Читать книгу Jamil - Zerrissene Seele - Farina de Waard - Страница 7

Das Urteil

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Ashanee war noch immer völlig benommen, als die Fremden angelockt durch ihren Schrei auf dem Hügel auftauchten. Von einem Moment auf den anderen fand sie sich umringt von Männern, die in einer unbekannten Sprache durcheinanderriefen, sie ergriffen und auf die Füße zerrten.

Erst da packte sie die Angst und sie vergaß die Opfergaben für den heiligen Baum, die sie auf der Wiese hatte fallen lassen.

Nachdem eine grobe Hand sie abgetastet und das Messer von ihrem Gürtel gezogen hatte, ließ man sie los und machte ihr etwas Platz.

Sie zitterte noch immer am ganzen Leib, doch die vielen fragenden Blicke, die sie durchbohrten, zwangen sie dazu, sich zusammenzureißen.

Nach einem Moment hatte sie sich genug beruhigt, um die Gesichter der Umstehenden betrachten zu können. Ein paar Frauen hielten sich im Hintergrund, doch auch sie sahen genauso wild und ungezähmt aus wie die Männer. Ihre Haare waren teilweise lockig oder hell, ihre Gesichter wettergegerbt und … Asha konnte nicht genau sagen, warum sie dieses Gefühl hatte … aber es lag eine tiefe Erschöpfung und Trauer hinter den fremden Worten, mit denen sie jetzt überschüttet wurde.

Eines klang immer wieder heraus und sie vermutete, dass es der Name des jungen Mannes sein musste. Jameel.

Sie wollten wissen, was ihm zugestoßen war! Aber wie sollte sie das erklären? Sie verstand es doch selbst noch nicht. Bei der Erinnerung begann sie wieder zu zittern. Noch nie hatte sie einen Menschen sterben sehen … den Schmerz und die Hilflosigkeit in seinem Blick würde sie nie mehr vergessen.

Langsam und vorsichtig drückte sie sich etwas von den drängenden Händen weg, während die Angst sie weiter durchwogte, und man machte ihr tatsächlich Platz.

Unauffällig warf sie einen kurzen Blick in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren – vom heiligen Baum aus – doch natürlich war dort niemand mehr zu sehen. Der Schütze war verschwunden.

»Jameel?«, fragte sie zaghaft und versuchte die Aussprache mit dem langen i nachzuahmen. Sofort nickten alle Männer und gestikulierten.

Mit einem Zögern deutete sie an den Rand der Klippe, dann in die Tiefe, aufs Meer.

Bestürzung und Fassungslosigkeit tauchten auf den Gesichtern um sie auf, dann wurde sie grob gepackt und den Hügel hinuntergeschleift, auf das Lager zu, das ihre Späher erst gestern zum ersten Mal bemerkt hatten.

»Nein!«, schrie sie verzweifelt. »Nein, ich war das nicht! Bitte!«

Aber man verstand ihr Flehen nicht. Die Leute umringten sie wie eine Mauer, aus der es kein Entkommen gab. Sie erreichten die Senke hinter dem Hügel und die Stoffzelte, die zwischen einem Durcheinander von Kisten und anderen Dingen aufgeschlagen waren.

Einige eilten rufend vor, dann kamen ihnen eine alte Frau und ein erhaben wirkendes Paar entgegen. Die Erscheinung der Alten erinnerte Ashanee sofort an ihre Schamanen.

Sie musterte Ashanee lange, während die anderen still verharrten und darauf zu warten schienen, was sie zu sagen hatte. Die Frau legte ihr die Hand an die Stirn, was sie erschaudern ließ, und schüttelte dann den Kopf. Sie murmelte etwas und die Griffe um ihre Arme wurden lockerer, ließen schließlich los. Einen Augenblick später traten die Fremden beiseite, die ihr den Weg in Richtung des Hügels versperrten.

Als sie Ashanee so unerwartet laufen ließen, schlug ihr das Herz noch immer bis zum Hals. Sie hetzte los, klaubte oben auf der Klippe den zertretenen Korb auf und rannte zu ihrem Dorf, obwohl ihr ab dem halben Weg die Lunge in der Brust stach.

Schwer atmend kam sie auf dem Platz zwischen den Hütten an und wurde sofort von Haluschk und den Jägern in Empfang genommen.

