Читать книгу Jamil - Zerrissene Seele - Farina de Waard - Страница 8
Scharfe Klingen
ОглавлениеGähnend kroch Marifa aus dem Zelt und streckte sich. Die Luft war morgendlich kühl und leichter Dunst waberte über der Bucht unterhalb ihres Lagers.
Beim Gedanken an den gestrigen Tag fröstelte es die Frau und sie presste die Lippen zusammen. Die schreckliche Überfahrt und die Flucht steckten ihr noch immer in den Knochen, doch das Schicksal des jungen Jamil belastete sie weit mehr. Zwar hatte die Seherin entschieden, dass niemand um ihn trauern durfte, doch Marifa tat er dennoch leid. Sie selbst hatte keine Tränen vergossen, aber sie wusste ganz genau, wie sehr Navenne unter dem Tod ihres Sohnes leiden musste.
Im Lager war es noch ganz still und Marifa entschloss sich, für ihre Freundin einige Kräuter zu sammeln, um ihr einen beruhigenden Tee zuzubereiten.
Vermutlich hatten die anderen im Lager genauso schlecht geschlafen wie sie, also wunderte es Marifa nicht, dass es noch so still war. Die Schreie des Dämons hatten sie die halbe Nacht wachgehalten und einen Moment zögerte sie, ob sie wirklich allein auf die Wiese sollte, um nach Kräutern zu suchen.
Dann entsann sie sich der Worte der Seherin. Die hatte verkündet, dass der Dämon bald Jamils toten Körper verlassen würde.
Es wäre gut, wenn das jetzt schon geschehen ist. Dann können wir Jamil anständig begraben und um ihn trauern, dachte sie und stapfte dann den Hügel hinauf, Hauptsache weg von der Bucht. Das Dämmerlicht schwand und sie erkannte eine zusammengesunkene Gestalt neben den Zelten und schmunzelte.
Der alte Moleno hätte Wache halten sollen, war aber ebenso erschöpft wie die anderen in tiefen Schlaf gesunken. Kopfschüttelnd ließ sie ihn schnarchen und schweifte auf ihrem langsamen Weg mit dem Blick über die Pflanzen der Wiese.
Schließlich fand sie tatsächlich etwas Minze und die pfeilförmigen Blättchen und Blüten eines Krauts, welches das Herz beruhigte. Sie hatte jetzt den Hügelkamm erreicht und hob den Blick, um nach weiteren brauchbaren Kräutern Ausschau zu halten. Vor ihr in der Wiese war eine blutige Spur, die zum Fuß des großen Baumes führte.
Zwischen den Wurzeln lag der Dämon.
Ein Schrei entwich ihrer Kehle, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Sie konnte sich nicht bewegen und war heilfroh, als Rufe hinter ihr laut wurden und einige Männer den Hügel hinaufrannten. Sie sammelten sich in einem weiten Halbkreis bei Marifa, die vor dem Baum erstarrt war. Sie wagte einen kurzen Blick auf die Männer und war erleichtert, dass weder Aldo noch Navenne unter ihnen waren. Diesen Anblick hätte sie den beiden lieber erspart.
»Ist er tot?«, fragte sie leise, über den Rücken ihres Ehemannes spähend, der sich schützend vor sie gestellt hatte.
»Man darf keinem Dämon trauen! Er könnte sich nur tot stellen, bevor er uns plötzlich angreift!«, warnte ein anderer und Marifa erschauderte bei der Vorstellung. Auch sie kannte die Berichte, die früher gelegentlich Kas’Tiel erreicht hatten und von flammenden Todesengeln erzählten.
Dämonen wurden als Rachegeister der Götter gesandt, wenn sie die Menschen bestrafen wollten.
Die Männer traten noch einen Schritt näher.
Der Körper des Dämons lag erschlafft da und war blutüberströmt. Der Kopf lehnte seitlich auf seiner Schulter, die Augen waren geschlossen.
Einer der Männer trat vor und stieß mit dem Ende seines Speers gegen das ausgestreckte, verdrehte Bein des Dämons.
Die gesamte Gruppe wich sofort zurück, als dem Monstrum vor ihnen ein leises, aber hörbares Stöhnen entwich.
