Читать книгу Jamil - Zerrissene Seele - Farina de Waard - Страница 6

Der Sturm

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Ein heftiger Ruck riss Jamil aus unruhigen Träumen. Klamme Dunkelheit und der Geruch von modrigem Holz umgaben ihn. Erst nach und nach gewöhnten seine Augen sich an die Verhältnisse, während sein Magen gegen das Schwanken im Schiffsbauch rebellierte.

Er setzte sich in der miefigen Hängematte auf und ignorierte das Grollen seines Magens, denn der war ohnehin leer.

Irgendwo in der Dunkelheit hörte er die Seherin und ihre beiden Töchter beten, die es als Einzige ihrer Zunft aus den brennenden Tempeln auf das Schiff geschafft hatten.

Es war den Menschen erst allmählich bewusst geworden, dass sie alles verloren hatten und heimatlos waren. Vertriebene, Flüchtlinge, die ihre geliebte Stadt und deren Bewohner nie wiedersehen würden. Sie alle fragten sich verzweifelt, wie die Götter das hatten zulassen können … warum die Seherinnen der vielen Tempel so eine Katastrophe nicht vorhergesehen hatten.

Jamil dachte an Lezana und ihre Familie. Sein Vater hätte es völlig unabhängig von den Göttern ahnen müssen. Er selbst hätte wissen müssen, dass diese Verlobung ein verzweifelter Versuch von Lezanas Familie gewesen war, ihre einzige Tochter nicht an den Grauen König zu verlieren, der sie als seine Braut eingefordert hatte. Kas’Tiels Geschicke hingen schon immer davon ab, mit allen Nachbarn gute Handelsbeziehungen zu führen. Sie stellten besondere Waren her und hatten den größten, sichersten Hafen an der Küste. Nun war die Stadt dem Hass des Grauen Königs zum Opfer gefallen.

Jamil presste die Lippen zusammen, als er sich an gestern Nacht erinnerte. Balor hatte in der Hängematte neben ihm geschlafen und in seinen Träumen gemurmelt, dass alles die Schuld seines großen Bruders sei.

Ein weiterer Ruck lenkte ihn von seinen düsteren Gedanken ab. Das Schiff knarzte und ein hohes Pfeifen drang durch die verschlossene Luke.

Er stand auf und machte sich schwankend auf den Weg zur Treppe. Auf halbem Weg kam ihm seine Mutter entgegen, ihr Gesicht blass und mager. Im schummrigen Licht der Öllampen wirkte sie wie ein Geist.

»Navenne, was ist los?«

Sie klammerte sich an die vertäute Ladung neben der Treppe. »Wir sind in einen Sturm geraten! Aldo braucht dich an Deck.«

Jamil nickte langsam, während seine Gedanken rasten. Sie hätten schon bei den schroffen Felsinseln beinahe den Kampf gegen das Meer verloren – Jamil hoffte inständig, dass sie diese toten Inseln endgültig hinter sich hatten und der Sturm sie nicht zurücktreiben würde.

»Gut … beruhige die Frauen und Kinder, damit sie sich festhalten können. Bleibt hier unten, bis wir Entwarnung geben.«

Als er den Blick durch den dunklen Raum schweifen ließ, wurde ihm bewusst, dass er wohl gerade der einzige Mann unter Deck war. Stirnrunzelnd erklomm er die steile Treppe. Hatte sein Bruder ihn nicht wecken sollen? Was sollte das?

Mit Mühe drückte er die Luke auf.

Kalter Regen peitschte über das Schiffsdeck, auf dem die Männer bereits verbissen gegen den Sturm kämpften.

Jede der großen Wogen spülte salzige Gischt um ihre Füße und schlug donnernd über die Reling. Jamil klammerte sich in das Tauwerk, als eine neue Welle ihm die Füße von den Planken riss.

Seit fünf Wochen waren sie auf hoher See, hatten alle auf härteste Weise das Überleben an Bord erlernen und die traumatische Flucht vorerst verdrängen müssen. Zuerst waren die Furcht vor Verfolgung und die schrecklichen Träume ihr Feind gewesen, danach der Durst – jetzt lieferte der Sturm ihnen mehr als genug Trinkwasser, ohne dass sie es nutzen konnten.

Jamil hielt nach seinem Vater und Bruder Ausschau, doch Gischt und Regen verwischten jede Gestalt an Deck zu undeutlichen dunklen Schemen. Gemeinsam mit dem alten Moleno verknotete er einige lose Taue, war jedoch wie die anderen die meiste Zeit damit beschäftigt, sich irgendwo festzuklammern.

Nach einer Weile ließ der Regen endlich etwas nach und ein heller Streifen zeigte sich am Horizont. Ein Riss in der Wolkendecke, der auf besseres Wetter hoffen ließ.