»Was ist geschehen? Warum warst du so lange fort?«

Ihr Anführer erblickte den zertretenen Korb, den Asha noch immer an sich gedrückt hielt, und bemerkte dann auch ihren gehetzten, verstörten Blick. »Was hat das zu bedeuten?«

»Es … ich wollte die Opfergaben zum Hara–Baum bringen, aber …«

Haluschk wurde sofort zornig. »Haben diese Fremden den Baum entehrt?«

»Nein! Ich … da war …« Sie stockte kurz und musste neu ansetzen. »Einer ihrer Leute ist gestorben. Er wurde von jemandem mit Pfeilen erschossen und stürzte von der Klippe.«

Unruhe machte sich breit, doch der Anführer beugte sich näher zu ihr, um in Ruhe mit ihr sprechen zu können.

»Was ist passiert? Erzähl es mir ganz genau.«

»Ich wollte zum Hara–Baum, wie die Schamanen es gesagt haben, und den Geist bitten, dass er die Fremden friedlich sein lässt. Auf dem Hügel stand dann auf einmal dieser junge Mann. Ich glaube, er wollte zu uns, so nachdenklich, wie er wirkte. Er hat mich gesehen, dann schossen plötzlich Pfeile aus dem Wald und durchbohrten ihn. Haluschk … könnte es einer von unseren Jägern gewesen sein?«

Empörung machte sich auf seinem Gesicht breit, aber er blieb ernst und räumte schließlich ein, dass man sie alle würde fragen müssen, wenn sie zurückkehrten.

»Sie sind … ich glaube, sie werden uns für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen. Und sie sind gefährlich. Sie sehen alle wild und wütend aus.«

Die Schamanen traten vor und wirkten dabei so ernst und erhaben wie eh und je, offensichtlich hatten sie ihnen zugehört.

»Ashanee, wir danken dir für deinen Mut und deinen Bericht. Wir halten es für das Beste, wenn sich ab jetzt alle den Fremden gegenüber mit äußerster Vorsicht verhalten«, erwiderte der älteste der vier Schamanen, bevor er sich an die Versammelten wandte. »Kommt ihnen nicht zu nahe, bis wir herausgefunden haben, was dort an der Klippe geschehen ist. Ashanee, denkst du, dass du deine Pflichten als Jägerin heute Nacht trotzdem erfüllen kannst?«

Asha nickte langsam, während sie in Gedanken noch immer bei dem schmerzverzerrten Gesicht des jungen Mannes verweilte.

»Wir werden die Geister befragen und sie um Gnade für diese arme, fremde Seele bitten. Du hast ihn als letzte gesehen, deshalb ist es richtig, wenn du Opfergaben an den heiligen Baum bringst, nachdem wir sie gesegnet haben.«

Bei den Worten der jüngeren Schamanin verzerrte Asha das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob die Fremden darüber glücklich sein werden, wenn ich direkt wieder dort auftauche. Sie sind so nah an unserem Hara–Baum … und sie haben mir mein Messer abgenommen.«

Die Schamanin zögerte einen Moment und wirkte ungehalten, dann nickte sie jedoch. »Gut, dann bring die Gaben heute Nacht dort hin, bevor du jagen gehst. Damit sie dich nicht sehen. Und Haluschks Krieger werden dir sicherlich ein neues Messer geben, damit du nicht schutzlos bist.«


Navennes Schluchzen riss Aldo aus seinem unruhigen Schlaf. In ihrem Zelt war es noch dämmrig und klamm, er konnte kaum mehr als zwei, drei Stunden geschlafen haben und fühlte sich kein bisschen erholt.

Wie auch, nachdem er den gestrigen Abend und die halbe Nacht damit verbracht hatte, die Gemeinschaft und anschließend seine Frau zu beruhigen? Sie hatten auf Geheiß der Seherin die Bucht und auch den Wald nach Jamil abgesucht … ohne Erfolg.

Sein ganzer Körper fühlte sich steif und ausgelaugt an. Dieser Gedanke war ihm seit ihrer Flucht wieder und wieder durch den Kopf gewandert. Er war alt und müde geworden.

Die Erschöpfung lag auf seinem Herzen wie ein Stück Blei und er hatte nicht mehr die Kraft, sie zu bekämpfen. Er wusste, dass seine Frau schlimmer litt als jeder andere, doch Aldo konnte ihr kaum Trost spenden.

Als er seine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zurück und starrte ihn mit verquollenen Augen so vorwurfsvoll an, als hätte er selbst Jamil von der Klippe gestoßen.

Es wollte einfach nicht zu ihm durchdringen. Sein Sohn sollte tot sein? Vor wenigen Wochen hatten sie noch darüber gesprochen, wie er sich auf seine zukünftige Position als Rätor und Ehemann von Lezana vorbereiten sollte. Sie hatten die Soldaten und Feuer überlebt, quälenden Hunger und den Sturm … und jetzt war er fort? Von der Klippe gestürzt, bei einem dummen Unfall?