»Verflucht! Der Dämon in ihm lebt immer noch!«
»Wie hat er es nur hier herauf geschafft?«
»Ein Fluch liegt auf ihm und diesem Ort! Lasst uns verschwinden und die Seherin fragen!«
»Der arme Jamil«, flüsterte Marifa. »Dass ihm so etwas Schreckliches widerfahren muss, ausgerechnet Aldos und Navennes Sohn. Und Balor weiß nicht einmal davon, da er die Wälder erkundet. Armer Jamil …«
»Was redest du da, Weib? Das ist nicht mehr Jamil – und dass ihn dieses Schicksal ereilt hat, ist mit Sicherheit allein seine Schuld! Die Götter wollten ein Opfer, bestimmt keinen Dämon.«
»Aber dieses wilde Mädchen, das wir auf dem Hügel gefunden hatten, hat uns ja nichts sagen können. Ganz offensichtlich war sie es nicht, so erschrocken, wie sie war … ist Hals über Kopf in den Wald gerannt …«
»Wenn ihr mich fragt, ist er von der Klippe gesprungen! Er war schon immer etwas seltsam und nach der Flucht noch stiller … dieser Fluch hat ihn ereilt, da er sein Leben fortwarf! Die Götter strafen solche Feiglinge!«
Marifa beäugte den Körper. Er sah elend aus, die Kleider waren zerfetzt und von Blut getränkt – doch dann riss sie die Augen auf.
»Nein! Seht nur an seiner rechten Seite! Sind das nicht Pfeile, die da aus seinem Brustkorb ragen?«
Jetzt sahen die Männer es auch und redeten so wild durcheinander, dass Marifa gar nicht mehr zu Wort kam.
»Du hast Recht! Es müssen die Leute von diesem Mädchen gewesen sein. Sie haben ihn erschossen!«
»Ihr habt doch auch gesehen, wie ängstlich und verstört das Kind wirkte … was, wenn Jamil sich an ihr vergehen wollte? Dann wäre es allzu verständlich, dass man sie verteidigt hat!«
»Wir müssen die Seherin befragen. Nur sie und Aldo können entscheiden, ob es ein Verbrechen war und wer Schuld trägt – und ob uns diese Eingeborenen feindlich gesinnt sind.«
Die anderen Männer nickten auf die Worte des Metzgers hin und entspannten sich ein klein wenig.
»Egal was passiert ist, Jamil kann nicht unschuldig gewesen sein. So oder so, er ist jetzt ein Dämon und nur einen schlechten Menschen würde so ein Fluch treffen! Lasst uns gehen. Er sieht schwach aus, vielleicht verlässt der Dämon seinen Körper ja doch bald …«
»Hoffentlich, dann wäre das Land hier nicht mehr durch seine Schande befleckt!«, murmelte ein anderer und die Leute zogen sich von der Wiese zurück.
Sie eilten rasch den Hügel hinab, auf dessen Höhe man noch die Krone des verfluchten Baumes erkennen konnte, selbst wenn man unten bei den ersten Zelten ankam.
Marifa erzählte Aldo und der Seherin von ihrem Erlebnis, und die Seherin wirkte zutiefst beunruhigt. Sie zog sich in ihr Zelt zurück, befragte die Götter und kam erst am Mittag wieder heraus.
»Ich hatte bereits eine seltsame Kraft gespürt, die von diesem Baum ausgeht. Dass es den Dämon zu ihm gezogen hat, heißt nichts Gutes. Er könnte dadurch neue Kräfte erlangen und gesunden. Der Baum schützt ihn. Wir können ihm nichts anhaben und müssen abwarten. Doch eines ist gewiss: Jamils Tod war nicht grundlos, er hatte dieses Schicksal verdient, das konnten mir die Götter sicher sagen.«
Jamils Vater entschied, dass sie warten sollten, bis die Sicht der Seherin sich klären würde. Die Seherin bekräftige das mit einem Nicken.
»Wegen dieser Pfeile müssen wir davon ausgehen, dass Jamil uns alle entehrt hat, indem er wahrscheinlich Hand an diese Fremde legte. Wenn diese Vermutung sich bewahrheitet, dann hatte er den Tod auf jeden Fall verdient und es ist kein Wunder, dass ihn dieses Schicksal ereilt hat!«, stellte Yesima mit düsterer Miene fest. »Er muss etwas verbrochen haben, wodurch er die Götter so sehr erzürnt hat«, fügte sie hinzu und die anderen pflichteten ihr bei.
Aldo schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich erwarte, dass ihr ab jetzt alle wachsam seid. Wir müssen unsere Siedlung baldmöglichst schützen. Es muss ein Wachdienst eingeteilt werden. Ich überwache jetzt weiter den Aufbau der Langhäuser. Wir haben den Angriff der Soldaten in Kas’Tiel überlebt, dann schaffen wir das auch bei ein paar Eingeborenen und einem … Dämon.«
Navenne hatte Tränen in den Augen, wischte sie jedoch rasch heimlich weg, bevor sie ihrem Mann beipflichtete und sich davonstahl. Marifa sah ihr wehmütig hinterher und wusste nicht, was sie tun sollte, um ihrer Freundin diese schreckliche Last zu erleichtern.
