Читать книгу Das Biest in Dir - Felix Hänisch - Страница 10
ОглавлениеDie Großen Brüder
»Los, Darius, beeil dich!«, tönte es leise, aber durchdringend aus dem dunklen Raum, hinter der sperrangelweit offen stehenden Eingangstür.
»Moment noch, ich komme gleich«, erwiderte eine andere Stimme zischend und deutlich aggressiver.
»Der Plan war: Rein und raus. Wir wollen hier nicht einziehen«, erhob Ryu, ein junger Mann, dem die Schweißperlen der Nervosität deutlich im Gesicht standen, wieder das Wort.
»Gut, ich hab alles. Lass uns verschwinden«, antwortete ihm sein Komplize. Ein großer, breitgebauter und ebenfalls noch sehr junger Krimineller, der einen halb vollen Sack mit Diebesgut in seinen Händen hielt.
Mit schnellen Schritten, jedoch nicht rennend, verließen die beiden das vornehme Herrenhaus, wobei sie sich von jeder Lichtquelle fernhielten und versuchten so gut wie möglich mit der Nacht zu verschmelzen. Obwohl sie inzwischen Routine darin hatten, die Häuser reicher Leute auszurauben, begleitete sie dennoch jedes Mal panisches Herzklopfen auf ihrer Flucht und die ständige Angst, dieses Mal erwischt zu werden. Beide hatten die Ohren gespitzt, um ja kein Geräusch in der sternenklaren Nacht zu überhören. Während sie liefen, ohne dass sie wagten, sich umzudrehen, erwarteten sie beinahe schon das Rufen der Stadtwachen und das Bellen der Jagdhunde. Aber beides blieb aus.
Nachdem die zwielichtigen Gestalten einen kurzen Fußmarsch hinter sich gebracht hatten, der sie teilweise über das Gebiet eines ausgedienten Steinbruchs führte, erreichten sie endlich den sicheren Waldrand und gönnten sich eine Rast, um ihre Habe zu betrachten.
»Hab schon mal eine bessere Ausbeute gesehen«, beschwerte sich Ryu grummelnd, als er in den Sack sah. Er war der ältere von beiden und versuchte durch seine Nörgelei zu überspielen, dass er eigentlich ziemlich zufrieden war.
»Wenn du mir ein bisschen mehr Zeit gegeben hättest, dann wär bestimmt auch noch mehr rein gewandert«, knurrte Darius ihn mit verengten Augen an.
»Bei dem Lärm, den du gemacht hast, wundert es mich, dass die Leute in der Bude nicht aufgewacht sind«, konterte Ryu ernst und ließ seinen geschulten Blick über die Beute schweifen, um den Wert zu bestimmen.
»Und wenn schon, mit denen wären wir zwei doch fertig geworden«, erwiderte Darius, nun wieder etwas versöhnlicher.
»Fang nicht an zu spinnen, die hätten rumgeplärrt wie am Spieß und die ganze Nachbarschaft aufgeweckt«, schimpfte Ryu, während er geistesabwesend einen Finger nach dem anderen ausstreckte, um besser zählen zu können. »Bei unserem Glück wäre die Stadtwache auch gleich zur Stelle gewesen und mit denen werden nicht einmal wir fertig. Nein, es war schon gut so, wie wir’s gemacht haben. Immerhin, gut dreihundert Basren müsste das ganze Zeug wert sein, das wird uns alle für ein paar Wochen satt machen. Hoffentlich«, fügte er etwas leiser hinzu, sodass sein Bruder ihn nicht hören konnte. Denn in letzter Zeit war das leider nicht mehr allzu selbstverständlich.
»Du hast ja recht, Ryu«, stimmte ihm Darius nickend zu. »Aber wer weiß, wie lange das noch gut geht. Manchmal wünsche ich mir eine richtige Arbeit. Du nicht auch?« Gedankenverloren starrte der Jüngling in die silbrig glimmenden Sterne. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Stell dir das doch mal vor, wir müssten nicht mehr Angst haben, dass uns eines Tages die Wachen schnappen und wenn wir irgendwo hinkommen, sagen die Leute nicht mehr: Dieb oder Gammler. Das wär doch was, oder?«
»Du hast dir deine Frage gerade eben selbst beantwortet, kleiner Bruder«, entgegnete Ryu weise. »Überall, wo wir hinkommen, haben die Leute bereits eine schlechte Meinung von uns, darum kommen wir aus diesem Dämonenkreis nicht mehr heraus. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb. Und außerdem wäre das nichts für dich, du bist nicht der Typ, der morgens aufsteht, sein Feld bestellt und sich abends wieder schlafen legt. Der Schlag Menschen, zu dem wir gehören, braucht diesen Nervenkitzel und das Besondere.«
»Ist schon klar«, meinte Darius schulterzuckend. »Ich würde aber auch was Besseres machen, als ein blöder Viehbauer zu werden.«
»Ach ja?« Ryu schnaubte sarkastisch.
