Читать книгу Das Biest in Dir - Felix Hänisch - Страница 11
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Das Erste, was Darius spürte als er wieder zu sich kam, war sein schmerzender Hinterkopf, der sich anfühlte, als würde jemand mit aller Kraft von hinten dagegen drücken. So musste man sich wohl fühlen, wenn man nach einer langen Nacht einen Schädel dran hatte. So nannten es zumindest die Älteren, wenn sie sich betranken, so wie sie es meistens nach Einbrüchen ins nahe gelegene Weingut taten.
Darius war nicht zum ersten Mal bewusstlos geschlagen worden und so wusste sein Körper beinahe schon instinktiv, was ihn die nächsten Momente erwarten würde. Doch das Schwindelgefühl und der aufsteigende Brechreiz, auf den er sich innerlich schon unbewusst vorbereitet hatte, blieben zu seiner Verwunderung aus.
Benommen öffnete er die Augen und musste blinzeln. Obwohl das Sonnenlicht durch die langen grauen Vorhänge nur gedämpft zu ihm hindurchdrang, schmerzten die Strahlen im ersten Moment dennoch ein wenig in den Augen. Orientierungslos erhob er seinen Oberkörper von der erstaunlich weichen Liege, auf die man ihn gebettet hatte, und rieb sich den brummenden Schädel. Lange konnte er noch nicht weggetreten sein, denn als er sich mit zusammengekniffenen Augen zu einem weiteren Blick in Richtung der großen Fenster zwang, stellte Darius fest, dass die Sonne noch nicht einmal hinter den nahe gelegenen Baumwipfeln versunken war.
»Wo bin ich hier?«, kam es ihm unbewusst über die trockenen Lippen, während er sich umständlich einmal um die eigene Achse drehte. Zu seiner großen Überraschung musste Darius feststellen, dass er sich vollkommen allein in dem gut möblierten Zimmer befand, welches ihm auf eine noch undefinierbare Art und Weise seltsam bekannt vorkam. Der großflächige Raum, dessen Fußboden mit langen, mattbraunen Holzdielen verkleidet war, stand voll mit allen möglichen funkelnden Gegenständen, die zwar schön aussahen, jedoch zu nichts nutze waren. Wo hatte er den markanten Boden und diese teure Einrichtung nur schon einmal gesehen?
Einige schwere, versilberte Kerzenständer, welche die flachen Bretter eines kleinen Regales gefährlich weit nach unten bogen, sprangen dem jungen Dieb sogleich ins Auge. Dazu eine kostbar verzierte Porzellanschüssel, die von einer dünnen Staubschicht überdeckt war und in der mehrere goldene Ringe lagen. Alles Gegenstände, die sein Herz im Normalfall freudig erregt höher schlagen ließen.
Doch gerade als Darius sich gewohnheitsmäßig bedienen wollte, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Ich bin in Mokkus Haus!« Es war mehr eine Frage, die ihm flüsternd über die Lippen kam, obschon er sich der Tatsache mit einem Mal sehr sicher war. Natürlich erhielt er wieder keine Antwort. Dafür durchzuckte den Jüngling, während sich die letzten nebligen Schleier der Ohnmacht von seinem gerade wieder erwachten Geist lösten, unvermittelt eine weitere Erkenntnis.
Die Erinnerung an die Geschehnisse, welche ihn in seine missliche Lage geführt hatten, war plötzlich auf einen Schlag wieder da. Zwei Männer hatten versucht, ihn mitzunehmen und als er sich für einen Moment zu seinem Bruder umgedreht hatte, war er in eben jenem kurzen Augenblick der Unachtsamkeit hinterrücks niedergeschlagen worden. Plötzlich überkamen den sonst so mutigem Straßenschläger Zweifel an seiner Reaktionsgeschwindigkeit und seinen kämpferischen Fähigkeiten.