Der Streifen blieb jedoch seltsam starr und an der gleichen Stelle … Jamil kniff die Augen zusammen, bevor er ächzte.

Eine Küste! Sie tauchte vor ihnen im wogenden Meer auf und verschwand wieder. Als er sie das nächste Mal durch den Regen sehen konnte, war sie schon beängstigend nah.

Die Männer brüllten gegen den Sturm an, der das Schiff und seine Besatzung unerbittlich mit sich riss. Unter Deck konnte Jamil die Frauen und Kinder weinen hören, während die Männer versuchten, das Schiff unter Kontrolle zu bringen.

»Holt die Segel ein! Wir müssen an Fahrt verlieren!«, schrie Jamil und hörte, wie sein Bruder fast zeitgleich den Befehl weitergab. Auch er hatte den Küstenstreifen entdeckt. Jeder an Deck kämpfte gegen den Wind und Seegang, doch es war unmöglich, die Segel zu reffen.

»Kappt die Seile!«, brüllte ihr Vater und Jamil zückte sein Messer. Nach einer viel zu langen Zeit fielen die Segel krachend auf die Planken. Der Sturm heulte und drückte sie dennoch unerbittlich mit den Wellen weiter.

Ein losgerissenes, dickes Tau peitschte knapp an Jamils Kopf vorbei, riss seinen Nebenmann von den Füßen. Er hangelte sich zu dem alten Mann, zog ihn ächzend wieder auf die Beine und hielt ihn fest, als das Deck sich senkte und im nächsten Wellental verschwand.

In der Strömung vor der Küste wurde das Schiff plötzlich gedreht und seitwärts von den Wellen weitergeschoben … Aldo schrie seinen Söhnen etwas zu, aber sie konnten durch das laute Tosen des Sturms kein Wort verstehen.

Eine Klippe tauchte hinter einigen Wellenkämmen auf und ragte wie eine gigantische Tempelmauer vor ihnen in die Höhe. Jamil packte den Alten fester.

Im nächsten Moment erzitterte das Schiff, als es krachend gegen die Felsen vor der Klippe schlug. Die Gestalten an Deck wurden allesamt zu Boden gerissen, Jamil bekam einen Hieb in den Rücken, als er gegen die Reling geschleudert wurde. Der Mast über ihnen schwankte bedrohlich, während sich der Rumpf mit dem donnernden Knirschen von splitternden Balken festsetzte.

Der Wind heulte weiter, als wäre nichts passiert … und einen kurzen Augenblick war nur der Sturm zu hören, bevor andere Geräusche an Jamils Ohr drangen.

Schreie wurden im Schiffsbauch laut. Er überließ den alten Tirin sich selbst und schlitterte über das nasse Deck zur Luke. Balor eilte ihm von Steuerbord entgegen und gemeinsam wuchteten sie die schweren Türen auf.

Unten breitete sich Panik aus, da Wasser in der Dunkelheit eindrang. Jamil sah im Schein der wenigen Öllampen, wie es schwarzem Pech gleich zwischen ihren Füßen anstieg.

»Beruhigt euch!«, rief Jamil über den Sturm und das Weinen der Kinder hinweg. »Wir holen euch raus!«

Er wollte noch mehr sagen, aber sein Bruder stürzte von der Luke weg.

»Wir müssen an Land!«, brüllte Balor gegen den Wind und schwang sich schon über die Reling. Jamil packte ihn bei den Schultern und starrte fest in die panischen Augen seines Bruders. Es kostete ihn all seine Kraft, Balor davon abzuhalten, sich über Bord zu stürzen.

»Sei kein Narr! Die Wellen sind viel zu hoch, sie werden dich gegen die Felsen schlagen und du ertrinkst!«

Balor wehrte sich noch kurz gegen seinen Griff, wurde jedoch bereits von Jamils erzwungener Ruhe angesteckt.

»Wir müssen durchhalten. Das Schiff sitzt fest, aber das bedeutet auch, dass wir nicht sinken können! Komm schon, wir haben die letzten Wochen auf dem Meer überlebt, da schaffen wir das auch! Geh zu Vater und zählt alle durch! Wir müssen wissen, ob jemand über Bord gegangen ist.«

Sein jüngerer Bruder nickte kantig und eilte davon. Jamil atmete tief durch, dann entdeckte er die beiden Schmiedelehrlinge Farnir und Felik, die sich noch immer an ein Seil klammerten.

Sie sahen ihn an wie einen Geist. Jamil hatte einen Moment lang das Gefühl, er sei bisher der einzige, der erkannt hatte, dass sie nicht ertrinken würden.