»Ja!«, zischte Darius zynisch. »Kopfgeldjäger zum Beispiel. Ein guter Fang und wir hätten auf einen Schlag ausgesorgt. Dann müsste keiner im Dorf mehr Hunger leiden.«
Ryu lächelte, entgegnete jedoch nichts und ließ seinen, noch etwas naiven, kleinen Bruder in seinem Glauben. »Leg dich jetzt besser schlafen, in ein paar Stunden wird es hell, dann wird man nach uns suchen und unser Vorsprung ist nicht sehr groß. Wir müssen ausgeruht sein, wenn wir noch eine falsche Fährte legen und zum Mittag wieder zuhause sein wollen. Miree macht falschen Hasen.«
»Der schmeckt mir fast noch besser als echter«, lachte Darius und legte sich hin. Ryu stimmte noch kurz in das Gelächter mit ein, bevor auch er sich niederlegte. Mit den Gedanken war er aber noch immer bei den Worten seines Bruders.
Darius und er waren keine leiblichen Brüder, ebenso wenig wie Miree ihre Schwester war. Eigentlich war kaum einer aus dem Dorf mit irgendeinem anderen verwand. Zumindest nicht, wenn man von der Blutlinie ausging. Dennoch waren sie alle eine große Familie. Aus diesem Grund nannten sie sich: Die Großen Brüder. Was heroisch klang, war jedoch in Wahrheit nichts anderes, als ein großes Waisenhaus und eine Räuberbande.
Ryu selbst war mit acht Jahren, als ältestes von sieben Kindern, zuhause rausgeworfen worden. Das Essen hatte nicht mehr gereicht und das bisschen Geld, was seine Mutter am Töpferstand verdiente, wurde von seinem Vater mit beiden Händen beim Kartenspielen zum Fenster hinausgeworfen. Zumindest wenn er es nicht schon vorher versoffen hatte. So kam Ryu, vor nunmehr sechzehn Jahren, fast zeitgleich mit Darius, in jenes abgelegene Dorf von kriminellen Kindern und jungen Erwachsenen. Darius war damals noch ein Säugling. Irgendjemand hatte ihn hier ausgesetzt, Ryu konnte sich nur noch schlecht daran erinnern. Was er jedoch noch sehr genau wusste, war, dass sich hier zum ersten Mal in ihrem Leben jemand richtig um sie gekümmert hatte. Gemeinsam war er mit Darius als seinem Bruder aufgewachsen. Und so fühlten sie sich auch. Im Geiste enger verbunden als Blut es jemals gekonnt hätte.
Seit ihr älterer Bruder von damals vor einigen Jahren bei einer Messerstecherei in der nahegelegenen Stadt Kafais ums Leben gekommen war, lag es nun an Ryu, sich um Darius zu kümmern. Das hatte auch seine guten Seiten. Seitdem er für Darius die Verantwortung trug, war er selbst in den gehobenen Stand eines Großen Bruders gelangt. Und so bekam er nun nicht nur größere Anteile an den erbeuteten Wertsachen, auch der Genuss von Alkohol und Rauschkrautblättern war ihm nun gestattet. Den Jüngeren im Dorf, also all jenen, die keinen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester aufzogen, war das verboten. Schließlich wollte man ja für eine anständige Erziehung der Kinder sorgen.
Was ihn jedoch am meisten freute, war, dass Darius, je älter er wurde, sich immer mehr zu einem würdigen Übungspartner entwickelt hatte. Es war egal, was die anderen im Dorf sagten, Darius hatte ihn schon vor langer Zeit an Kraft und Schnelligkeit überholt. Sie waren die besten Kämpfer in der ganzen Gegend, doch im Gegensatz zu ihm, der einfach nur gut war, war Darius nicht mehr normal. Inzwischen war sein Bruder sogar schon besser als ausgebildete Gardisten der Stadtwache. Genau aus diesem Grund schien seine Idee, Kopfgeldjäger zu werden, bei genauerer Überlegung gar nicht einmal so abwegig, wie sie sich im ersten Moment angehört hatte.
Darius hatte schon des Öfteren den Wunsch geäußert, Söldner oder etwas Ähnliches zu werden. Und auch er war der Meinung, dass aus ihm mal etwas Besseres werden sollte als ein Straßendieb oder Hehler. Ryu verfolgte diesen Gedanken noch eine ganze Weile, bis auch er einschlief.