Aber das hatte die Seherin ja nicht genau sagen können. Vielleicht hatte er sich einfach nur im Wald verlaufen und dieses Mädchen hatte geschrien, weil sie sich über ihr Lager erschrocken hatte? Oder diese Wilden hatten ihn ermordet.

Im selben Moment beschloss er, dass sie sich für einen Angriff rüsten mussten. Balor war noch nicht von seinen Erkundungen zurück, doch auch die anderen hatten bisher keine bessere Stelle für eine Siedlung gefunden. Hier gab es Wasser und Nahrung, das war jetzt am wichtigsten.

Sie mussten zusammenhalten und sich verteidigen.

Er würde den Befehl geben, zwei solide Langhäuser aus Stämmen zu errichten und nur seiner Familie und der Seherin eigene Häuser bauen, um ihren Stand in dieser neuen Welt zu stärken.

Einer Welt, in der er nur noch einen Sohn hatte.

Während Navenne ihr Gesicht in den Händen verbarg und wieder zu schluchzen begann, wurde Aldo klar, dass er Jamils Tod niemals würde verkraften können.

Der gellende Schrei eines Kindes riss ihn und seine Frau aus ihren Gedanken.

»Mamaaaa!«

Das Kreischen drang durch die dünne Zeltwand und Aldo sprang auf, um hinauszueilen.

»Mamaaaa! Ein Ungeheuer!«

Aldo wandte sich zur nebelverhangenen Bucht und eilte los, dicht gefolgt von anderen aus dem Lager.

Ein kleines Mädchen kletterte weinend die Böschung des Strandes hinauf und umklammerte eine Muschel, als hinge ihr Leben davon ab. Ihre Mutter überholte Aldo und schloss die Kleine in ihre Arme, die endlich stotternd erzählte, was passiert war, nachdem die Mutter ihr besorgt das Haar aus dem verweinten Gesicht gestrichen hatte.

»I–ich wollte Muscheln sa–sammeln fü–für die Götter. Aber d–da ist ein U–Ungeheuer!«

»Was tust du denn da allein? Ich habe dir doch gesagt, du darfst nicht zu weit von den Zelten weg!«, rief die Mutter tadelnd, doch Aldo hielt sie auf und fragte die Kleine, wo sie das Ungeheuer gesehen hatte.

Sie deutete mit der Muschel zur rechten Seite der Bucht, wo der kleine Strand in die Felsen der Klippe überging, von der Jamil angeblich gestürzt war.

In diesem Moment wurde Aldo bewusst, wie sehr er und seine Frau sich an die Hoffnung geklammert hatten, dass diese fremde junge Frau sich geirrt oder man sie falsch verstanden hatte. Die ganze Nacht über hatten sie insgeheim zu den Göttern gefleht, dass Jamil aus dem Wald auftauchen würde und alles ein Irrtum war.

Der Gedanke, ihn dort unten am Strand zu finden, war unerträglich … doch er musste jetzt der Rätor sein, kein Vater. Langsam wandte er sich um und erkannte, dass sich fast alle aus der neuen Siedlung versammelt hatten.

»Ihr bleibt hier, während ich mir das ansehe. Moleno, Farnir, ihr kommt mit.«

Der alte Mann und der Sohn ihres Schmieds nickten hastig und traten vor, während Navenne sich durch die Menge drängte. »Ich komme auch mit.«

»Nein!«

»Du kannst mir das nicht verbieten, Aldo! Ich muss …« Sie brach ab, doch er konnte an ihrem verzweifelten Blick sehen, dass sie sich durch nichts würde aufhalten lassen.

»Ihr anderen sucht nach der Seherin! Wir brauchen ihren Beistand«, befahl er nach einem Blick auf die Versammelten, wartete die Antwort jedoch nicht ab, da seine Frau bereits die Böschung hinabstieg und über den Kiesstrand eilte.

Die Steine knirschten unter ihren Füßen. Er folgte Navenne, hörte hinter sich die beiden Männer – und ächzte auf, als er neben seiner Frau am Ende des Strands stehen blieb und auf die Gestalt starrte.

»Neeein!«

Navennes Schrei ließ Aldos Herz bersten. Er sah aus dem Augenwinkel, wie seine Frau kraftlos zu Boden sank, konnte aber den Blick nicht abwenden.

Jamils Oberkörper ragte auf den Kiesstrand, der Rest lag im Wasser, von Wellen und Seetang umspült. Eine Möwe hüpfte im morgendlichen Nebel vorsichtig näher, legte den Kopf schräg und flog dann kreischend davon.