Der Fiebernde nahm die verschwommenen Worte der Leute wie durch Wasser wahr. Sie beschimpften ihn, erzählten Lügen und verschwanden dann wieder zu den Zelten.
Es hatte ihn all seine Kraft gekostet, sich bis zu den Wurzeln des Baums zu schleppen. Von dem Mädchen gezogen zu werden war kaum besser gewesen, sie hatte seinen gebrochenen Arm bewegt und auch seine Beine brannten wie Feuer.
Die Stunden der Nacht zerflossen in einem Schleier aus Schmerz und Erschöpfung, teilweise erinnerte er sich gar nicht mehr, was geschehen war.
Er wusste nur, dass er zum Schreien keine Kraft mehr besaß und den Baum wohl erreicht hatte, als es zu dämmern begann. Dazwischen sah er immer wieder das fremde Mädchen, wie sie über ihm stand.
Aber weshalb tat sie ihm das an? Warum hatte sie ihn nicht in seine Siedlung gebracht? Warum hierher, zu diesem schrecklichen Baum, der sein Grabmal werden würde?
Schmerz brannte sich durch seine Brust und Glieder, stechender als Feuer und Eis vereint.
Er erinnerte sich verschwommen an die zusammengedrängten Gesichter seiner Freunde und Begleiter, wie sie ihn beschimpft und liegengelassen hatten. Jamils Kopf pochte und dröhnte, er war nicht in der Lage, wirklich zu verstehen, was sie besprochen hatten. In wacheren Momenten war er wütend. Wenn der Schmerz es zuließ, sank er in unruhigen Schlaf. Fieberträume peinigten ihn, in denen er immer wieder von der Klippe stürzte oder blutüberströmt seinen unbekannten Angreifer durch die dichten Wälder verfolgte, ihn jedoch nie einholte.
Er wachte nicht auf, als dunkle Wolken über dem Meer aufstiegen und den Rest des Tages in schweren Sturm und peitschenden Regen hüllten, der ihn vollkommen durchnässte und Schmutz und Blut von ihm wusch.
Es war dunkel, als er die Augen das nächste Mal aufschlug. Sein Körper war noch feucht vom Unwetter und die Wiese vor ihm lag in Schwärze. Er konnte kaum den Rand der Klippe von dem dahinter liegenden Meer unterscheiden, aber er hörte das laute Rauschen der Brandung, die gegen die Felsen schlug und sich mit dem Pfeifen des starken Windes vermischte.
Es fröstelte ihn, er hatte gerade genug Kraft, kurz den Arm zu heben, konnte aber mit dieser Bewegung nichts bewirken außer Schmerz.
Nach einer Weile schien es heller zu werden und der Schemen der dünnen Mondsichel zeichnete sich hinter den schnell dahinfegenden Wolken am Himmel ab.
Als plötzlich das Mädchen vor ihm stand, entwich ihm ein überraschtes Ächzen. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie tauchte einfach vor ihm auf, eine grobe Silhouette, die sich gegen den düsteren Himmel abzeichnete. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, aber ihren Blick spürte er deutlich. Jamil konnte erkennen, wie ihr Haar wild im Wind tanzte, während der Mond weiter wanderte.
Zuerst hielt er sie für ein Trugbild seiner Fantasie, da sie unbewegt wie eine Statue dastand. Dann kam Leben in ihre Gestalt, sie trat näher und beugte sich zu ihm herunter.
Sie hielt ein Messer in der Hand und schien ihn zu beobachten, wich aber rasch zurück, als er zitternd seinen rechten Arm hob und nach ihr ausstreckte.
Das Mädchen sagte etwas in einer fremden Sprache, es klang wie eine Frage, doch er verstand nicht, was sie von ihm wollte. Er starrte nur weiter auf das Messer und überlegte.
Sie würde ihm nicht helfen, ihn nicht zu seiner Familie bringen oder zu ihren eigenen Heilern. Was dann? Er musste selbst handeln! Die Hitze in seinem dröhnenden Kopf befahl es ihm.
»Bitte … hilf mir«, flüsterte er und fing ihren Blick. Eine seltsame Kraft erfasste ihn und er spürte, wie sein ganzer Körper warm wurde, als wäre er von Flammen umgeben.
»Gib mir deine Waffe, Mädchen!«, zischte er mit dunkler Stimme.