»Reißt euch zusammen! Wir sind alle keine Seeleute, aber es ist bald vorbei!«, sagte er etwas barscher als nötig, löste Farnirs schwielige Finger vom Seil und zog ihn auf die Beine. Dann endlich folgten die beiden ihm zurück zur Luke. Einige andere hatten sich mittlerweile ebenfalls beruhigt und schlossen sich an.

Jamil rutschte die steile, nasse Treppe hinab und spürte den Griff seiner Mutter, die ihre dünnen Hände um seinen Arm klammerte. Auch andere Frauen packten ihn angsterfüllt.

»Bringt alle Kinder nach oben!«, rief er seiner Mutter zu, schnappte sich eine der Öllampen und watete durch das steigende, schwarze Wasser zur geborstenen Schiffswand, aus der das salzige Nass unerbittlich ins Schiff sprudelte.

»Wir müssen alles ins Zwischendeck oder nach oben unter das Segel bringen, was nicht völlig durchnässen soll!«, rief er in die Runde und ergriff einen Eimer, der im Wasser trieb. Jamils Mutter wirkte zwar noch immer verängstigt, doch sie folgte seinem Beispiel und beorderte die anderen Frauen, den restlichen Proviant und andere Dinge vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen.

Sie zerrten alles aus den Ladungsnetzen und reichten es zur Luke, durch die gerade die Kinder hinaufgezogen wurden. Bei mehreren konnte er dunkelrote Flecken erahnen, auch einige Frauen wirkten stark mitgenommen, da der Sturm sie gegen die Ladung geworfen hatte.

Oben polterten Schritte laut über das Deck und Jamil hörte seinen Vater, der befahl, das heruntergeschnittene Segel zur Seite zu räumen.

Obwohl sie den Sturm überlebt hatten, wurde es eine der längsten Nächte ihres Lebens. Das Wasser drang an etlichen Stellen in den Bauch des Schiffes, das ihre einzigen Habseligkeiten beherbergte. Die Kinder wurden in dem schmalen Zwischendeck in die wenigen noch trockenen Stoffdecken gewickelt, doch unter ihnen war der Kampf gegen das Wasser aussichtslos. Vieles musste in der Dunkelheit bleiben, da sie es bei all dem Regen und nassen Holz nicht hinauf bekamen oder es ohnehin nur von Bord gespült worden wäre.

In einem kleinen Moment der Ruhe spähte Jamil durch die Regenschwaden auf das Land. Rechts und links ragten schroffe, schwarze Klippen in die Höhe, die im schwachen Dämmerlicht gar kein Ende zu nehmen schienen. Doch vor ihnen öffnete sich diese Wand zu einer Bucht. Jamil konnte durch den grauen Regen einen aufgewühlten kleinen Strand erkennen, auf den die Wellen mit weiß leuchtendem Schaum einschlugen.

Erst am Morgen flaute der Wind ab und die Wogen beruhigten sich. Die dunkle Wolkendecke riss auf und dichte Nebelschwaden trieben über die bewaldeten Hügel, die jetzt hinter der Bucht zum Vorschein kamen.

Balor und Jamil kletterten unter dem Blick der Versammelten an einer Strickleiter auf die Felsen hinab, die ihr Schiff aufgeschlitzt hatten. Ihr Beiboot hatte sich schon zu Beginn des Sturmes losgerissen und war verschwunden, also mussten sie eine andere Lösung finden.

Während die Leute oben an Deck angespannt warteten, suchten Jamil und sein Bruder gemeinsam einen Weg durch das Wasser. Glücklicherweise wurde es direkt hinter den großen Felsen, gegen die das Schiff getrieben war, so flach, dass sie dort stehen konnten. Andere folgten ihrem Beispiel.

Sie reichten die Kinder von Arm zu Arm, halfen den Frauen und Alten und waren alle durchgefroren und erschöpft, als sie endlich den Strand erreichten.

Die alte Yesima hielt sich resolut auf den Beinen, als sie, gefolgt von ihren Töchtern, die Bucht hinauf in die sanfte, große Senke zwischen zwei Hügeln schritten. Sie kostete von dem Wasser des Baches, der an einer Seite der Senke zur Bucht hinunter plätscherte und nickte dann wohlwollend.

Jamils Blick wurde bereits von der Tiefe des nahen Waldes angezogen. Nach der langen Zeit auf dem Schiff trug ihm der Wind jetzt den Geruch von nasser Erde und grünen Bäumen entgegen. Es lockte ihn, zwischen die Baumriesen zu treten und die fremde Natur zu erkunden.

Doch zunächst verhinderten das seine Pflichten als erster Sohn des Rätors. Die Seherin zog unter dem Blick der Versammelten siebzig Seelen einige Knochen aus einem nassen Beutel und befragte die Götter, während die Schiffbrüchigen angespannt vor dem friedlich wirkenden Wald in der Senke warteten.

