Читать книгу Das Biest in Dir - Felix Hänisch - Страница 13
ОглавлениеDie Prophezeiung
Die Weiterreise war im Nachhinein gesehen ziemlich ereignislos gewesen, obwohl Darius an jedem einzelnen Tag mehr von der Welt zu sehen bekommen hatte als sonst im Laufe eines ganzen Mondes.
Nach einem weiteren Tagesritt auf dem Rücken ihrer Pferde, hatten sie das Dickicht des Waldes hinter sich gelassen. Die Straße, welcher sie seit dem Verlassen des Dorfes gefolgt waren und die sich noch ein wenig verbreitert hatte, sodass sie nun bequem nebeneinanderher reiten konnten, erstreckte sich, sehr zu Darius’ Überraschung, noch immer ungekrümmt vor ihnen. Links und rechts des platt getretenen Weges waren die Ebenen und sanften Hügel von Getreidefeldern bedeckt, so weit das Auge reichte. Noch waren die grünen Halme, die nur wenige Fingerbreit aus dem Boden ragten, kaum von Gras zu unterscheiden. Doch schon bald würden sie zu prächtigen, goldfarbenen Ähren heranwachsen, die, wie Aaron ihm erklärt hatte, einen großen Teil vom Süden Epsors mit Brot versorgen konnten.
Als sie schließlich am letzten Tag ihrer Reise in aller Frühe einen der vielen sanften Hügelkämme passierten, konnte Darius in der Ferne eine gewaltige Festung erspähen, welche Aaron ihm, auf seine Frage hin, als Das Auge des Westens, benannte. Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ die östlichen Mauern der Burg in feurigem Rot erstrahlen. Zeitgleich hielten die Schatten der Morgendämmerung den westlichen Teil noch immer fest in ihren dunklen Fängen.
Wenige Stunden später, während derer Darius zunehmend in Tagträumereien, um das imposante Bauwerk und die Schlachten, welche es schon darum gegeben haben mochte, versunken war, erreichten sie in lockerem Trab die Küste.
Ein langer, wenn auch schmaler Sandstrand, der zum Wasser hin an den meisten Stellen von schroffen Felsen eingegrenzt wurde, erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit man blicken konnte. Hinter einem kleinen Anstieg waren die maroden Dächer einer nahe gelegenen Stadt zu erkennen und die mannshohen Dünen, auf denen spärliche Farne wuchsen, schwächten den rauen, salzigen Wind der See kaum spürbar ab. Mit einem Lächeln nahmen Aaron und Ramir zur Kenntnis, wie sich Darius’ Augen vor Erstaunen weiteten, als er das erste Mal in seinem Leben auf das weite Meer hinaus blickte.
»Ich habe ja schon davon gehört«, sagte er mit faszinierter Stimme und schien den Blick gar nicht mehr abwenden zu können, »aber das es wirklich so weit ist, dass man das andere Ufer nicht sehen kann, habe ich nie richtig geglaubt.«
»Da gibt es auch kein anderes Ufer«, schnarrte Ramir überzeugt und klang dabei wie immer ein wenig herablassend. »Wir befinden uns fast am südlichsten Ende von Epsor. Nur diese Insel liegt noch dahinter – die wichtigste für jeden Iatas.« Nicht ohne Stolz deutete er auf den einzig deutlich sichtbaren Landstrich, der sich wie zum Trotz aus der grauen See zu erheben schien.
»Sollte ich davon schon einmal gehört haben?«, fragte Darius unsicher. Aaron kam ihm jedoch gleich zu Hilfe und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die langgezogene Küstelinie, deren nordöstliches Ende noch von den Dünen verdeckt wurde, wodurch sie wie eine weit ins Meer ragende Landzunge wirkte.
»Siehst du diese Erhebung dort in der Mitte?«
Darius nickte beim Anblick des einzigen Bauwerkes, das auf dem im Wasser liegenden Landstrich vom Strand aus zu erkennen war.
»Das ist Baknakaï, Hauptsitz der Iatas und unser Ziel.« Auch Aarons Stimme erfüllte sich merklich mit Stolz als er auf die Festung deutete, von der Darius aus der Entfernung mit viel Anstrengung sogar die Zinnen zu erkennen glaubte.
»Die Welt reicht nur so weit, wie du bei gutem Wetter vom höchsten Turm aus aufs Meer sehen kannst«, meinte Ramir weise.