Natürlich hatte die Kleine ihn für ein Monstrum gehalten, so geschunden, wie er war. Sein Körper glänzte rot von Blut und grün von Seegras und Tang, die sich um ihn gewickelt hatten.

Aldo war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Die Gewissheit lähmte und entmachtete ihn. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er sich an diese winzige, idiotische Hoffnung klammern können. Jetzt kroch Navenne weinend und klagend auf die Leiche ihres Sohnes zu.

Was ist das nur für ein Schicksal?, dachte Aldo. Ertrunken, nachdem wir gerade dieses riesige Meer überwunden und den Krieg überstanden haben …

Navenne klagte weiter, rief die Götter um Beistand an und streckte zitternd ihre Hand aus, wagte es aber nicht, ihren Sohn zu berühren – und ihr entfuhr ein Schrei, als Jamils rechter Arm sich für einen Moment bewegte und ein schwaches, kehliges Stöhnen seinem Mund entwich.

Gerade als Aldo die Lähmung überwunden hatte, näherten sich Schritte über den Kies.

»Halt!«, rief die Seherin und erreichte dann Aldo. »Fasst ihn nicht an! Ich muss ihn untersuchen.«

Da Navenne keine Anstalten machte, ihrem Sohn von der Seite zu weichen, traten ihre beiden Begleiter vor und zogen sie auf die Beine. Moleno und Farnir hielten sie zurück, als sie auf einmal zu neuem Leben erwachte und sich gegen ihre Hände sträubte.

»Er lebt noch! Er lebt!«

»Bringt sie ein Stück weg, ich brauche Platz.«

Die beiden Männer folgten dem strikten Ton der Seherin und führten Navenne zurück zu ihrem Mann.

Yesima beugte sich ganz langsam zu Jamil hinunter, um nach seinem Puls zu tasten, schreckte aber sofort wieder zurück.

Nachdem sie einen seltsam nervösen Blick zu Aldo und seiner Frau gewagt hatte, befühlte sie Jamils Stirn, öffnete eines seiner Lider und schob schließlich sogar seine Lippen zurück, um die Zähne zu betrachten.

Als ihm ein leises Stöhnen entwich, sprang sie auf und trat rückwärts von ihm weg. Eilig murmelte sie mehrere Beschwörungen und machte Schutzzeichen gegen das Böse.

»Was hat er?«, rief Navenne und versuchte erneut, sich aus dem Griff ihrer Bewacher zu winden. Aldo wurde langsam wütend über ihre Unbeherrschtheit. So verhielt sich keine Schreiberin und erst recht nicht die Frau des Rätors!

»Was ist mit ihm? Wir müssen ihm helfen!«

Die Seherin fasste seine Frau ins Auge und seufzte. »Es tut mir leid. Das ist nicht euer Sohn. Jamil existiert nicht mehr.«

Navenne lachte hysterisch, doch bevor sie widersprechen konnte, wandte Yesima sich an den Rätor.

»Euer Sohn ist bei dem Sturz von der Klippe gestorben … dieser geschundene Körper hier ist besessen. Von einem Dämon, einem Todesgeist, wie sie auch in unserem Land existieren.«

Die Seherin hatte glasige Augen, als sie flüsternd fortfuhr: »Es ist Jamils eigener Geist, der zu einem Dämon geworden ist. Er ist verflucht, ein ruheloses Ungetüm aus der Anderwelt, das sich seines früheren Körpers bemächtigt hat.«

Navenne erschlaffte in den Händen ihrer Begleiter und ein Raunen wurde laut. Aldo wurde bewusst, dass alle ihnen zum Strand gefolgt waren.

Er drehte sich langsam um und sah, wie mehrere Frauen zu Navenne eilten. »Sie ist ohnmächtig«, stellte ihre Freundin Marifa fest und das Murmeln wurde lauter. »Bringt sie zu den Zelten, sie braucht Ruhe und kühles Wasser. Macht schon!«

Sie scheuchte die anderen aus dem Weg, als man Navenne forttrug, und eine Traube Frauen und Kinder folgte ihnen. Die Männer blieben am Strand und warteten auf Aldos Befehle … doch der fühlte sich nur hilflos und leer.

Yesima sprang für ihn ein. »Wir müssen Wachen aufstellen und ich werde Schutzrituale durchführen, um unsere Siedlung vor seinem bösen Geist zu bewahren.«

Aldo wollte es nicht glauben und ging unwillkürlich auf Jamil zu. Die Seherin versperrte ihm den Weg und fixierte ihn mit ihren trüben, alten Augen. Die Gewissheit in ihrem Blick ließ ihn innerlich erzittern und entfachte eine unglaubliche Wut über seine Ohnmacht.