Die Augen der jungen Frau wurden seltsam trübe, er hob die Hand und streckte sie fordernd aus. Seine Fingerspitzen waberten wie die Glut eines herabgebrannten Lagerfeuers.
Sie beugte sich näher, wie in Trance und in ihren Augen spiegelte sich ein seltsames Bild. Es schien, als starre ihm ein Fremder mit glühend roten Augen entgegen.
Im nächsten Moment schlossen sich seine Finger um den Messergriff, den sie ihm anbot. Kaum berührte er ihre Haut, fuhr sie zusammen und kam wieder zu sich.
Bleich vor Schreck wich sie zurück, stolperte und landete auf ihrem Hinterteil. Ihre Augen weiteten sich, als er das Messer unter Anstrengung hob – und in seinen Körper stieß.
Ihr spitzer Aufschrei mischte sich mit seinem tiefen schmerzerfüllten Brüllen, während er sich die Klinge in die Seite rammte. Das Mädchen ergriff die Flucht und verschwand in der Dunkelheit der Wiese.
Das Messer drang direkt neben einem der drei Pfeile in seiner Seite ein und schnitt ihn frei. Ein weiterer Schrei zerriss die Stille, der die Rennende aufheulen ließ, da Jamil den Pfeil packte und aus seinen Rippen riss.
Der Schmerz machte ihn schier wahnsinnig. Er spürte, wie das Metall der Pfeilspitze am Knochen einer Rippe schabte, dann warf er das verfluchte Geschoss mit einem verbissenen Ausdruck fort, ergriff das Messer und zog es sich aus dem Fleisch, um sich den nächsten Pfeil aus dem Leib zu schneiden.
Blut drang aus den Wunden und mit letzter Kraft ließ Jamil das Messer fallen. Ein gequältes Ächzen entwich ihm, er riss nasses Gras aus dem Boden und presste die Halme auf die drei dicht beieinander liegenden Schnitte.
Dunkles Blut sickerte hervor, besonders aus der Wunde, die er zuletzt geöffnet hatte. Er hatte sich den schlimmsten Pfeil als letzten aufgespart.
Jamil war sich selbst in seinem jetzigen Zustand sicher: die Pfeile hätten sein Todesurteil sein müssen! Die beiden oberen waren tief eingedrungen, zwischen zwei Rippen hindurchgefahren bis in die Lunge … der unterste musste mit Sicherheit die Leber erwischt haben.
Rote Flecken zeigten sich jetzt immer wieder in Jamils Sicht, auch weiße Blitze zuckten hindurch, während er schwer atmend auf den Wurzeln des Baumes lag und versuchte, mit dem Gras das hervorquellende Blut aufzuhalten.
Sein ganzer Körper fühlte sich kochend heiß an und doch war ihm schrecklich kalt und er zitterte immer wieder, als habe er Schüttelfrost.
Zu müde und schwach, um erneut die Augen zu öffnen, lag er weiter unbewegt da und fragte sich, warum ihm die Götter das antaten, dass er noch miterleben musste, wie sein Körper dem Sterben so nah war und es doch nicht konnte.
Aber wollte er das wirklich? Wollte er erlöst werden und sich wie ein Schwächling den Tod wünschen?
Nein, im Gegenteil. Er hasste seinen Körper dafür, dass er ihm nicht mehr gehorchte und er nicht aufstehen konnte, um endlich herauszufinden, wer ihm das angetan hatte!
Doch dann versiegte sein Gedankenstrom, als er ein Flüstern im Wind hörte. Es war kaum lauter als das Rascheln der Blätter des Baumes und Jamil dachte zuerst, er würde es sich im Fieber einbilden. Aber das Flüstern blieb beständig und nach einer Weile begann er, erste Worte zu verstehen und erkannte, dass er dem Raunen des Baumes lauschte.
Ja, der Baum redete auf ihn ein, sanft und beständig, wie der Wind. Er erzählte von Erde, fest und sicher, die ihm Halt gab in dieser unsicheren Welt … von Wasser, das ihm zum Leben verhalf und seine Blätter gedeihen ließ … von der Sonne, die ihm Kraft schenkte und dem Mond, der mit seiner sanften Ruhe Erholung und Heilung brachte.
Dann flüsterte er vom Feuer, das Zerstörung … aber auch Erneuerung bedeuten konnte.
Ein wirres Lächeln zuckte über Jamils spröde Lippen.