So etwas ist mir doch sonst noch nie passiert, dachte er peinlich berührt und schüttelte den Kopf. Ich bin nicht einmal dazu gekommen, mich zu wehren. Dabei bin ich doch fast der Stärkste hier im Dorf und schon ein ganzer Mann. Das hätte mir nie passieren dürfen. Obwohl niemand da war, der ihn hören konnte, brachte er die Worte vor lauter Scham dennoch nicht über die Lippen. Zu groß war die Befürchtung, dass sie anklagend in seinen Ohren nachklingen würden. Zu erschreckend die Gewissheit, welche sich endgültig in ihm breitmachen würde, hatte er sie erst einmal laut ausgesprochen. Auch wenn Darius fast schon zwanghaft versuchte, es sich nicht einzugestehen, so empfand er dennoch einen ungeheueren Respekt vor den beiden Fremden, der beinahe schon in Angst überging.
Was haben die bloß mit mir vor?, ging es ihm immer und immer wieder durch den Geist. Mit einem weiteren Kopfschütteln vertrieb Darius den tristen Gedanken und sah sich noch einmal nachdenklich um. Immer noch fragte er sich, warum man ausgerechnet ihn entführen wollte. Warum wurde er, nachdem man ihn niedergeschlagen hatte, nur in das wenige Schritte entfernte Haus seines Häuptlings gebracht? Und aus welchem Grund stand er nun nicht einmal unter Bewachung?
Allerdings konnte er sich darüber auch später noch Gedanken machen. Was jetzt Priorität hatte, war schnellstmöglich von hier zu verschwinden und erst einmal ein paar Tage in den umliegenden Wäldern unterzutauchen. Zuvor würde Darius sich aber noch so viel wie er tragen konnte aus Mokkus Vorratslager mitnehmen, um den Hunger zu stillen, der jetzt plötzlich in ihm aufflammte.
Wenn ich Ryu, diesen Idioten, treffe, dann werde ich dem Feigling erst einmal ein paar kräftige Ohrfeigen verpassen. Hinterher kann er von mir aus mit mir fliehen, um mir während der nächsten Tage im Wald Gesellschaft zu leisten, dachte er verärgert und legte sich die Hand ans Kinn, während er mit in Falten gelegter Stirn angestrengt nachdachte.
»Eigentlich«, sprach Darius leise an sich selbst gewandt, während er zum Fenster ging, aus dem er herausklettern wollte, »ist es ja nicht meine Art, das Dorf und meine Geschwister einfach so im Stich zu lassen. Aber wenn es sich bloß um diese zwei Männer handelt, die anscheinend auch nur hinter mir her sind, dann kann ich mit ruhigem Gewissen der Gemeinschaft für eine Weile den Rücken kehren. Vermutlich ist es sogar besser so, denn wenn ich weg bin, werden sie es vermutlich auch bald sein.«
Doch als er das Fenster öffnete und den geringen Höhenunterschied von nicht mal einer Manneslänge mit einem kurzen Sprung überwunden hatte, stellte Darius erschrocken fest, dass es für ihn wohl doch nicht ganz so leicht werden würde. Denn wie aus dem Nichts tauchte auf einmal der jüngere der beiden Angreifer von vorhin aus dem Schatten der Hauswand auf.
»Leute wie du sind einfach zu berechenbar. Ich weiß nicht, was der Schamane in dir sieht ... Wieso gehst du nicht einfach durch die Tür, wenn du abhauen willst?«, blaffte er ihn herablassend an. Natürlich war das auch Darius’ erster Gedanke gewesen. Doch war er davon ausgegangen, die Tür wäre abgeschlossen und durch den Versuch sie zu öffnen, hätte er eine mögliche Wache, die er eher hinter der Tür als hier draußen vermutete, erst auf sich aufmerksam gemacht.