»Und was kommt dahinter?«, wollte Darius zynisch wissen, da er sich nicht vorstellen konnte, dass die Welt auf der anderen Seite dieses ominösen Gewässers zu Ende sein sollte.
»Fahr doch hin und finde es heraus!«
»Beruhigt euch«, bemühte Aaron sich, wie so oft in den vergangenen Tagen, den aufkommenden Streit der beiden zu schlichten. »Es konnte noch keiner beweisen, dass die Welt hinter dem Horizont des Meeres zu Ende ist. Es hat allerdings auch nie jemand eine neue Küste entdeckt.«
»Immerhin ist ja auch noch keiner zurückgekommen«, murmelte Ramir kaum verständlich, verstummte jedoch unter dem strafenden Blick seines Meisters. Einige Augenblicke lang verweilten die drei noch auf den Rücken ihrer Pferde, deren Hufe bereits ein Stück weit in dem grobkörnigen Sand versunken waren. Vor allem Darius sah ehrfürchtig hinab auf die mit Abstand gewaltigste Menge an Wasser, die er je erblickt hatte.
An vielen Stellen, wo die See noch vergleichsweise seicht war, ragten Riffe wie die gigantischen Finger urzeitlicher Riesen aus dem Meer. Die Wellen, welche die restliche Wasseroberfläche um nicht viel mehr als eine halbe Manneslänge überragten, schienen sich mit enormer Kraft an dem Gestein zu brechen. Auf Aarons Zeichen hin gaben sie ihren Tieren schließlich sanft die Sporen und ritten gemächlich den Küstenstreifen entlang.
»Noch ein kleines Stück, dann erreichen wir einen Steg, von dem aus wir mit einer Fähre übersetzen können!«, rief Aaron, auf Darius’ fragenden Blick hin, gegen die aufkommende Meeresbrise an, die unnachgiebig an ihren Kleidern zerrte. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis der Strand eine sanfte Biegung machte, hinter der ein Ruderboot mit starken Tauen an einem Holzweg befestigt war, welcher gut zwanzig Mannslängen weit ins Meer hinaus führte.
»Und darin sollen wir rüber?«, fragte Darius zweifelnd.
»Wir und die Pferde«, bestätigte Ramir anstelle seines Meisters mit einem Kopfnicken. »Entweder, du vertraust deinem Pferd, dass es dich auf der schwankenden Fahrt nicht über Bord stößt oder du kannst gut schwimmen«, fügte er hämisch hinzu.
»Auf mich trifft beides zu«, entgegnete Darius schlagfertig und warf sich in die Brust. Tatsache war jedoch, dass er, wie die meisten im Dorf, kein eigenes Pferd besaß. Je nachdem wie ertragreich die Beutezüge und wie hart die Winter waren, verfügte ihre Gemeinschaft stets über eine mehr oder minder hohe Zahl an Reittieren, die jedoch ständig wechselten. Die Stute, welche ihn in den letzten Tagen auf ihrem Rücken getragen hatte, war wohl schon zu Zeiten seiner Geburt zugeritten worden. Obwohl sie von gutmütiger Natur war und ihm bisher noch keine Schwierigkeiten gemacht hatte, legte der junge Dieb keinen großen Wert darauf, sein Glück weiter auszutesten.
Das Schwimmen beherrschte er zwar, doch viel mehr als sich im nahe gelegenen Bach seines Dorfes hangabwärts treiben zu lassen, hatte Darius noch nicht geleistet. Die Wellen des Ozeans und die schiere Entfernung zu der Insel schienen somit einem sicheren Todesurteil gleichzukommen. Halb überlegte er, sein Pferd abzusatteln und es sich selbst zu überlassen. Gemeinsam mit Ryu hatte er so etwas schon oft getan und sich dann hinterher ein besseres besorgt. Aber er konnte nicht wissen, ob er auf der Insel ein neues Tier bekommen würde. Außerdem wollte er sich vor Aaron und besonders vor dem gehässigen Ramir, nicht die Blöße der Feigheit geben. So stieg Darius, genau wie seine beiden Begleiter, mit einem sicheren Sprung in den weichen Sand ab und führte sein Tier an den Zügeln zu dem schmalen Steg. Als Aaron und Ramir ihre Rösser jedoch an den Stützbalken des Piers anbanden, begriff er, dass der angehende Iatas ihn einmal mehr vorgeführt hatte.