»Das ist mein Sohn! Das ist Jamil!«, widersprach er und wusste dabei selbst, wie hilflos er klang.

Die alte Frau sah ihn mitleidig an und umfasste seine Hand. »Es tut mir aufrichtig leid, mein Rätor. Die Zeichen sind eindeutig. Sein Blick ist gebrochen und kein Mensch könnte solche Verletzungen überleben. Er hat sich bei dem Sturz alle Knochen gebrochen. Er ist bereits über die Schwelle des Todes getreten.«

»Das kann nicht sein! Du sagtest, unsere Ankunft hier stünde unter einem guten Stern!«

»Ich habe so etwas befürchtet. Die Götter wollten ein Opfer für ihren Schutz und Segen. Wir dürfen ihre Wahl nicht in Frage stellen.«

»Aber das …«

Aldo wollte ihr nicht glauben. Dieses Schicksal war schlimmer als der Tod selbst – und es würde ihnen allen verbieten, um ihn zu trauern. Er kannte die Regeln der Seherinnen, die ihre Stadt früher vor den bösen Todesgeistern beschützt hatten.

Wie konnten die Götter ihn und seine Familie so strafen? Sie hatten alles versucht, um die Stadt vor ihren Angreifern zu verteidigen … und das war der Dank für die Rettung all dieser Menschen? Aldo hatte doch nicht ahnen können, dass die Verlobung von Jamil und Lezana solche Folgen haben würde! Das war nicht gerecht!

Die Seherin lächelte milde und riss ihn aus seinen verzweifelten Gedanken. »Wir müssen die Entscheidung der Götter akzeptieren … doch ich muss sie weiter befragen. Ich glaube nicht, dass sie uns einen Dämon schicken wollten. Jamil muss etwas verbrochen haben, das ihm dieses Schicksal bescherte und ihn in einen Todesgeist verwandelte. So etwas trifft einen nicht grundlos.«

»Was … was sollen wir tun?«, fragte Aldo leise, sodass die anderen hinter ihm seine Unsicherheit nicht hören konnten. Seine Gedanken zogen ihn unaufhaltsam zu der Erinnerung an die Gespräche … die Vereinbarung. Wie viele wussten davon, dass diese Verlobung vollzogen worden war? Natürlich hatten die hohen Seherinnen die Götter deswegen befragt … aber hatten alle Templerinnen davon gewusst?

Er spürte Yesimas bohrenden Blick auf sich, doch statt Sorge empfand er eine immer stärker werdende Müdigkeit. Was spielte es noch für eine Rolle? Die Stadt war verbrannt und die Zerstörer würden ihnen kaum über das Meer folgen … und die Götter hatten seinen Sohn gefordert.

Yesima räusperte sich und sprach dann etwas lauter weiter. »Den Dämon können wir nicht töten, aber solange wir ihn nicht erzürnen, kann er uns nichts tun. Vermutlich wird er es nicht schaffen, an diesem Körper festzuhalten und bald wieder verschwinden. Dann können wir Jamils Leichnam doch noch so bestatten, wie es die Götter verlangen und damit ihren Zorn besänftigen.«

Aldo nickte träge und nahm kaum wahr, wie seine Füße ihn zurück zum Lager und seiner Frau trugen. Die Seherin würde ihre Botschaft an alle verbreiten, damit niemand einen Fehler beging.

So wurde Jamil am Strand liegengelassen, als sei er ein angeschwemmtes, totes Stück Holz.


Der Schrei des kleinen Mädchens schreckte ihn am Morgen aus der Bewusstlosigkeit, doch der Schmerz, der seinen Körper erfüllte, war so groß, dass er immer wieder in wirre Träume versank.

Er sah rauschendes, dunkles Wasser, in dem immer wieder Feuer aufflackerten. Die Flammen leckten über seine Haut und starrten ihn an wie leuchtende Augen.

Die Brandung hatte seinen Körper die halbe Nacht hin und her gewälzt und gegen die scharfen Felsen geworfen, bis er schließlich von der Strömung ergriffen wurde. An den Strand gespült, blieb er zwischen den rund geschliffenen Steinen liegen.

Jamil wollte sich aufrichten und rufen, doch kein Ton kam über seine Lippen und nicht ein einziger seiner Muskeln wollte ihm gehorchen.

Alles verschwamm, bis er seine Mutter weinen und flehen hörte. Stimmen rauschten in Jamils Ohren wie Wasser, vermischten sich mit dem kreischenden Lachen der Möwen und dem knirschenden Kies.

Einmal spürte er kalte Finger auf seiner Haut, sah verschwommen den kritischen Blick der alten Seherin und ihre runzeligen, zusammengekniffenen Augen.