Am nächsten Tag erwachten sie bereits in aller Frühe, mit Einsetzen der Dämmerung, noch bevor die ersten Strahlen der Sonne die obersten Baumwipfel geküsst hatten. Gemeinsam legten die zwei Brüder noch rasch eine falsche Spur, die etwaige Verfolger in einem Kreis wieder zurück zu dem Haus führen sollte, in welches sie in der vergangenen Nacht eingestiegen waren. Dann spazierten sie großspurig und noch in Sichtweite des stattlichen Herrenhauses die unebene Straße zur gezinkten Karte – dem hiesigen Wirtshaus – entlang, so als wären sie die Besitzer der beiden Gebäude.
In der Schenke angekommen, gaben sie eine Kleinigkeit von ihrem Verdienst für ein angemessenes Frühstück aus, dass sie sich, wie Ryu versicherte, nach einer so arbeitsreichen Nacht auch redlich verdient hatten. Anschließend lösten sie beim Schankmeister ihre Pferde aus, die sie am Abend zuvor im Stall gelassen hatten. Sollte in nächster Zeit jemand die halb verkommene Spelunke betreten, um sich über den Verbleib der beiden zu erkundigen, so würde sie der Wirt, aufgrund seines großzügigen Trinkgeldes, jedoch bereits wieder vergessen haben.
Als Ryu und Darius sich im mittäglichen Schein der bereits ausgesprochen warmen Frühlingssonne auf den Rücken ihrer gemächlich dahin trabenden Pferde immer weiter vom Ort ihres Verbrechens entfernten, löste sich damit auch zusehends ihre innere Anspannung.
»Was meinst du, Ryu, wie werden die anderen wohl auf unseren plötzlichen Reichtum reagieren?«, fragte Darius grinsend, während er zuversichtlich die beiden Satteltaschen seiner Stute tätschelte.
»Na wie schon? Ein heldenhafter Empfang für die beiden besten Geldverdiener wäre ja wohl das Mindeste«, entgegnete Ryu und gab sich dabei nicht weniger großtuerisch. Tatsache war jedoch, dass es mittlerweile gar nicht mehr so gut um ihre Lebensgemeinschaft stand. Sie brauchten das Geld – und zwar dringend.
Die Gesetzeshüter der umliegenden Städte wurden zunehmend aufdringlicher und verlangten immer mehr Schmiergeld, um bei der Suche nach Verantwortlichen über ihr kleines Dorf hinwegzusehen. Aufgrund der häufigen Beutezüge, die sie in letzter Zeit durchführten, konnte Ryu es ihnen noch nicht einmal verübeln. Die Ausgeraubten – Adlige, wie Handelsleute – verlangten nach Genugtuung und Wiedergutmachung. Und ihre Rufe wurden zunehmend lauter, sodass sich die Älteren im Dorf bereits sichtlich die Köpfe zerbrachen. Aber der Tag war viel zu schön, als dass er seinem kleinen Bruder jetzt damit in den Ohren liegen wollte. Denn trotz seiner Stärke und Erfahrung war er ja schließlich noch immer ein halbes Kind.
»Was ist?«, fragte Darius ihn leicht verunsichert, als er bemerkte, wie Ryu ihn anstarrte.
»Nichts«, antwortete dieser schnell und bemühte sich dabei so beiläufig wie möglich zu klingen. Einen Augenblick später gab er seinem Vollblüter hart die Sporen.
Als sie nur noch wenige Schritte von der Wohnsiedlung entfernt waren, die sie als ihre sichere Heimat kannten, merkten die beiden gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Dass zwei fremde Pferde auf der nahen Weide grasten, wäre für sich allein genommen noch nicht verwunderlich, aber die rufende, mit den Armen schwingende Miree, die eilig auf sie zugerannt kam, versetzte sie sogleich in Alarmbereitschaft.
»Ryu, Darius, ihr müsst verschwinden, sie dürfen euch nicht bemerken!«, rief sie, was aufgrund ihrer lauten Schreie bereits einen Widerspruch in sich selbst darstellte. Denn wer oder was auch immer im Dorf war, musste sie ja gehört und die beiden Heimkehrer allerspätestens jetzt bemerkt haben.
»Atme erst einmal tief durch, Miree und dann sag uns, was passiert ist«, versuchte Ryu die untersetzte junge Frau zu beruhigen, der vom schnellen Laufen einige Strähnen ihrer langen, schwarzen Haare ins Gesicht gerutscht waren.