»Als ob du ein Pferd in so eine Nussschale bekommen würdest«, murmelte dieser belustigt, als er merkte, dass Darius ihm geglaubt hatte, und deutete hinüber auf die Fähre. Dort schienen bereits sechs Männer in einfacher, wenn auch sauberer Bauernkleidung auf sie zu warten. Gelangweilt saßen sie gegen die Holzpflöcke gelehnt, welche im Meeresboden verankert waren und die morschen Bretter beieinander hielten. Ihre desinteressierte Körperhaltung und die Tatsache, dass sich gerade einmal die Hälfte von ihnen erhob, nachdem Aaron an sie herangetreten war, ließ Darius vermuten, dass sie den ganzen Tag über nichts anderes taten, als Gäste auf die Insel und wieder zurückzufahren.
Nachdem der Iatas-Meister ein kurzes Gespräch mit einem der Seemänner geführt hatte, bei dem er kurz nacheinander auf Darius, Ramir und sich selbst gedeutet hatte, nickte dieser schließlich zustimmend. Der Älteste von ihnen, dessen langer, roter Schnauzbart ihm bis weit über die Oberlippe wuchs und der mehrere schlecht verheilte Narben auf den Handrücken aufweisen konnte, winkte einen nach dem anderen an Bord des Kahns, der unter jedem einzelnen Tritt bedrohlich zu schwanken begann.
Auch wenn er ihn nicht besonders gut leiden konnte, so musste Darius Ramir im Geiste dennoch zustimmen; viel mehr als eine Nussschale war das Boot wirklich nicht. Es wies sogar eine vergleichbare Form auf. Halbrund wie eine Schüssel trieb der Nachen auf der Wasseroberfläche, wo er anscheinend ununterbrochen von den Wellen gegen den Pier gestoßen wurde. Lediglich die Vorderseite hatte eine etwas spitz zulaufende Form, um das Wasser besser verdrängen zu können.
»An die Ruder!«, kläffte der alte Seebär und nahm selbst vor einer der sechs Auskerbungen Platz, durch die er sogleich eine der langen Holzstangen schob. Der Kahn, dessen gesamtes Innenleben lediglich aus einigen morschen Bänken bestand, die im blanken Holz festgenagelt waren, hätte zur Not auch noch weiteren Passagieren Platz geboten. Doch da die anderen Seeleute nicht mit hinüber wollten, blieben drei von ihnen gelangweilt auf dem flachen Steg sitzen.
Mit jedem Ruderschlag entfernte sich die Fähre weiter vom Festland und Darius konnte vor Aufregung schon bald nicht mehr an sich halten, sodass er beinahe zwanghaft aller paar Atemzüge den Kopf nach hinten drehte, um hinüber zur Insel zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis er die ersten Fischerhütten am anderen Ufer ausmachen konnte. Mit jedem Blick, den er über die Schulter warf, schienen die flachen Holzhäuser zahlreicher zu werden. Schon bald wuchsen die einzelnen, kläglichen Behausungen zu einem ganzen Dorf heran, das sich in einem weiten Band um die stetig näher rückende Festung schmiegte, von der er jetzt bereits die Fenster erkennen konnte.
»Werde ich eigentlich in so einer Hütte leben oder in der großen Burg?«, fragte Darius hoffnungsvoll und wünschte sich, dass Aaron und nicht Ramir ihm diese Frage beantworten würde.
»Als angehender Iatas lebst du in Baknakaï, wo du anfangs auch ausgebildet wirst. Die umliegenden Hütten sind unsere Kornkammer«, erklärte Aaron, wobei seine Stimme gleichmäßig ruhig blieb und man gar nicht bemerkte, dass er während des Sprechens körperlich arbeitete. Genau wie Darius selbst, hatte auch er sich von Beginn ihrer Fahrt an mächtig ins Zeug gelegt.
Mit Genugtuung hatte der Jüngling in den ersten Augenblicken festgestellt, dass sein Ruder immer ein wenig eher ins Wasser ein- und dann auch wieder daraus hervortauchte als das von Ramir. Doch nun, wo sich ihre kurze Reise über die Meeresenge zusehends dem Ende näherte, ließen seine Kräfte merklich nach. Obwohl sich beachtliche Muskelberge unter dem einfachen Leinengewand des jungen Diebes spannten, so waren Anstrengungen über einen längeren Zeitraum dennoch gänzlich neu für ihn.
»Kornkammer? Was soll das heißen?«, keuchte er und versuchte dabei seinen Tonfall dennoch betont beiläufig klingen zulassen.