Yesima warf die Tierknochen auf ihr Tuch, murmelte heilige Formeln und kniete sich auf die Erde. Im nächsten Moment sackte ihr der Kopf auf die Brust und sie zitterte, schwankte und flüsterte.

Jamil stand schräg hinter ihr und konnte sehen, dass ihre Augen nur noch das Weiße zeigten. Alle hielten den Atem an, als sie sich endlich wieder aufrichtete und an ihre Schützlinge wandte.

»Dieses Land ist den Göttern genehm! Sie geben uns ihren Segen und werden uns schützen, wenn wir hier siedeln. Doch wir müssen möglichst bald einen Schrein für sie errichten, denn sie verlangen ein großes Opfer für ihren Schutz auf dem Meer. Nur dank ihrer Hilfe konnten wir die toten Felsinseln und den Sturm überstehen.«

Ein allgemeines Aufseufzen ging durch die Menge, während Jamil still die Augen verdrehte.

Als ob man das Schutz nennen könnte, dachte er für sich, erwiderte aber das erleichterte Lächeln seiner Mutter.

Sie überließen die beiden Töchter der Seherin ihren Gebeten und Jamil wartete neben seinem Vater, um sich mit ihm, Balor und der alten Yesima zu beraten. Aldo starrte mit gerunzelter Stirn auf die bewaldeten Hügel.

»Wir sollten nach Dörfern suchen, vielleicht kann man uns aufnehmen und helfen«, schlug Jamil vor, da sein Vater keine Anstalten machte, selbst zu sprechen.

Der Blick der Seherin wurde sofort missbilligend. »Wir brauchen jetzt allen Zuspruch und Schutz der Götter, junger Rätorsohn. Wir dürfen sie nach diesem Sturm nicht erzürnen.«

»Die Götter würden sicher nicht wollen, dass wir hier verhungern!«, wandte er ein und deutete auf die unterkühlte Gruppe. Siebzig Augenpaare waren auf sie und ihre geheime Unterredung gerichtet.

Auch Aldo schüttelte den Kopf. »Nein, die Seherin hat recht. Wir bleiben hier und kümmern uns um uns selbst. Hier gibt es Trinkwasser, im Wald sicherlich Wild und in der Bucht Fisch. Ich habe von diesem Land schon von manchen Reisenden gehört. Nichts als Wildnis. Wir sind auf uns allein gestellt.«

Jamil hielt das für engstirnig. Soweit er von ebendiesen Händlern gehört hatte, reiste niemand hierher, weil das Meer eine sichere Überfahrt eigentlich nie zuließ. Doch alle waren erschöpft und die Schrecken des Überfalls auf Kas’Tiel saßen ihnen auch nach der langen Fahrt noch immer in den Knochen.

Vielleicht sollten wir uns wirklich erst hier erholen. Ich kann den Vorschlag einer Weiterreise in ein, zwei Wochen erneut einbringen, wenn sie sich nach Zivilisation sehnen.

»Du kümmerst dich um unsere Versorgung mit Feuerholz und dein Bruder um die Jagd.« Aldo zog eine Augenbraue hoch, doch sein Blick wurde hart, als sein Sohn den Mund öffnete. »Und ich will keine Diskussionen. Ihr macht, was ich euch sage! Und was die Götter wünschen!«

Jamil spürte den kritischen Blick der Seherin, als er sich widerwillig abwandte und einige Frauen an den Waldrand begleitete. Balor scharte die Männer um sich, die er während der Überfahrt auf den vorausschauenden Befehl ihres Vaters hin schon in Jagdstrategien unterwiesen hatte.

Nach einem kurzen Zögern betrat Jamil den kühlen Schatten des Waldes. Auch hier hatte der Sturm anscheinend gewütet, denn der Boden war übersät von abgerissenen Ästen. Er ließ seinen Blick wandern, genoss den lebendigen, erdigen Geruch der Natur und fühlte sich augenblicklich wohl. Solche Wälder hatten sie um Kas’Tiel schon lange nicht mehr ihr Eigen nennen können. Das wenige Land außerhalb der Stadtmauern war bewirtschaftet worden – dies hier aber war Wildnis, die sich scheinbar endlos über die Hügel und entlang der Küste zog.

Jamil riss sich schließlich von der Anziehungskraft des Waldes los und beruhigte die Frauen, die jedes Mal nervös zwischen die Bäume spähten, wenn es irgendwo knackte oder ein Vogel aufflatterte.

Sie sammelten Feuerholz in dem Waldstück, das an die Senke angrenzte, und kehrten in das Lager zurück.

Schon bald nach der ersten Mahlzeit an Land erwachten die Lebensgeister der Gruppe. Die Kinder klaubten Steine und Muscheln zum Spielen auf und ihr Lachen erfüllte alle mit einem ersten Hoffnungsschimmer.

