jägerin ist, dann wird er nicht auf dich aufmerksam werden«, gebot der Blinde mit seiner alles durchdringenden Stimme.

Asha nickte rasch und verbeugte sich dann schwach.

»Ich danke den Schamanen für diese Ehre und ihr Vertrauen.«

Die Versammlung wurde von Haluschk beendet und Asha ging sofort zurück zu ihrer Mutter. Sie spürte, dass Chaled mit ihr sprechen wollte, tat aber so, als bemerke sie nichts und suchte ihre Großmutter, um sie nach Aufgaben für den Tag zu fragen.

Sie wollte jetzt nicht mit ihrem alten Freund reden, sich nicht von ihm in irgendwelche Fragen und Andeutungen verwickeln lassen.

Sie wollte in Ruhe nachdenken und sich dabei möglichst mit etwas beschäftigen, das nicht mit dem armen, besessenen Mann zu tun hatte, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

Doch im Inneren wusste sie, dass sie bald eine Entscheidung treffen musste.

Jamil - Zerrissene Seele

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