»Es bedeutet«, erwiderte Aaron, nach wie vor gelassen, »dass die Menschen, welche in der kleinen Siedlung rund um Baknakaï herum leben, einzig für uns arbeiten. Sie sind Bauern oder Fischer, die ihren gesamten Ertrag an uns weitereichen müssen und selbst nur das behalten dürfen, was sie zum Leben brauchen.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte Darius verwundert und runzelte die schweißnasse Stirn. »Wieso nehmt ihr den Bauern ihre gesamte Ernte? Ihnen sollte erlaubt sein, ihre Waren zu einem gerechten Preis auf einem Markt zu verkaufen.«
»Ganz einfach«, erklärte ihm Aaron milde lächelnd. »Diese Menschen hier haben schon seit Generationen einen Vertrag mit uns, der ebenso einfach wie nützlich ist. Auf ganz Epsor toben Krieg und Gesetzlosigkeit. Vielleicht nicht gerade hier und jetzt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste größenwahnsinnige Fürst oder eine Bande wütender Orks ihre Nachbarn überfallen. Diese Menschen werden allerdings geschützt bleiben, denn in seinem gesamten Bestehen wurde Baknakaï nicht nur noch nie erobert, es wurde bisher nie auch nur angegriffen. Was, nebenbei bemerkt, auch kein Wunder ist, denn hier werden Krieger ausgebildet, von denen es jeder einzelne mit einer ganzen Truppe wilder Orks oder anderem Gezücht aufnehmen könnte. Und für den Schutz, den die Menschen auf dieser Insel genießen, leisten sie uns Abgaben, die uns wiederum unabhängig vom Festland machen.«
»Oh ... Ich verstehe«, schnaufte Darius abgehackt. Die Worte leuchteten ihm tatsächlich ein.
»Das sollte dich im Moment allerdings nicht interessieren«, mischte sich Ramir mit einem schneidenden Unterton in der Stimme ein. »Du wirst in Kürze dem Mann gegenüberstehen, der dein restliches Leben beeinflussen wird, wie kaum ein zweiter.«
Darüber hatte Darius sich in den letzten Tagen wahrlich mehr als einmal den Kopf zerbrochen. Als das kleine Boot endlich auf dem Strand auf Grund lief, war seine Kleidung unter den Armen und am Hals bereits unangenehm durchnässt. Obwohl seine Lungen brannten und sich auf seinen Handflächen bereits feuerrote Schwielen abbildeten, galten seine dringendsten Gedanken dennoch dem, was wohl nun gleich mit ihm geschehen würde. Während die drei schweigsamen Seemänner den Kahn ein Stück weit den Strand hinauf zogen, damit er nicht von der nächsten Welle davon getrieben wurde, waren Aaron und Ramir bereits über Bord gesprungen und wateten durch das knietiefe Wasser. Darius folgte ihnen zwar unaufgefordert, dennoch sehnte sich ein Teil von ihm danach, auf der Stelle wieder kehrt zu machen und zum Festland zurück zu rudern. Ein anderer, größerer Teil in ihm, der Teil, der in den vergangenen Tagen vor Aufregung Stück für Stück gewachsen war, verlangte nun allerdings danach, endlich auf den Mann zu treffen, von dem er die nächsten Jahre alles erlernen sollte.
Mit weichen Knien marschierte Darius über den ebenso weichen Sand, der an seinen nassen Stiefeln kleben blieb und in dem er bei jedem Schritt knöcheltief versank. Wie selbstverständlich marschierten Aaron und Ramir zwischen den einfachen Holzbauten hindurch, die unmittelbar nachdem der sandige Untergrund in tiefschwarze Erde übergegangen war, bar jeder Ordnung aus dem Boden sprossen. Grob- und feinmaschige Netze waren vor den Hütten aufgespannt und vereinzelt rannten Kinder spielend um sie herum.
Bereits nach wenigen Augenblicken schritten die drei Weggefährten schweigend einen schmalen Weg empor, der steiler bergauf ging, als es vom Strand aus den Anschein erweckt hatte. Von ihrer erhöhten Position aus konnte Darius erkennen, dass in einer kleinen Bucht, nordwestlich von ihnen, ein gutes Dutzend Fischerboote wie kleine Insekten auf dem Meer lagen. Noch immer war er viel zu aufgeregt, um eine große Unterhaltung führen zu können, dabei schossen ihm mit einem Male unendlich viele Fragen durch den Kopf. Wie würde sein neuer Meister wohl sein? Was würde er von ihm erwarten? Doch die wohl Dringendste war: Gehörte er überhaupt hierher? Unzählige Male war ihm der Gedanke, dass sich der Schamane womöglich getäuscht haben könnte, bereits durchs Hirn gespukt. Doch nie zuvor war er so allgegenwärtig gewesen, wie in diesem Augenblick. Was, wenn er den Anforderungen nicht gerecht werden würde?