Obwohl der Sturm ihnen schwer zugesetzt hatte, räumten Jamil und seine Freunde noch am Nachmittag alles, was sie bei Ebbe erreichen konnten, aus dem Bauch des Schiffes.

Zuletzt musste er tauchen, fand noch einiges an Werkzeug und gab dann den Rest vorläufig auf. Farnir zog ihn aus der Luke hoch und einen Moment lang saß er nass an Deck und atmete schwer. Anschließend hielt er stolz die Säge hoch, die er unten im Wasser ertastet hatte und lachte erleichtert.

Farnir und Felik stimmten mit ein und machten sich daran, aus Brettern eine provisorische Plattform zu zimmern, auf der sie ihre Habseligkeiten treibend an Land bringen würden.

»Es liegt noch einiges unten, aber dafür müssen wir auf eine besonders niedrige Ebbe hoffen«, meinte Jamil in die Runde, als weitere Männer an Bord kamen, um Sachen aus dem Zwischendeck zu bergen.

Währenddessen konnte er vom Schiff aus sehen, dass die ersten Zelte zwischen den Hügeln aus Segeltuch improvisiert worden waren.

Jamil watete mit einem Sack voll feuchter Kleidung auf dem Kopf zurück ans Ufer und holte noch ein paar helfende Hände hinzu, da die Ebbe wohl nicht mehr lange anhalten würde.

»He! Jamil!«, brüllte Farnir ihm vom Schiff aus zu. Einige Möwen flogen kreischend davon und kreisten aufgebracht über der Bucht. »Bleib ruhig an Land, hörst du! Mach mal Pause!«

Feliks raues Lachen schallte über die Bucht und Jamil winkte den beiden dankbar zu, bevor er das Bündel zum Lager trug. Er spürte den Blick von Yesimas Tochter auf sich ruhen, als er den Stoff auseinanderschlug und sich trockene Kleidung überstreifte, ignorierte ihre neugierigen Augen aber.

Jamils Bruder und seine Jäger erlegten in der Abenddämmerung einen Hirsch, was die Seherin als gutes Omen deutete. Balor brüstete sich damit wie ein junger Gockel. Die alte Frau opferte das Herz des Tieres und bat die Götter um ihren Beistand und Schutz vor der Wildnis und bösen Dämonen, die vielleicht auch in diesen Wäldern lauerten.

Wie die Seherin waren auch die anderen Überlebenden sehr verhaftet in ihren Glauben und fürchteten, dass ihr Auftauchen in diesem fremden Land das Böse anziehen könnte.

Dennoch entging Jamil nicht, dass die meisten der Flüchtigen von tiefem Elend erfüllt waren. In der ersten Nacht fand kaum jemand Ruhe, während die dunkle Stille immer wieder vom Weinen und Schluchzen der Schiffbrüchigen unterbrochen wurde.

Es war eine überraschend laue Nacht nach dem Sturm und so lag Jamil draußen neben dem Zelt seiner Eltern und starrte hinauf in die Sterne. So viele hatte man in Kas’Tiel nie sehen können.

Er wollte seinen Bruder darauf aufmerksam machen, doch der hatte ihm abweisend den Rücken zugekehrt und schien zu schlafen.

Ein Kind weinte in der Dunkelheit, während Jamil den Nachthimmel beobachtete. Er wusste nicht, was er fühlen sollte.

War er erschüttert, weil das Erreichen dieses fremden Landstrichs besiegelte, dass sie ihre Heimat nie wieder sehen würden? Erstaunlicherweise verspürte er nur Erleichterung, bevor er endlich wegdämmerte.


Auf einem Steinplateau nahe der Bucht errichteten die Trauernden am frühen Morgen unter Anweisung der Seherin eine Gedenkstätte für ihre verlorenen Freunde und Familienmitglieder.

Danach waren sie damit beschäftigt, ihre Ausrüstung zu trocknen und weitere Zelte aus den Segeln zu errichten.

Navenne und ihre älteren Helferinnen pflegten zusammen mit der Seherin die Kranken und Verletzten, nachdem Jamil einige Frauen auf der Suche nach heilenden Kräutern begleitet hatte.

Sein Blick ruhte auf seiner Mutter, der sanften, aber auch gebieterischen Frau, die in Kas’Tiel als Schreiberin für ihren Mann ehrenvolle Arbeit geleistet hatte. In diesem Moment beschloss er, dass er alles dafür tun würde, um wieder etwas Freude und Sicherheit in ihr Leben zu bringen. Bald würden sie alle die Zeit der Entbehrung auf dem Schiff vergessen können und auch der Schmerz ihrer Verluste würde irgendwann verblassen. Hoffentlich.

Jamil schreckte aus seinen Gedanken, als sich Schritte näherten.