»Geh mir aus dem Weg!«, knurrte er deshalb bedrohlich und klang dabei mutiger als er sich fühlte. Obwohl Darius bisher noch mit jedem Gegner fertig geworden war, strahlte dieser hier eine Gefahr aus, die er so noch nie zuvor gespürt hatte.
Normalerweise legte sich keiner mit ihm an, schon gar nicht alleine. Das lag nicht zuletzt an seinem Respekt einflößendem Äußeren. Mit seiner Körpergröße, mit der er die meisten erwachsenen Männer um eine Haupteslänge überragte, den muskelbepackten Armen und einem Kreuz, breit wie das eines Orks, sah er nicht nur kräftig aus. Es war auch allgemein bekannt, dass er, vielleicht einmal abgesehen von seinem Bruder, der beste Kämpfer der ganzen Gegend war. Aber dieser Fremde, der ihm zugegebenermaßen an reiner Muskelkraft in nichts nachstand, strahlte etwas aus, das ihm – und Darius wagte es sich kaum einzugestehen – Angst machte.
»Also, was ist nun? Gehst du freiwillig beiseite oder muss ich dich dazu zwingen?« Wieder erhob Darius das Wort und konnte ein Zittern in seiner Stimme nur knapp unterdrücken. Aber anstatt mit ihm zu kämpfen und möglicherweise auch noch das große Schwert einzusetzen, das an seiner Hüfte hing, lachte der Fremde nur verächtlich auf und drehte sich um.
»Komm mit, wir haben etwas zu besprechen.« Ohne zu prüfen, ob sein Gegenüber ihm folgte, ging er um die Ecke des Gebäudes. Darius musste zugeben, dass er neugierig war. Und nachdem er kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, sich einfach umzudrehen und so schnell ihn seine Beine trugen wegzurennen, entschied er sich für die weniger feige Lösung. Mit vorsichtigen Schritten folgte er dem jungen Mann, wobei er penibel darauf achtete, immer einen gewissen Abstand zu ihm zu wahren.
Irgendetwas sagte Darius, dass es von entscheidender Bedeutung wäre, sich anzuhören, was die beiden Fremden zu sagen hätten. Fortlaufen könnte er dann später ja immer noch, zumal sie ihn nicht wie einen Gefangen behandelten. Selbst als er bewusstlos gewesen war, war er weder gefesselt noch verschleppt worden. Beinahe so, als müsste er sich mit diesem Gedanken vor sich selbst rechtfertigen, folgte der junge Dieb seinem vermeintlichen Wärter durch die Eingangstür des Gebäudes, aus welchem er noch Augenblicke zuvor vergeblich zu fliehen versucht hatte.
Mokkus Haus war das Einzige im Ort mit zwei Stockwerken. Nacheinander stiegen sie die schmale Treppe ins Obergeschoss hinauf. Die durchgetretenen Stufen kamen bei jedem einzelnen Schritt gefährlich ins Knarren.
Bisher war Darius noch nicht allzu oft hier oben gewesen. Wie er wusste, bestand die ganze Etage nur aus einem einzigen, großen Raum, der von allen Seiten mit riesigen Fenstern umgeben war. Hier hielten die Älteren vor ihren Abenteuern, wie sie es nannten, ihre Besprechungen ab. Mit seinen knapp sechzehn Jahren war es für ihn das erste Mal, dass er sich nicht hineinschleichen musste, so wie er es früher hin und wieder versucht hatte, bevor ihm diese Angewohnheit ausgetrieben wurde. Im Gegenteil. Heute war Darius nicht nur eingeladen, sondern schien sogar der Grund der Besprechung zu sein. Denn kaum, dass sie den Raum betreten hatten, drehten sich sogleich alle Köpfe nach ihm um. Fast das halbe Dorf war hier oben versammelt und es war so voll, dass kaum mehr genügend Platz für ihn und seinen Begleiter war.