»Es sind zwei Männer ins Dorf gekommen ...«
»Soldaten?«, unterbrach Darius sie, in der Befürchtung es mit der Vorhut einer größeren Wachtruppe zu tun zu bekommen.
»Lass sie doch erst mal ausreden«, meinte Ryu und stieg, genau wie Darius, von seinem Pferd. »Also jetzt noch mal von vorne, was wollen die hier?«
»Ich habe es nicht genau verstanden«, antwortete Miree nun etwas ruhiger, doch noch immer stoßweise atmend. »Sie haben sich mit Mokku unterhalten und es ging wohl irgendwie darum, dass ein Schamane oder ein Druide oder so etwas Ähnliches irgendwas vorausgesagt hat. Das Einzige, was ich genau verstanden habe, war, dass sie Darius mit sich nehmen wollen.«
Vielsagend sah sie zu dem jungen Dieb auf, doch der hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Kaum, dass seine Schwester die ersten Worte ausgesprochen hatte, war ihm bereits das Herz in die Hose gerutscht. Jetzt war es also so weit. Darius hatte schon seit Jahren befürchtet, dass man sie eines Tages schnappen würde. Aber warum waren sie nur hinter ihm her und wieso kamen sie nur zu zweit? Denn so wie es sich anhörte, würden keine weiteren Soldaten mehr auftauchen.
Eine Vorhut hätte das Gebiet ausgekundschaftet, und würde erst auf Verstärkung warten, bevor sie das Dorf betraten. Auf keinen Fall jedoch hätten sie das offene Gespräch mit dem Häuptling gesucht. Vor allem nicht, wenn sie darauf aus waren, einen Kriminellen aus den Reihen seiner Leute zu reißen. Nein, es musste einen anderen Hintergrund geben.
»Mach dir keine Sorgen, Miree, wir gehen mal zu ihnen hin und sehen, was sie wollen. Wenn sie Ärger machen, schmeißen wir sie einfach raus«, meinte Ryu zuversichtlich und klopfte Darius auf die Schulter.
»Ihr versteht nicht, das sind Iatas«, entgegnete ihm die leicht rundliche Miree aufgebracht und Ryu wurde aschfahl, während seine Hand auf der Schulter seines Bruders zu versteinern schien.
»Was zum Henker sind Iatas?«, wollte Darius wissen und blickte seine Geschwister fragend an.
»Hau ab, Darius. Reite ... reite so schnell und so weit wie nur möglich«, keuchte Ryu entsetzt. Doch als er sich zu seinem Bruder umwandte, war es schon zu spät. Zwei Männer, ein großer älterer und ein kleiner, etwa in dem Alter von Ryu, hatten sich unbemerkt von hinten angeschlichen. Ihre braunen, erdfarbenen Umhänge ließen sie beinahe perfekt mit der Umgebung verschmelzen. Ryu und Darius hätten sie ohne Mirees erschreckten Aufschrei gar nicht bemerkt. Selbst ihr, die direkt in die Richtung der Fremden gesehen hatte, fielen die beiden erst jetzt auf, als sie aus dem Schatten eines nahestehenden Baumes traten und nur noch wenige Schritte entfernt waren.
»Was denn, nur die zwei?«, fragte Darius, halb belustigt, halb erstaunt über den sinnlosen Aufruhr.
»Du da, du wirst mit uns kommen«, sagte der Ältere der beiden ruhig und deutete auf ihn. Es war keine Bitte und kein Befehl, sondern lediglich eine Feststellung.
»Und was ist, wenn ich nicht will?«, spottete Darius und ließ demonstrativ die Faustknöchel knacken.
»Deine Meinung tut hier nichts zur Sache!«, blaffte ihn der Jüngere an. So langsam wurde Darius ärgerlich über die Dreistigkeit der Fremden.
»Entweder, ihr zwei schert euch jetzt weg, oder Ryu und ich schicken euch gleich hier und jetzt ohne Umwege zu Otairio. Nicht wahr, Ryu?« Weil sein Bruder ihm nicht antwortete, drehte Darius sich halb zu ihm um. Das Letzte, was er dann noch wahrnahm, war eine kurze, schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel. Dann schwanden dem jungen Dieb mit einem Mal die Sinne. Kurz bevor er endgültig bewusstlos wurde, fragte er sich noch, wieso Ryu ihm nicht half.
Doch was Darius nicht wusste, war, dass sein Bruder in ebendiesem Augenblick eine Entscheidung getroffen hatte. Eine Entscheidung, die nicht nur sein Schicksal und das von Darius verändern sollte, sondern auch das der ganzen Welt.