Balor kam mit ernster Miene auf ihn zu und hatte in typischer Manier eine Hand auf dem Jagdmesser an seinem Gürtel liegen.

»Du scheinst dich ja schon wie daheim zu fühlen«, meinte Jamil schmunzelnd und nickte zu der Waffe hin.

»Ich werde mich nie mehr irgendwo heimisch fühlen und das weißt du«, schnappte Balor zurück. »Kas’Tiel war unsere Heimat und wurde von den Grauen vernichtet.«

Jamil spürte, dass sein Bruder streiten wollte – und hier hatten sie das erste Mal seit Wochen die Möglichkeit, allein zu sein. Seufzend deutete er den Hügel hinauf. Er wollte Balor eine Gelegenheit geben, sich nach all den Strapazen etwas abzureagieren, wenn das nötig war, um seinem Bruder wieder näher zu kommen … und bei dem Anlass auch einen Blick auf die Landschaft dahinter werfen.

»Was hältst du von einem kleinen Ausflug?«

Balor brummte etwas und folgte ihm mit finsterer Miene den Hang hinauf. Kaum waren sie ein Stück vom Lager entfernt, hielt er Jamil an der Schulter zurück.

»Nur um das gleich zu klären: Vater hat mir die Verantwortung für die Jäger und Wachen übergeben. Du sollst mit ihm zusammen den Aufbau des Lagers organisieren und ich werde uns beschützen, nachdem ich die Umgebung gesichert habe. Vater will, dass ich die Wälder erkunde und nach Gefahren Ausschau halte.«

Jamil verdrehte die Augen, bevor er nickte. Es schien fast, als glaube sein Bruder, dass sie gleich von der nächsten Meute Soldaten überfallen würden, dabei war dieses Land völlig verlassen. »Du hast mein vollstes Vertrauen dabei.«

»Wirklich?«, fragte Balor bissig. »In Kas’Tiel hast du jede meiner Ideen verworfen und auf dem Schiff hast du mich herumkommandiert wie einen Lakaien!«

Jamil hob beschwichtigend die Hände. »Balor, du weißt, dass das so nicht stimmt. Ich war im Gegensatz zu dir schon auf mehreren Handelsfahrten für Vater unterwegs und kannte mich deshalb etwas besser aus. Aber das ändert nichts daran, dass wir das ohne dich nie geschafft hätten.«

Sein kleiner Bruder ballte die Fäuste. »Das hätte alles ganz anders kommen müssen bei dem Angriff.«

Jamil unterdrückte ein Seufzen. »Wir haben das schon unzählige Male durchgekaut, Balor.«

»Gut, dann weißt du ja auch, dass ich nicht von meiner Sicht abweichen werde. Vater hat fatale Entscheidungen getroffen und du auch! Du …«

Gerade als er sich in Rage reden wollte, unterbrach er sich selbst. »Riechst du das?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

Jamil schnupperte in den Wind. »Nein, was?«

»Das ist Rauch.«

Zuerst wollte Jamil etwas Schnippisches über ihre Lagerfeuer in der Senke erwidern, bis ihm auffiel, dass der Wind aus der anderen Richtung kam, vom Wald her, der völlig unberührt wirkte.

Sein Bruder zog das Messer und eilte den Hügel hinauf, wo ein großer, mächtiger Baum stand.

Statt einer Horde Angreifer fanden sie dort aber lediglich einen dürftigen Pfad, der zu den knorrigen Wurzeln des Baumes führte. In den tiefen Furchen der Rinde lagen kleine geschnitzte Figuren und welker Blumenschmuck.

Balor steckte langsam das Messer weg und hob eine der Götzen auf, drehte sie zwischen den Fingern und streckte sie dann Jamil hin.

»Hier in der Nähe leben Menschen. Und dem hier nach zu urteilen sind es irgendwelche Wilden, die diesen Baum verehren!«

Jamil nahm ihm die Schnitzerei ab, die eine kleine Frauengestalt mit langem Zopf darstellte. »Ich würde nicht so schnell urteilen. Wir könnten Glück haben und auf Leute treffen, die uns helfen. Wir haben viel durchgemacht und könnten Unterstützung gebrauchen.«

»Das sind Fremde! Wir dürfen niemandem trauen!«

Auf einmal hatte Jamil das Gefühl, dass sein Bruder stur das wiederholte, was ihr Vater schon gesagt hatte. »Balor, ich bitte dich, mach jetzt keinen Fehler. Wir sind hier die Fremden.«

Balor schnaubte. »Keine Sorge, Bruder. Ich mache keine Fehler mehr, das habe ich zur Genüge in Kas’Tiel getan, als ich dich Entscheidungen fällen ließ, die uns alle angingen!«

Jamil spürte, dass sich die Wut seines Bruders nicht nur gegen ihn, sondern gegen die ganze Welt richtete.