Augenblicklich schwollen die Stimmen an und Darius hatte das Gefühl, dass alle gleichzeitig auf ihn einredeten. Es war ein so großes Durcheinander, dass Mokku, der im hinteren Teil des Zimmers auf seinem herrschaftlichen Stuhl saß und somit ein wenig über die Köpfe der Menge aufragte, erst einmal einige der Anwesenden hinauswerfen musste. Da aber keiner freiwillig auf dieses besondere Ereignis verzichten wollte, endete es damit, dass er alle bis auf Ryu, Darius, Miree und die beiden Fremden wegschickte. Dieser Entscheidung verlieh er bei einigen besonders Starrköpfigen mit seinem langen Stock deutlichen Nachdruck.
Als endlich auch der Letzte mit schmerzendem Hinterkopf die Stube verließ und die Tür zur Treppe hinter sich geschlossen hatte, setzte Mokku sich wieder auf seinen breiten Stuhl mit der hohen Lehne. Mit weisem und geheimnisvollem Gesichtsausdruck wandte der Häuptling sich ohne zu Zögern sogleich an Darius.
»Wie ich sehe, bist du wieder zu dir gekommen. Sicher hast du einige Fragen. Wenn ich kann, werde ich sie dir beantworten.« Freundlich lächelte er ihn an.
Mokku war der Anführer ihrer Gemeinschaft und mit seinen dreiundfünfzig Jahren älter als jeder andere hier. Nachdem er selbst vor mittlerweile fast einem halben Jahrhundert in ins Dorf gekommen war, hatte er selbiges bis heute nicht wieder verlassen. Im Gegensatz zu den meisten Anderen, die es als Erwachsene hinaus in die weite Welt gezogen hatte, um etwas zu erleben und dann woanders sesshaft zu werden. Natürlich immer vorausgesetzt, dass sie auch lang genug dafür lebten, was bei dem Vagabundendasein, wie sie es führten, noch lange nicht selbstverständlich war. Schon viele von ihnen waren bereits kurze Zeit nachdem sie dem Dorf den Rücken gekehrt hatten im Gefängnis oder unter der Erde gelandet.
Mit einer weit ausschweifenden Bewegung seiner kurzen Arme zeigte er auf die beiden Fremden und begann zu erklären. »Dies sind Aaron«, Mokku zeigte auf den Älteren der beiden, »und Ramir«, woraufhin sich sein fleischiger Finger auf den Jüngeren richtete, der Darius soeben hinauf eskortiert hatte. »Wie du vielleicht schon mitbekommen hast, gehören sie dem Orden der Iatas an und wollen dich mit sich nehmen. Doch dabei kam es wohl zu einem Missverständnis, in dessen Folge sie dich ... nun ja, wie sagtet ihr?«
Sein Blick wandte sich erneut suchend an die beiden Männer, die, seitdem Darius den Raum betreten hatte, noch kein einziges Wort gesprochen hatten. »... Ruhigstellen mussten«, endete Mokku nach einem langen Atemzug, als die Fremden keine Anstalten machten, ihm das Wort abzunehmen. Ein entschuldigender Ausdruck legte sich auf sein bärtiges Gesicht, als er Darius wieder in die Augen sah. »Sie wollten dich nicht entführen und auch nicht verletzten«, fuhr er beschwichtigend fort, doch seine Miene wurde augenblicklich forschender und er musterte Darius von oben bis unten. »Ich hoffe, sie haben auch Wort gehalten und dir ist nichts geschehen.«
Darius, dem es immer noch peinlich war, dass er sich so einfach hatte niederschlagen lassen, nickte nur stumm. Er war nicht sonderlich erpicht darauf, die Situation auszuweiten. Vor allem nicht vor Ryu und Miree, obschon sie beide dabei gewesen waren. In der Hoffnung, Mokku möge rasch fortfahren, ließ er den Kopf sinken und schaute betreten zu Boden. Der Häuptling erkannte den Wink und sprach weiter als wäre nichts geschehen.