Seine Mutter weinte … und die Seherin murmelte etwas von einem Dämon! In dem Meer aus Schmerz wurde Jamil klar: Das war gar kein Traum. Sie waren wirklich bei ihm am Strand, doch sie halfen ihm nicht, sondern verdammten ihn.

Ihre Worte entsetzten Jamil – und besiegelten sein Schicksal. In Gedanken verfluchte er die Alte, während die Schritte sich entfernten.

Sie ließen ihn allein! Er knirschte mit den Zähnen, konnte sich aber nicht rühren. Die Pfeile steckten noch in seiner Seite und brannten wie Säure.

Die Sonne ertrank und die Mondsichel erhob sich, warf ihr mattes Licht auf die Bucht. Mit der Dunkelheit kehrte nach und nach eine angespannte Ruhe in der neuen Siedlung ein. Jamil lag noch immer unten in der Bucht im seichten Wasser, das jetzt nur noch seine Waden und Füße umspielte.

Nach einer Weile veränderte sich der Schmerz, wurde an manchen Stellen klarer.

Brüche. Der Sturz auf die hervorstehenden Felsen im Wasser musste ihm die Beine und einen Arm gebrochen haben. Auch einige Rippen brannten wie Feuer, sie fühlten sich an, als seien sie zu kleinen Splittern zerbröselt und würden sich Stück für Stück durch seine Lungen fressen.

Die Seherin glaubte also, dass ein Fluch auf ihm lag? Das hörte sich völlig wahnwitzig an … Er war doch er selbst! Er spürte jede Faser seines Körpers so real und intensiv wie nie zuvor.

Aber der Gedanke ließ ihn nicht los. Ein Fluch? Ein Dämon?

Warum war er noch am Leben? Sein Körper fühlte sich so geschunden und zerstört an, dass er sich tatsächlich fragte, wie er eigentlich noch atmen konnte.

Allerdings war für ihn klar, dass er sich eben NICHT wie ein Dämon fühlte.

Sie ließen ihn im Stich, ließen ihn leiden. Er musste sie davon überzeugen, dass er noch er selbst war!

Kalter Wind fegte über den dunklen Kiesstrand. Jamil zitterte, schließlich schaffte er es, seinen rechten Arm zu heben und sich eine Handlänge über die Steine zu ziehen. Als sich die Brüche verschoben, schoss derart heftiger Schmerz seine Seite hinab, dass er laut aufbrüllte.

Niemand kam ihm zu Hilfe, obwohl er sicherlich das ganze Lager aus dem Schlaf geschreckt hatte.

Jamil fasste all seinen Mut zusammen und zog sich noch ein Stück aus der Brandung.

Ein weiterer markerschütternder Schrei hallte über die Bucht, als die Pfeile, noch immer zwischen den Steinen verkeilt, sich verdrehten und die Wunden weiter öffneten.

Mit Mühe schaffte er es, den obersten Pfeilschaft zu ertasten, der anscheinend mit Seetang umwickelt war.

Warmes, dickes Blut quoll über seine Finger und erneut packte ihn eine Welle aus Schmerz, bevor er das Bewusstsein verlor.


Es waren leise, zaghafte Schritte auf dem Kies, die ihn aus seinen ersten Fieberträumen aufschrecken ließen.

Ein Zucken durchlief Jamil, als er sich der Schmerzen wieder bewusst wurde. Für einen Moment wünschte er sich zurück in den wirren, sinnlosen Traum aus Flammen und Wasser.

Aber da schlich jemand langsam über den Strand und näherte sich ihm – genau in dem Moment, als etwas an seinem Bein zerrte. Schmerz durchbrannte ihn vom Fuß bis zur Hüfte, er stöhnte auf, drehte seinen Kopf – und starrte in die glühenden Augen eines riesigen Kojoten.

Jamil schrie wütend auf und wollte einen Stein packen, um ihn nach dem Kopf des Tieres zu schleudern, doch er konnte ihn nicht anheben. Seine Finger glitten einfach kraftlos an ihm entlang, ohne ihn fassen zu können.

Der Kojote ließ sich durch das Erwachen seiner Beute nicht im Mindesten stören. Im Gegenteil, er schnupperte an Jamils Kleidung, besonders die Pfeilwunden schienen ihn zu interessieren.

Jamil ächzte, als er den schillernden Blick auf sich spürte. Nein! Er würde sich nicht lebendig fressen lassen! Wut kochte in ihm hoch und er schlug kraftlos nach dem Tier, auch wenn das eine Welle aus brennendem Schmerz durch seinen Leib jagte.