»Da wären wir.« Aarons Worte rissen Darius aus seinen Gedanken. Er hatte kaum bemerkt, wie sie sich der Festung genähert hatten. Alles kam ihm wie in einem Traum vor. Die Felder, die den Weg links und rechts flankierten und auf denen Bauern ihrer Arbeit nachgingen, sahen aus, wie die in der Nähe seines Heimatdorfes und doch hätte er sich kaum in einer befremdlicheren Umgebung befinden können.
Wie eine riesige, flachbehauene Felswand türmten sich die grauen Mauern Baknakaï vor Darius auf. Unterbrochen waren die gut zehn Schritt hohen Granitwände lediglich von vereinzelten, schmalen Fenstern, die sich wie kaum wahrnehmbare Einkerbungen von dem ansonsten makellosen Fels abhoben. Gemeinsam durchschritten die drei die weit geöffneten hölzernen Torflügel, welche mehr als doppelt so groß waren wie Darius. Die dicken, fugenlos aneinander genagelten Bretter waren beidseitig mit schützenden Bändern aus vernietetem Metall umgeben, wodurch ein gewaltsames Eindringen von außen unmöglich erschien. Dicht hinter seinen Reisegefährten betrat der junge Dieb, mit vor Staunen weit geöffnetem Mund, die weitläufige Eingangshalle, in der sie bereits erwartet wurden.
»Das ist Farjez«, stellte Aaron einen älteren, ziemlich schmächtig wirkenden Mann vor, den er soeben mit einem Kopfnicken begrüßt hatte. Mit seinen grauen Haaren und dem faltigen Gesicht wirkte er in dieser Burg, die zugleich die größte Kaserne der Welt war, seltsam fehl am Platz. »Unsere Arbeit endet hier. Er wird dir ein Zimmer zur Verfügung stellen, in dem du dich ausruhen und etwas essen kannst. Anschließend wird er dich deinem neuen Meister vorstellen und ...«
Doch Darius unterbrach ihn mitten im Satz: »Er wird mich meinem neuen Meister vorstellen? Wie soll das vonstattengehen? Sagt er mir seinen Namen, ich ihm dann meinen und das war’s? Gibt es da nicht irgendeine Zeremonie, bei der ich irgendetwas beachten muss?«
»Was hast du dir vorgestellt?«, antwortete Ramir für seinen Meister. »Hättest du vielleicht gerne ein großes Fest mit ein paar Bauchtänzerinnen und einen Priester, der deinen Namen hoch lobt? Für wie wichtig hältst du dich eigentlich? Du kannst froh sein, dass dich überhaupt jemand nimmt!«
»Was Ramir damit sagen will«, wandte Aaron beschwichtigend ein, »ist, dass wir dir viel Glück wünschen und hoffen, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Vielleicht eher als du denkst.«
»Aber was ...?«, wollte Darius noch fragen, dem das alles viel zu schnell ging.
»Bis bald und viel Erfolg«, verabschiedete sich Aaron mit einem Zwinkern und streckte ihm die Hand entgegen. Darius schüttelte sie perplex, und nachdem er sich auch von Ramir verabschiedet hatte, kehrten ihm die beiden den Rücken zu und ließen den verblüfften Darius allein mit dem alten Farjez in der großen Eingangshalle zurück, die nun auf einmal dunkel und wenig einladend auf ihn wirkte. Mit dem Sack über den Schultern, in dem all seine Habseligkeiten steckten, stand er unschlüssig und verlassen auf den glattpolierten Steinplatten und sah den beiden hinterher.
Kaum, dass die zwei Iatas außer Hörweite waren, äffte Aaron grinsend seinen Schüler nach: »Hättest du vielleicht gerne ein großes Fest mit ein paar Bauchtänzerinnen und einen Priester, der deinen Namen hoch lobt?« Ramir lachte.