Lezanas Vater und Aldo hatten die Heirat mit der Königstochter geplant – nicht er. Doch in Balors Augen schien das nicht relevant zu sein.

Er wollte ihn trösten, ihm beistehen, aber sein jüngerer Bruder war schon auf der ganzen Schiffsfahrt unnahbar gewesen.

Jetzt wandte er sich ab und murmelte, dass die anderen Jäger auf ihn warteten und er erst in ein paar Tagen zurück sein würde.

Natürlich waren die Wochen auf dem Schiff nicht ohne Spuren an ihnen vorbeigegangen. Alle Mitglieder ihrer kleinen Gemeinschaft waren vor ihrer Flucht das ruhige, friedliche Leben in der sicheren Handelsstadt gewohnt gewesen … nur durch Glück konnten sie jetzt tüchtige Handwerker und ein paar Jäger zu ihrer Gruppe zählen.

Der Zufall – oder laut der Seherin wohl eher der Wille der Götter – hatte bestimmt, wer auf das Schiff gelangt war und daher überlebte.

Doch diese Ereignisse rechtfertigten nach Jamils Meinung nicht das Verhalten seines Bruders.

Seufzend betrachtete er die vertrockneten Blumenketten zwischen den Wurzeln, setzte sich hin und lehnte den Kopf an den Stamm.

»Nur einen Moment Ruhe, bevor es weiter geht und unser neues Leben beginnt«, murmelte er und sah hinauf in die prächtige Krone des Baums, bevor er die Augen schloss und matt lächelte. »Immerhin den Baum kann nichts erschüttern. Ich werde dafür sorgen, dass er den Äxten nicht zum Opfer fällt.«

Seine Gedanken kreisten noch um die Pläne seines Vaters, als er hinabsank, in die Tiefe von Erschöpfung.


Wasser. Es sprudelte aus allen Ritzen im Schiffsbauch, in dem er eingeschlossen war. Innerhalb eines kurzen Atemzugs hatte es das halbe Schiff gefüllt, riss ihn von den Füßen und trieb ihn nach oben.

Jamil sah nur noch Spiralen aus tanzenden Luftblasen. Sein Kopf prallte gegen das Zwischendeck. Er schlug mit den geballten Fäusten gegen die geschlossene Luke über sich und brüllte, doch das Wasser zog ihn bereits in die Tiefe. Es zerrte an seiner Kleidung, während die Luft aus seinen Lungen wich … Alles wurde schwarz … und plötzlich waren da Flammen! Das Wasser selbst schien sich zu wandeln, wurde zu einem Feuerball, der alles um ihn verschlang.

Gesichter, voller Asche und schwarz angesengt, tauchten zwischen den Flammen auf, starrten ihn aus toten Augen vorwurfsvoll an … Er sah Freunde aus Kas’Tiel, den Vater von Felik und Farnir … die alte Mutter von Marifa … so viele bekannte Gesichter. Er musste ihnen helfen, sie aus dem Feuer holen! Doch wenn er die Hände nach ihnen ausstreckte, zerfielen sie zu Ruß und Kohle und verschwanden. Sein Grauen wuchs und wuchs – bis Lezana in den Flammen erschien.

Lezana. Tochter ihres Königreiches Loranien …

Tränen hatten lange Striche in ihr rußverschmiertes Gesicht gezogen. Sie streckte die aschebedeckte Hand nach ihm aus und ihr Blick war schrecklich, verzehrend und anklagend.

»Du hast mich nicht beschützt, Jamil! Warum warst du nicht bei uns und hast dieses Unglück verhindert? Ich leide! Ich brenne!«

Ihre Finger berührten ihn … ihre langen blonden Haare wallten im heißen Wind um ihr Gesicht … und ihre Augen entflammten in einem feurigen Rot und sprühten Funken.

»Ich brenne!«

Jamil schreckte ruckartig aus dem Traum auf. Glitzerndes Sonnenlicht drang durch das Blätterdach über ihm.

Schwer atmend setzte er sich auf und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, um die Haare wegzustreichen.

Langsam beruhigte er sich wieder. Er war nicht mehr auf dem Schiff … und auch nicht mehr in Kas’Tiel.

Bei der Erinnerung an Lezanas Blick wurde ihm schwer ums Herz. Auch wenn er nicht an die Götter und ihre Dämonen glaubte, die sie als Strafe manchmal auf die Menschen losließen, so erschien ihm dieser Traum doch als seltsames Omen. Er hatte nie einen dieser Todesengel zu Gesicht bekommen, doch es waren immer wieder Boten in Kas’Tiel eingetroffen, die von ihren schrecklichen Taten berichteten. In den letzten Jahrzehnten waren sie besonders häufig in dem Gebiet des grauen Königreiches aufgetaucht … und angezogen von Tod und Hass sollten sie laut der Erzählung so aussehen, wie in seinem Traum – mit glutroten Feueraugen und umgeben von Flammen.