Vielleicht hatte er das Mädchen ja doch richtig verstanden. Dem Baum schien eine sonderbare Kraft innezuwohnen – andererseits fühlte Jamil die Hitze seines Körpers nur zu gut. Halb wach, halb träumend und im Fieber hörte er das Rauschen des Windes auch von fernen Städten sprechen, die es zu erkunden galt, von der Seherin und seinem Bruder und seiner Mutter … und dann von dem Volk, das in der nächsten Bucht lebte und das er gar nicht kannte.
In seinem Fieber hatte er das Gefühl, der Baum durchstrahle ihn mit blauem Licht, das so unendlich viel Wissen und eine fremde Sprache in sich trug.
Eine Weile lauschte er der Stimme und nahm alles in sich auf, dann überkamen ihn Schwindel und Schmerz und er sackte in die Schwärze zurück.
Die Jägerin hastete über die Wiese und stolperte mehrmals über Grasbüschel und Äste.
Ihr Kopf schwirrte und bei der Erinnerung an dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit wurde ihr schwindlig. Sein feurig glühender Blick hatte sie dazu gezwungen, ihm das Messer auszuhändigen!
Dieser Dämon hatte sie irgendwie dazu gebracht, ihm die Klinge zu geben – und seine Schmerzensschreie verfolgten sie über den Hügel.
Ashanee kauerte sich am Waldrand hinter einen Baum und lauschte, während ihr ganzer Körper zitterte und Tränen des Schreckens über ihre Wangen rollten.
Wie konnte er sich nur umbringen? Er war doch bereits zu dem Baum gelangt!
Einen Moment wollte sie nur noch die Flucht ergreifen und in den Wäldern nach Drissa und den anderen Jägern suchen. Doch was würde ihre Freundin von ihr denken, wenn sie einfach ihre Aufgabe hier von sich warf? Sie hatte eine Verantwortung …
Das Stöhnen des Sterbenden wurde leiser und schwächer. Sie sah schemenhafte Bewegungen bei der Silhouette des Baumes, die sich schwarz gegen den sternenglänzenden Nachthimmel abhob.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Asha aus ihrer Starre erwachte und sich ihre Gedanken endlich ordneten. Sie musste ihr neues Messer zurückbekommen. Wie sollte sie Haluschk oder ihrem Vater erklären, dass sie es nach kaum einem Tag schon wieder verloren hatte?
Der Dämon hatte schon eine Weile keinen Ton mehr von sich gegeben – und oben am Baum kam rauschender Wind auf!
Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie einen sanften, bläulichen Schimmer auf der Hügelkuppe wabern sah.
Mit offenem Mund beobachtete Asha, wie eisblaue Schatten über den Stamm des Hara–Baumes wanderten.
Erstarrt vor Faszination wurde ihr klar, dass sie in diesem Moment zum ersten Mal die Wunder des Geistes erblicken durfte, der in diesem Baum lebte.
Sie blinzelte mehrmals … und schon war das blaue Leuchten verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Ihr Herz schlug heftig und ihre Finger zitterten. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Diese Reaktion des Hara–Baumes konnte eigentlich nur bedeuten, dass der Geist die Seele des Sterbenden befreit hatte.
Sie musste ihr Messer holen und sichergehen, dass er wirklich tot war. Das war ihre Pflicht als Späherin.
Angst ließ ihr Herz wieder wild pochen. Wie sollte sie den Schamanen erklären, dass er ihr Messer genutzt hatte, um sich aus dieser Welt zu bringen? Das war sicherlich ein schreckliches Omen. Sie würde das Messer vermutlich tief im Wald vergraben und die Stelle segnen müssen.
Asha huschte im schwachen Schein der Mondsichel zum Baum, näherte sich dem Mann zögerlich, ehe sie sich neben ihm in die Hocke sinken ließ und ihr blutiges Messer aufhob.
Mit Gänsehaut auf dem ganzen Körper betrachtete sie sein Gesicht, das von Schrammen und blauen Flecken übersät war. Es wirkte noch so lebendig ... aber gehörte doch einem Toten.
Sie senkte den Blick und murmelte einen kurzen Segen, um seinen Tod zu ehren.
Der Fiebernde schrak aus seinem wirren Traum und spürte, dass er nur wenige Augenblicke weggedämmert gewesen war. Er hatte keine Kraft mehr, um nach den Wunden zu tasten. Ein kühles Flüstern erfüllte seinen Kopf und sagte ihm, dass der Blutfluss versiegt war und er nicht sterben würde.
Das Mädchen kniete wieder vor ihm und ein flammender, wütender Teil von ihm wollte sie anbrüllen, weil sie ihm nicht half.