»Kurz bevor du mit Ryu angekommen bist, haben Aaron und Ramir unser Dorf betreten und mich aufgesucht, um zu fragen, ob sie dich kaufen könnten. Inzwischen habe ich sie natürlich bereits darüber aufgeklärt, dass dies durchaus keine Bande von Taschendieben ist, die Kinder versklaven und sie zum Stehlen zwingen, so wie es leider in manchen der größeren Städte der Fall ist. Auch habe ich ihnen gesagt, dass ich zwar der Anführer der Großen Brüder bin, du allerdings keinesfalls zu meinem Eigentum zählst. Deshalb sollen sie dich nun selbst fragen, ob du dich ihnen anschließen willst.« Darius verstand immer noch nicht ganz. Wollten sie ihn nun verschleppen oder erreichen, dass er einer von ihnen wurde? Mit einem Mal schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf, doch er entschied sich für die wohl dringlichste.
»Wer oder was sind die Iatas eigentlich?«, wollte er leicht zögerlich von Mokku wissen, während er nachdenklich die Brauen zusammenzog. Doch an des Häuptlings statt, war es Aaron, der ihm antwortete.
»Wir sind ein Kriegerorden. Berufssoldaten, wenn du so willst. Aber unsere Vereinigung ist kein Haufen einfacher Söldner, wir sind Elitekrieger. Jeder, der die Ausbildung zum Iatas erfolgreich abgeschlossen hat, kann sich mit Fug und Recht zu den Besten der Welt zählen. Du darfst dich also geehrt fühlen, dass unser Schamane gerade dich ausgewählt hat. So etwas ist schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen.« Der Iatas sah ihn mit einem langen, durchdringen Blick an und ließ seine Worte einige Augenblicke lang wirken, bevor er mit gewichtiger Stimme fortfuhr.
»Normalerweise zieht ein Iatas-Meister, so wie ich einer bin, mehrere Jahre, durch die Welt, um sich selbst einen Schüler zu suchen. Häufig muss man sehr viele Prüfungen bestehen, die den Geist und den Körper fordern, bevor man von ihm akzeptiert wird. So war es zum Beispiel auch bei Ramir.« Damit deutete er vielsagend auf seinen Schüler, dessen Blick auf einmal nachdenklich ins Leere zu gehen schien, während er mit leicht gesenktem Kopf und aufeinander gepressten Lippen kurz aber zustimmend nickte. Darius wollte noch etwas fragen, wurde aber von Aaron unterbrochen.
»Eines möchte ich zu Beginn allerdings noch klären. Es hat offenbar ein Missverständnis gegeben. Die Tatsache, dass wir dich Mokku erst abkaufen wollten, war reiner Großmut. Da du ja ganz offensichtlich nicht in seinem Besitz bist, ist dies nun nicht mehr nötig. Das hat allerdings nach wie vor nicht zu bedeuten, dass wir an deiner Meinung interessiert sind. Du wirst definitiv mit uns kommen!«
»Und was ist, wenn ich nicht will?«, entgegnete Darius aufrührerisch.
Doch dieses Mal war es Ramir, der antwortete: »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass deine Meinung hier nichts zur Sache tut. Du hast meinem Meister wohl gerade nicht zugehört. Wir sind zwei Iatas, und wenn du nicht freiwillig mit uns kommst, dann holen wir dich zur Not auch mit Gewalt. In diesem Dorf gibt es niemanden, der uns daran hindern kann. Mach die Sache also nicht unnötig demütigend für dich. Davon abgesehen solltest du dich geehrt fühlen, dass man dich für eine Ausbildung zum Iatas als würdig erachtet. Andere würden für diese Gelegenheit töten.« Genau wie draußen auf dem Hof hatte die Stimme des jungen Mannes wieder einen herablassenden Klang angenommen und Darius begann die Zornesröte ins Gesicht zu steigen.