Jamil seufzte, erhob sich und betrachtete den großen, mächtigen Baum, an dessen Stamm gelehnt er eingenickt war. Zuvor war er so auf seinen Bruder fixiert gewesen, dass er diesen Ort kaum hatte wertschätzen können, jetzt wollte er nicht mehr über den Traum nachdenken und sich bewusst ablenken. Seltsamerweise schien er der einzige zu sein, dem bisher die Schönheit dieser Natur aufgefallen war.

Die Wurzeln des Baumes klammerten sich wie lange, knorrige Finger in den Boden, während sich der gewundene Stamm in den Himmel streckte.

Von der Kuppe dieses Hügels aus konnte Jamil einen sanften Rauchschleier über dem Wald erkennen. Das fremde Dorf musste hinter dem nächsten oder übernächsten Hügel liegen, vermutlich auch in der Nähe einer Bucht.

Die Landschaft wellte sich fast regelmäßig an der Küste entlang, die Senken zwischen den Hügeln mündeten jedes Mal in kleine Buchten.

Jamil atmete langsam durch, verließ den alten Baum und lief über die sanft abfallende Hügelkuppe in Richtung der Abbruchkante, um hinunter zu spähen.

Die Klippe war tief und voller spitzer Vorsprünge, die unten in die raue See übergingen. Wenn er links an ihr entlang sah, war die Bucht mit dem Kiesstrand zu erkennen. Er konnte auch das Lager sehen, das sich zwischen die weiten, offenen Hügel schmiegte. Ein guter Platz für ihre neue Heimat.

Doch dieses Land gehörte schon jemandem. Er musste mit Aldo darüber sprechen und ein Treffen erwirken, bevor sein Bruder etwas Dummes anstellte.

In dem Moment, als er die Klippe verlassen und zum Lager unten zurückkehren wollte, entdeckte er die junge Frau. Sie folgte dem Rand der Klippe die Wiese hinauf, direkt auf ihn zu, war jedoch auf einen Korb mit Blüten und Früchten in ihren Armen konzentriert.

Jamil war sofort von dieser Fremden fasziniert. Ihre offenen welligen Haare wogten in der Meeresbrise wie schwarze Seide und verbargen immer wieder die hohen Wangenknochen und geschwungenen Lippen. Ihr schlanker Körper war in schmiegsames Leder gekleidet, das ihre Figur betonte und den sicheren, eleganten Gang hervorhob.

Angespannt blieb er stehen und wartete. Als sie zum Baum streben wollte, bemerkte sie ihn und erstarrte. Obwohl ihre Miene sofort misstrauisch wurde, zeigte sie keine Angst und hielt seinem Blick stand. Vertieft in ihre Erscheinung, nahm er eine weitere Bewegung nur im Augenwinkel wahr.

Ein kurzes Surren drang an sein Ohr, ein Ruck ging durch seinen Körper – und stechender Schmerz breitete sich in seiner rechten Seite aus.

Plötzlich wurde alles seltsam langsam, während er den Kopf senkte, an sich herabstarrte. Ein Pfeil steckte rechts in seiner Brust, zwei Handbreit unter der Achsel.

Ein schriller, langgezogener Aufschrei erreichte sein Ohr. Nach einem Moment ordnete er ihn als den der Frau ein. Ihre Stimme klang verzerrt, drang wie durch Watte zu ihm.

Von Schmerz und Schwindel erfüllt, blickte er von der Wunde auf, an deren Rand sich sein Hemd bereits mit Blut vollsog. Die Fremde hatte sich in die Wiese gekauert und starrte ängstlich zu ihm herüber.

Der Schmerz betäubte ihn, die Welt um ihn herum verlor an Farbe und das Rauschen des Meeres dröhnte in seinen Ohren – oder war es sein Blut?

Er machte einen wankenden Schritt auf die junge Frau zu und hob die Hand … dann spürte Jamil, wie ein zweiter und dritter Pfeil in seine Seite einschlugen und explosionsartige Schmerzen in seinem Körper entfachten.

Sein Aufschrei wandelte sich in ein Röcheln. Er schmeckte Blut, als sein Blick trüb und verschwommen wurde und er das Gleichgewicht verlor.

Tiefe Schwärze breitete sich um ihn aus.

Jamil sackte weg und hatte das Gefühl, dass sich alles verschob. Er sah die schreckgeweiteten Augen der Fremden und dann fühlte er, wie sein erschlaffender Körper von der Klippe stürzte.

Den Aufprall auf die Felsen in der aufgewühlten See spürte er schon nicht mehr.

Jamil - Zerrissene Seele

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