Der Kojote sprang lautlos über ihn hinweg und verschwand aus seinem Blickfeld.

Einen Moment lang wagte er zu hoffen, doch dann hörte er wieder das Schnuppern des Tieres, ehe es ein lautes, helles Heulen ausstieß, das Jamils Schrei nicht unähnlich war.

Es dauerte nicht lange, da tauchte ein zweiter Kojote aus den weiten Schatten der Bucht auf. Er verschwamm immer wieder in Jamils Blickfeld, bevor dieser erschöpft die Augen schloss.

Als er die Lider mit Mühe wieder aufschlug, kauerte der zweite Kojote vor ihm, bedrohlich an den Boden geduckt und knurrte. Plötzlich jaulte das Tier hinter ihm auf und rannte zu seinem knurrenden Gefährten, dicht gefolgt von einem größeren Schatten.

Sein Helfer jagte hinter den fliehenden Kojoten her, warf Stöcke und Steine nach ihnen; erst als weit entfernt das klagende Heulen erneut ertönte, drehte er sich um.

Hoffnung entbrannte in Jamil. Sein Bruder war von den Erkundungen zurück! Er würde ihn nicht hier liegen lassen. Er würde sich über das Gebot der Seherin hinwegsetzen und – da kam die breite Mondsichel hinter den Wolken hervor und tauchte die Person in mattes Licht.

Erstaunen und Enttäuschung kämpften in ihm, als sich das fremde Mädchen vor ihm in die Hocke sinken ließ. Ihre Augen glitzerten, während ihr Gesichtsausdruck völlig neutral blieb. Zuerst sahen sie sich nur schweigend an … dann berührte sie zaghaft seine Hand und deutete hoch auf die Klippe. Sie machte eine Bewegung, die laufen bedeuten könnte, und deutete die Wiese hinauf, die an der Klippe entlang nach oben führte.

Ihre Schönheit ließ ihn seine Schmerzen einen Augenblick vergessen. Das Licht des Mondes wurde ein wenig stärker, sie beugte sich zu ihm – und Jamil sah sich selbst in ihren Augen widergespiegelt. Er sah seinen eigenen Schmerz und ihm stockte der Atem.

Dann drehte sie seine Hand um und drückte sie flach. Er wusste nicht, was größer war: die Faszination, die er verspürte, weil sie hier bei ihm war, oder der Schmerz, der seinen Arm durchflutete, weil er bewegt wurde.

Sie nahm ein Stück Schwemmholz und hielt es vor sein Gesicht, deutete hoch auf die Klippe und dann auf seine Hand … und eine Erinnerung streifte seinen Geist. Sie wollte, dass er hinauf zu dem Baum ging. Aber warum?

Neue Hoffnung machte sich in ihm breit. Sie könnte auch zu ihrem Dorf deuten, das hinter der Klippe lag … Würde sie ihm helfen? Würde sie ihn dorthin bringen, damit man ihn rettete? Er bewegte angestrengt den Arm, schloss seine Finger um ihre Hand, doch sie riss sie rasch weg und schüttelte den Kopf.

Ich kann nichts für dich tun!, sagte ihr Blick und sie stand auf.

Nein!, dachte Jamil und Zorn brannte in ihm. Nein, so hilf mir doch!

Er wollte sie zurückhalten, verstand nicht, warum sie ihn zurückließ, doch ehe er sich erneut regen konnte, tauchte eine Wolke die Bucht in Dunkelheit und sie war fort.

Jamil wartete, hoffte.

Sie kommt wieder. Sie holt ihre Leute … Sie lässt mich hier nicht sterben!, sagte er sich immer und immer wieder, um nicht wahnsinnig zu werden.

Als die nächsten Wolken die Mondsichel mehrmals enthüllt und verdeckt hatten, kehrte sie noch immer nicht zurück – und er verfluchte sie im Stillen.

Aber ich will leben!, dachte er zornig. Ich werde leben!

Trotz beherrschte seine Gedanken, als er mit der rechten Hand anfing, den Tang langsam von den Pfeilen in seiner Seite zu lösen und sie so zu befreien. Er betastete vorsichtig die Eintrittsstellen, schloss seine Hand um den ersten Schaft in seiner Seite, doch er konnte ihn nicht herausreißen. Ein Schrei entwich seiner Kehle, als er kurz an dem Holz zog und es dann rasch wieder losließ.

Er brauchte Hilfe! Wenn dieses Mädchen sie ihm nicht gewährte, dann würde er sie sich selbst holen! Er schrie! Er brüllte nach seinem Vater, seiner Mutter, aber keiner kam. Das flache Tal über ihm blieb totenstill.