Doch nun wandte sich auch Ryu, der bisher geschwiegen hatte, an seinen kleinen Bruder und sah ihm tief in die Augen. »Erinnerst du dich an das, was du mir gestern Abend erzählt hast? Du sagtest mir, dass du dieses Leben satt hättest und endlich mal etwas erleben willst. Darius, das hier ist die Möglichkeit dafür.«
»Das habe ich doch bloß so dahin gesagt«, entgegnete dieser unruhig, obwohl er sich da urplötzlich gar nicht mehr so sicher war. Was wollte er denn eigentlich? Darius wusste es selbst nicht. Sich an einen letzten Strohhalm klammernd, blickte er von einem zum anderen und meinte energisch: »Wieso ausgerechnet ich? Warum hat euer Schamane ausgerechnet mich ausgesucht? Du hast doch selbst gesagt, dass so etwas seit Jahren nicht mehr vorgekommen ist.«
»Den Grund dafür kennen wir auch nicht«, antwortete Aaron und es klang tatsächlich aufrichtig. »Begnüg dich einfach damit, dass du auserwählt wurdest. Und jetzt pack deine Sachen. Bei Sonnenaufgang brechen wir nach Baknakaï auf, dem Hauptsitz der Iatas. Dort übergeben wir dich dann deinem neuen Meister.« Der Krieger sprach, als wäre die Sache schon entschieden, doch Darius rebellierte.
»Ich habe noch nicht gesagt, dass ich mitkomme. Und überhaupt, wieso kommt der Mann nicht selbst hierher, um mich zu holen?« In einem letzten, verzweifelten Aufbegehren gegen das Unausweichliche spie der junge Dieb seinem Gegenüber die Worte mit lauter Stimme entgegen, so als könnte er ihn dadurch in seinem Entschluss umstimmen.
»All deine Fragen werden wir dir, so gut wir können, auf dem Weg nach Baknakaï beantworten«, versicherte ihm Aaron vertrauensvoll. »Doch bis dahin wirst du dich gedulden müssen.« Mit einer eindeutigen Handbewegung gebot er allen im Raum, dass das Gespräch damit beendet war. Darius war von der Autorität, die mit einem Male von dem Mann ausging, so überrascht, dass er der Geste, entgegen seinem eigentlichen Willen, unbewusst Folge leistete. Augenblicklich verfiel er in nachdenkliches Schweigen, obwohl er bereits Luft geholt hatte, um sich erneut mit dem Iatas zu streiten. Dennoch wollte er auf keinen Fall zulassen, dass man einfach so über seinen Kopf hinweg entschied und ihn für irgendeine Söldnertruppe verpflichtete.
»Es wurde gesagt, was gesagt werden musste. Wir sind nun müde und werden uns den Rest des Abends zurückziehen«, ließ Aaron nach einigen Augenblicken großspurig verlauten und machte Anstalten zu gehen.
Nachdem Miree von Mokku angewiesen wurde, in ihrem Haus für die Gäste zu kochen und ihnen anschließend einen Platz zum Schlafen zur Verfügung zu stellen, schritten die beiden Iatas – nach einem höflichen Kopfnicken in Richtung Mokku – nacheinander durch die Tür. Ihre weiten, braunen Gewänder raschelten sanft, als sie den weitläufigen Raum verließen.
Kaum, dass die Treppen aufgehört hatten unter den Sohlen von Miree und den Iatas zu knarren, beugte Mokku sich in seinem herrschaftlichen Stuhl weit nach vorne und wandte sich geschäftsmäßig an Darius.
»Mir ist durchaus klar, dass es dich schmerzt, diesen Ort zu verlassen. Du bist hier aufgewachsen und all jene, die du kennst und liebst, leben hier. Aber eine Möglichkeit wie diese bietet sich dir nur einmal im Leben. Deshalb rate ich dir, genau zu überlegen, was du als Nächstes tust. Von mir aus nimm dir aus meiner Küche so viele Vorräte wie du tragen kannst und versteck dich für ein paar Tage im Wald.