Sie sprach von Geistern und einem Segen, doch er dämmerte immer wieder kurz weg und sah dann Spiralen aus eisigem Nebel und glühenden Flammen, die sich umkreisten. Sie bezeichnete den Baum über ihm als heilig, nannte ihn Hara … was in ihrer seltsamen Sprache wohl mächtiger Schutz bedeutete.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie am Ende ihrer kleinen Ansprache – nicht wissend, dass er noch lebte … und sie verstehen konnte.
Seine Augen waren halb geschlossen, sodass er kaum mehr als ihre weichen Lederschuhe sah, auf die das Mondlicht wilde Schatten warf. Sein Verstand sagte ihm, dass er eigentlich mit dieser dünnen Mondsichel niemals so gut hätte sehen dürfen … aber es erschien ihm seltsam unwichtig. Er dachte nur an sie.
Sein Arm lag ebenfalls in seinem Blickfeld, ganz nah an ihrem Fuß. Er sah, wie seine Finger zuckten, ohne ein richtiges Gefühl für den Arm zu haben.
»Es tut mir leid«, sagte sie erneut, diesmal etwas fester. »Ich bin mit schuld an deinem Tod, verzeih mir!«
Jetzt runzelte er die Stirn. Seine Lippen fühlten sich trocken und leblos an, aber er öffnete sie trotzdem. »Ich … ich bin nicht tot«, schaffte er zu sagen, es war kaum mehr als ein Hauchen im Wind, der das Gras um ihn sanft hin und her bewegte.
Sie schreckte zurück, doch plötzlich hielt seine Hand ihren Knöchel umfasst. Sie zog daran, fluchte und versuchte wegzukommen, dann hatte sich sein Griff gelockert und gab ihren Fuß frei.
Hastig machte sie einen Sprung von ihm weg und beobachtete argwöhnisch seinen schlaffen Körper, das Messer erhoben.
»Bitte … ich bin nicht tot!«, murmelte er flehend, jetzt ein wenig lauter. Er wollte energisch klingen, noch mehr sagen, aber es kam nur ein Röcheln aus seiner Kehle.
»Ich dachte, du wolltest dir das Leben nehmen, dein Leid beenden …«, murmelte sie. »Ich dachte, du seist verblutet, die Wunden sehen schlimm aus.« Sie duckte sich näher zu ihm und ließ sich auf ihre Knie nieder, ehe sie zu ihm kroch. Seine Hand fiel wieder zurück in das hohe Gras. Im Dunkeln konnte das Mädchen sein Gesicht sicher nicht richtig sehen, auch den Schmerz darauf nicht.
»Warum kannst du meine Sprache sprechen? Warum verstehst du mich? Ist das ein Trick? Dämonen können mit jedem sprechen, habe ich gehört«, meinte sie und rutschte etwas näher.
Sein Atem ging schwer und rasselnd. »Ich … ich habe dem Baum gelauscht. Er hat von … deinem Volk erzählt. Den Sukrani. Ich glaube, ein Gott lebt in ihm.«
Er hatte keine Kraft, um zu lachen, aber ein merkwürdiges Glucksen entwich seiner Kehle. Das war einfach zu unglaublich. Vermutlich träumte er noch immer, aber er würde das Spiel mitmachen, das sein Fieber mit ihm spielte. War das Mädchen überhaupt echt? Ein Teil von ihm bezweifelte es und tat sie als Hirngespinst ab.
»Für mein Volk ist der Hara–Baum heilig. Er kann Leben geben und heilen. Deshalb hatte ich dir bedeutet, zu ihm zu gehen. Ich dachte, er würde dich retten.«
Zorn wallte in ihm auf. »Aber ich bin weder tot noch lebendig … ich atme … ich leide … der Baum nimmt die Qualen nicht von mir!«, zischte er und konnte den Schmerz in seinen Worten nicht verbergen.
»Du sagst die Wahrheit, Fremder. Du bist nicht tot, aber ich glaube, du wirst es sein … bald. Sieh nur, was der Baum bewirkt«, hörte er sie sagen, als sie noch näher gekommen war und auf seinen Arm deutete. »Du wirst vielleicht nicht sterben … aber ins Reich der Toten führt er dich dennoch.«
Damit hob sie nach einem Zögern seine rechte Hand. Er drehte seinen Kopf schwach und sie hielt seinen Arm vor sein Gesicht, sodass das Mondlicht auf seinen Unterarm fiel – und hindurch.
Jamil riss die Augen auf. Dort wo das Licht seine Haut traf, war diese fast transparent, alles glitzerte grünlich und bläulich und Jamil konnte am Himmel verschwommen die Mondsichel durch seinen Arm sehen.