Sie haben mich alle verraten!, dachte Jamil verbittert, doch dann durchzuckte es ihn. Aber was, wenn ich es hinauf schaffe? Was, wenn ich bis vor ihr Zelt krieche, dann müssen sie erkennen, dass ich lebe und noch ich selbst bin!

Sein Vater musste ihm doch helfen, wenn er erkannte, dass sein Sohn kein Dämon war, oder? Verzweiflung breitete sich in ihm aus, ließ seinen Magen verkrampfen. So leicht konnte Aldo seinen Sohn doch nicht aufgeben!

Er streckte den gesunden Arm nach vorn, packte die Steine, grub seine Finger in den Kies und zog sich weiter. Höllenqual durchbohrte ihn, doch er bewegte die Beine, stemmte sich etwas vom Boden weg – und arbeitete sich vor. Eine Handbreit nur, aber er packte den nächsten Stein und zog sich erneut weiter.

Nach endlos langer Zeit fühlte Jamil das erste Mal Gras zwischen seinen Fingern. Seine Kehle war wund, seine Stimme versiegt, aber in seiner Qual hatte er sich immer an dem Funken festgehalten, der in seinem Willen glühte. Er wollte leben! Er wollte nicht in die Schatten, die ihn umringten und belauerten … das Gras unter seinen Fingern war so weich nach all dem Fels und Kies.

Erschöpfung machte sich in ihm breit, als er die grünen Halme berührte.

Wollte er denn wirklich noch weiter? Noch mehr Schmerz? Er lebte ja … konnte er da nicht einen Moment ruhen, das lebendige Gras genießen? Ja … schlafen, das wollte er …

Aber da fühlte er auch das Fieber, wie es ihn umhüllte. Er durfte nicht müde werden! Seine Finger krallten sich um die dunklen Halme, seine Muskeln zitterten, verkrampften sich – da berührte ihn die Wärme von weicher Haut.

Wie ein Engel stand sie über ihm. Leuchtend im Licht des Mondes … das Mädchen! Ein Lächeln zuckte über sein müdes Gesicht. Sie war zurück! Sie würde ihn in die Siedlung bringen …

Ihre Hände strichen über seine zerkratzte Haut. Ihre Finger umfassten seinen Arm, als sie ihn leicht anhob. Schmerz packte ihn, schüttelte ihn wie eine hilflose Beute, als sich sein Brustkorb bewegte. Er spürte noch, dass sie ihm unter die Schultern griff und ihn auf den Rücken drehte. Seine Sicht, seine Sinne, alles verschwamm eine Weile in Schmerz und Dunkelheit.

Als nächstes erkannte er die dünne Mondsichel, wie sie über dem finsteren Meer stand, die Bucht, die unter ihm lag, während jemand ihn mit festem Griff durch das Gras zog.

Wer zog ihn da? Jamils Geist war heiß und kalt zugleich, als Erinnerungen sich wild mit seinen Halbträumen mischten.

Ein hübsches Gesicht tauchte in der Dunkelheit auf. Ja, die schöne Fremde zog ihn … aber wohin? Das Lager erreichte sie so einfach von der Bucht aus, warum zog sie ihn dann die steile Wiese hinauf?

Das Licht des Mondes schien Jamil ins Gesicht, als sein Blick erneut verschwamm.

Als nächstes lag er wieder auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Gras. Seine Seite und Beine schmerzten, aber als er den Kopf etwas anhob, sah er nicht das Lager, sondern den Baum.

Das Mädchen lief durch sein Blickfeld, von ihm fort und stellte sich zu den dicken Wurzeln des Baums, die wie Schlangen über die Erde zu kriechen schienen. Sie berührte den dicken Stamm, suchte Jamils Blick – dann wandte sie sich ab und lief in die Dunkelheit.

Nein! Wo willst du hin? Lass mich nicht zurück!, dachte Jamil, wollte es brüllen, aber aus seiner Kehle kam nur ein Krächzen.

Sein glasiger Blick streifte gehetzt über die Wiese – und blieb dann an dem Baum hängen. Seine Krone schien im Wind zu wogen … dann spürte er die Kraft, die ihn zu diesem mächtigen Baum zog.

Er streckte den gesunden Arm aus, krallte seine Finger ins Gras und zog sich langsam vorwärts.

Es erschien Jamil seltsam – je näher er dem großen Baum kam, desto besser schien er sich zu fühlen. Er nahm nicht mehr wahr, dass das Wundfieber ihn nun vollends übermannte, als er zu den Wurzeln des Baums kroch und in heißer, dicker Schwärze versank.

Jamil - Zerrissene Seele

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