Die beiden Iatas mögen noch so gute Kämpfer und vielleicht auch Spurenleser sein, aber wenn du nicht gefunden werden willst, dann bin ich mir sicher, dass sie dich auch nicht finden werden. Wenn sie abgezogen sind, kommst du zurück und wir werden nie wieder ein Wort über all das verlieren. Allerdings wirst du dich dann den Rest deines Lebens fragen, was alles hätte sein können.«
Darius nickte resignierend und Mokku fuhr fort: »Die andere Möglichkeit ist, dass du deinen Traum von einem anderen Leben wahr machst. Ryu sagte mir vorhin, dass du schon oft den Wunsch geäußert hast, ein anderes Leben zu führen.«
»Das ist wahr«, stimmte Darius tonlos zu und sein Schädel schmerzte, was nicht allein an der Beule auf seinem Hinterkopf lag.
»Als ausgebildeter Iatas könntest du das alles tun, du würdest die Welt bereisen und Abenteuer erleben. Und wenn jemand die Fähigkeiten dafür besitzt, dann du«, meinte Mokku ernst.
»Aber das stimmt doch gar nicht«, wollte Darius ihn verbessern. »Ryu ist ein viel besserer Kämpfer als ich.«
»Nein«, entgegnete dieser kopfschüttelnd. »Du hast mich schon vor einer ganzen Weile überholt und wenn du ehrlich bist, gibt es hier keinen mehr, der dir das Wasser reichen kann. Schon allein deshalb solltest du gehen.«
»Ich bin mir sicher, dass du dich richtig entscheiden wirst«, sprach Mokku zuversichtlich und lächelte breit. »Aber jetzt raus hier, ein alter Mann will schließlich auch mal seine Ruhe.«
Als Ryu und Darius vor die Tür des Hauses traten, ging die Sonne bereits unter und tauchte das Dorf der Großen Brüder in eine durchdringende Abendröte. Noch immer war Darius verwirrt über das, was er wollte und das, was er glaubte zu wollen. Nachdenklich wägte er das Leben, von dem er schon immer geträumt hatte, gegen das ab, welches er führte. Eigentlich fehlte es ihm doch an nichts und dennoch war da diese Leere in ihm. Eine Leere, die er noch nie mehr gespürt hatte als in diesem Augenblick.
Werde ich es mir je verzeihen können, wenn ich jetzt nicht gehe? Der Gedanke spukte einige Augenblicke lang in seinem Kopf umher, bis ihm klar wurde, dass die Leere in seinem Innersten keinesfalls von selbst weichen, sondern – genau wie Mokku gesagt hatte – sein Leben lang an ihm nagen würde.
»Ich möchte, dass du eines weißt«, durchbrach Ryu auf einmal unverhofft die Stille und riss Darius damit abrupt aus seinen Gedanken. Mit starrem Blick sah er ihm tief in die Augen und schien bis hinab in seine Seele schauen zu können. »Ich kenne die Entscheidung, welche du getroffen hast, genauso gut, wie du und ich verüble sie dir nicht. Im Gegenteil. Ich freue mich, dass du deinen Traum leben kannst. Aber ich möchte, dass du eines weißt«, wiederholte er und legte Darius dabei eine Hand auf die Schulter. »Auch wenn wir uns für eine lange Zeit nicht mehr sehen werden, du wirst immer mein kleiner Bruder bleiben.«
Es schien Darius so, als stecke ein dicker Kloß in seinem Hals, der ihm die Kehle zuschnürte und es fiel ihm schwer zu antworten. Deshalb nickte er seinem älteren Bruder nur stumm zu, während er die Tränen mit aller Macht zurückhielt.
Schließlich umarmten sich die beiden und Darius gestand sich nun endlich ein, was er die ganze Zeit über eigentlich schon gewusst hatte. Er würde gehen. Er würde ein Iatas werden.