Sogar seine Knochen waren sichtbar und die Adern, die an den Muskeln entlang liefen.
Auf einmal war neue, verzweifelte Kraft in ihm. Jamil riss seinen Arm aus ihren Fingern und stieß sie weg.
»Nein!«, rief er krächzend. »Nein, ich werde nicht aufgeben! Ich werde kein Dämon!«
Von Angst und Wut erfüllt sammelte er all seine Kraft und stützte sich mit seinem gesunden Arm vom Boden ab. Doch er hielt sich keine zwei Atemzüge aufrecht, da knirschten die Knochenbrüche und voller Schmerz sackte er zurück zwischen die Wurzeln.
Er spürte neues Blut aus seinem Körper rinnen und mit ihm die letzte Hoffnung.
»Nein! Neeeein!«, rief er verzweifelt.
Ashanee kniete vor ihm und musterte ihn fasziniert. Noch nie hatte sie einen Verfluchten wie ihn gesehen, doch hatte sie sich diese Wesen der Nacht dank der Erzählungen ganz anders vorgestellt. Er schien so traurig und wütend über sein Dasein und sich seines alten Lebens vollkommen bewusst … War er nun ein Dämon? Oder wurde er zu einem Gehilfen des Hara–Baumes, da seine Augen so seltsam blau leuchteten?
Es war erst einmal ein Dämon in die Nähe ihres Dorfes gekommen, das war schon viele Jahre her. Sie konnte sich nur an die schaurigen Berichte der Alten erinnern. Er hatte rot glühende Augen gehabt und seine Haut war schwarz wie die Nacht gewesen, als er durch ihr Dorf hetzte und schrie, wie es kein menschliches Wesen vermochte. Da war kein Verstand mehr in ihm gewesen, keine Vernunft. Nur der Durst nach Tod und Feuer … so beschrieben es die Schamanen.
Und jetzt, nachdem der junge Mann auf seinen Arm gestarrt hatte, drehte er den Kopf zu ihr. Seine Augen schimmerten, als seien sie ein Tor zu einer anderen Welt. Sie waren türkis und glitzerten, als strahlten Sterne in ihnen.
Es war nichts mehr zu sehen von diesem feurigen, dämonischen Blick. Stattdessen schien der Geist selbst durch seine Augen zu blicken und jagte ihr damit eine Gänsehaut ein.
Wieder streckte er die Hand nach ihr aus.
»Bitte«, flüsterte er eindringlich. »Bitte, hilf mir! Bring mich fort von dem Baum und diesem grässlichen Ort! Sag meinen Leuten, dass ich lebe, sag ihnen, sie sollen mir helfen!«
»Das kann ich nicht! Du gehörst jetzt zum Geist des Hara–Baumes, er entscheidet über dich. Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du stirbst. Ich dachte wirklich, er würde dich heilen.«
»Nein! Dann töte mich! Ich will kein Dämon werden, der im Schatten des Todes existiert!«, meinte er flehend, aber die Stimme versagte ihm. Er hustete und verzog das Gesicht beim Geschmack des Blutes.
»Du bist schon ein Verfluchter. Ich habe es in deinem Blick gesehen, als du mir das Messer weggenommen hast. Der Geist des Baumes geleitet dich hinüber in die andere Welt, wahrscheinlich, um dich von diesem Dämon zu befreien.«
Er presste die Lippen aufeinander und echtes, menschliches Leid zeigte sich auf seinem Gesicht.
Als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme leblos. »Ich wusste nicht, dass man verflucht und ein Dämon … sein kann, ohne es zu spüren. Also, warum findest du … es nicht heraus, ob man mich noch töten kann? Nimm das Messer und … stich zu!« Seine Stimme wurde plötzlich energischer. »Schneid mir die Kehle durch und befreie mich von meinen Qualen, denn … ich dachte immer, Dämonen seien starke, mächtige Wesen – und nicht gebrochen, von Fieber und Schmerz halb von Sinnen, so wie ich. Wenn ich jetzt ein Dämon bin, dann will ich keiner sein, denn ich bin schwach und hilflos.«
Asha zögerte, dann machte sie einen Schritt auf ihn zu, das Messer hoch erhoben.
Es war erschreckend, wie zusammengesunken er da lag, aber sie sah auch das Glimmen in seinen Augen …
»Das ist eine Falle! Du willst, dass ich dir wieder näher komme!«
Sie meinte fast, so etwas wie ein verzweifeltes Lächeln auf seinen Zügen zu erkennen. Er versuchte zu lachen, doch es kam nur ein schwaches Gurgeln aus seiner Kehle. Sein Kopf lag noch immer seitlich an die Wurzeln gelehnt. Blut lief aus seinem Mundwinkel und auch die Wunden an seiner Seite hatten sich wieder geöffnet.
Sie verspürte den beängstigenden Drang, ihm zu helfen, ihm die Wunden zu verbinden und sein Leid zu lindern, doch ihre Vorsicht hielt sie zurück. Obwohl er unglaublich schwach wirkte, schien er nicht an dem Blutverlust zu sterben, wie es ein Mensch getan hätte.
»Ich kann mich nicht mal aufrichten, aber du hast Angst, ich könnte dir etwas antun«, murmelte er und lachte auf.
War er verrückt geworden? Sein Blick wirkte fiebrig, aber konnte ein Dämon krank sein? Sie hatte noch nie davon gehört, dass man sich ihnen so nähern, geschweige denn ein Gespräch mit ihnen führen konnte.
»Das Leben rinnt aus mir, aber ich sterbe nicht. Du glaubst, ich werde mich auf dich stürzen – dabei gibt es nur eine Person, die ich wirklich zerreißen möchte: Derjenige, von dessen Bogen die Pfeile schnellten, die mein Fleisch zerfetzt haben. Meine Familie denkt, ich sei verflucht, aber soll ich dir etwas verraten? Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist. Als ich von der Klippe stürzte und meine Knochen auf den Felsen zerschmetterten – da habe ich keinen Pakt mit einem Gott der Anderwelt geschlossen oder mich einem Geist als Hülle gegeben.«
Er hielt inne und zog rasselnd Luft ein. »Ich habe einfach überlebt. Aber für meine Leute bin ich ein furchtbares Monstrum in einem toten Körper, ein Albtraum. Unsere Seherin hat mich verbannt … und jetzt lassen mein Vater und meine Mutter mich leiden und hoffen, dass ich verschwinde … und sie sind zu feige, mich anzusprechen oder zu töten! Sie glauben, dass ich ein listiger Teufel bin, der so tut, als sei er noch ein Mensch, um ihnen nahe zu kommen. Und du … dummes Mädchen denkst … dasselbe wie sie …«
Dem Dämon versagte die Stimme. Er hatte all seine Kräfte in dieser energischen Rede aufgezehrt. Helles Blut lief aus seinem Mundwinkel, als er röchelte und anfing krampfhaft zu husten, dann erschlaffte sein Körper vollends.
»Ich habe so Durst …«, wisperte er mit rauer Stimme.
Ein Schaudern lief durch ihren Körper, das sie sich selbst nicht richtig erklären konnte. »Wirst … wirst du mich töten, wenn ich dir helfe?«, fragte sie leise.
Er öffnete zitternd die Augen und bei ihrem Gesichtsausdruck lachte er erneut röchelnd. Ashas Angst und Faszination wandelten sich in Ekel, als ihr sein Blut entgegen sprühte.
Einen Moment war sie erstarrt, dann wischte sie die feuchten Tropfen auf ihrem Gesicht mit dem Handrücken weg.
»Wann begreifst … du es endlich?«, fragte er mit zitternder, kaum hörbarer Stimme. »Egal, ob ich … nun ein Dämon bin oder nur ein … sehr armseliger Mensch. Ich denke wie du und werde vermutlich nur durch den Geist … dieses verdammten Baumes in dieser Welt gehalten … Selbst wenn ich bald sterben sollte, wünsche ich mir doch, dass du mich nicht noch beleidigst … Wer wäre denn so dumm, seinen einzigen Helfer zu töten?«
Asha presste die Lippen aufeinander und deutete ein Nicken an, bevor sie sich langsam aufrichtete und einen Schritt zurück trat.
Als sie weit genug entfernt war, wagte sie es, sich nicht mehr rückwärts von ihm zu entfernen. Sie warf einen letzten, forschenden Blick auf das Wesen, das noch immer nicht starb.
Dann fragte sie sich, was der Geist des Hara–Baumes wohl mit diesen Taten bezweckte. Sie sah, dass das Gras um den dunklen Körper in den letzten drei Tagen so hoch gewachsen war, das man ihn von weiter weg kaum noch sehen konnte. Nur seine Hand ragte zwischen den starken Halmen hervor und der Oberkörper lag erhöht an den Wurzeln des Baumes, wo sein Kopf auf einem dicken Knoten ruhte.
Seine Haut leuchtete schwach im Mondlicht, dann schoben sich große Wolken vor den Mond und sie hörte nur noch sein leises, flüsterndes Bitten nach Wasser.