»Ich weiß, dass er jedes Fest und jede Zeremonie verdient hätte, schließlich ist er der Auserwählte. Aber ich habe nur gemacht, was du mir aufgetragen hast. Je weniger er über sich selbst weiß, desto besser, hast du gesagt. Die Wahrheit würde er wohl nicht ertragen.«
»Das stimmt«, entgegnete ihm sein Lehrmeister jetzt etwas ernster. »Auch wenn wir natürlich noch nicht mit Gewissheit sagen können, dass er es wirklich ist, aber das wird sich noch früh genug herausstellen. Jedenfalls hättest du ihn nicht so vor den Kopf stoßen müssen.«
»Was mir viel mehr Sorgen macht, ist die Sache mit dem Schamane«, meinte Ramir besorgt. »Machst du dir denn keine Gedanken darüber, dass er dahinter kommen könnte, dass es so etwas überhaupt nicht gibt?«
»Nein«, entgegnete Aaron zuversichtlich. »Bevor wir in sein Dorf kamen, wusste er noch gar nichts über die Iatas und er wird nicht lang genug hier sein, um allzu viel herauszufinden.«
»Wer ist eigentlich sein neuer Meister?«, fragte Ramir beiläufig. »Kenne ich ihn?«
»Ja, ich glaube, es ist Skal.«
»Skal?« Ramir runzelte die Stirn. »Aber ich dachte, der hätte schon einen Schüler. Cedryk heißt er, glaube ich.«
»Meines Wissens nach ist er tot«, antwortete Aaron schlicht und zuckte mit den Schultern. »Aber das kann uns egal sein. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt und sind nicht weiter dafür zuständig.« Während er das sagte, war der Iatas in Gedanken allerdings ganz woanders. Er fragte sich, wo und wann – aber nicht ob – sie Darius wiedertreffen würden. Denn das stand, da war er sich sicher, so fest, wie die Grundmauern dieser Burg.
Zur gleichen Zeit betrat Skal nur wenige Räume weiter den großen, von schwachem Fackellicht beleuchteten Ratssaal Baknakaïs und war überrascht, als er von allen zwölf Mitgliedern des Hohen Rates empfangen wurde. Zur Verkündung einer Strafe, wegen des Verlustes seines Schülers, hätte auch ein Einziger ausgereicht. Doch es blieb ihm kaum die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn schon richtete sich Asthirad mit dunkler Miene an ihn.
»Setzen!«, befahl er knapp, während er Skal vom Kopfende der langen Tafel aus durchdringend ansah. Anders als die meisten Iatas im Hohen Rat war Asthirad ein Mensch. Paradoxerweise wurde ihr Orden, der zum größten Teil aus Menschen bestand, an der Spitze hauptsächlich von Elfen und einigen Zwergen vertreten, da nur sehr alte und erfahrene Mitglieder in diesen ehrwürdigen Stand versetzt wurden.
Skal, der sich sonst eigentlich von niemandem etwas befehlen ließ, gehorchte nach kurzem Zögern und nahm folgsam auf dem Stuhl neben der Eingangstür Platz.
»Wie dem Hohen Rat zu Ohren kam, ist dein Schüler, Cedryk, kürzlich auf tragischem Wege ums Leben gekommen«, fuhr Asthirad mit kühler Stimme fort. Skal starrte zu Boden und nickte nur leicht mit dem Kopf, aber noch im selben Moment dachte er, dass man diese Geste in dem düsteren Raum kaum wahrnehmen würde und er wollte: ja, das ist richtig, antworten. Doch als er den Mund öffnete, blieb ihm die Stimme weg, und es kam nur ein leises, kehliges Geräusch hervor. Aus diesem Grund beschloss er, den Rest der Verhandlung zu schweigen und malte sich gedanklich bereits seine Strafe aus als Asthirad weitersprach.
»Hiermit möchten wir, und ich denke ich spreche für uns alle, dir unsere tiefe Trauer und Anteilnahme versichern. In Tagen wie diesen, wo in der ganzen Welt vereinzelte Kriege herrschen und viele Grafschaften und Herzogtümer kurz vor einem solchen stehen, kommt es leider immer häufiger vor, dass wir einen Toten in unseren Reihen zu beklagen haben. Umso schlimmer, dass ein junger Mann, kurz vor Beendigung seiner Ausbildung, starb und das aus einem so sinnlosen Grund. Deine Schuld daran ist, wie uns berichtet wurde, nicht ganz unerheblich, Skal. Die normale Strafe, für den Verlust eines Schülers unter diesen Umständen, wäre im Mindestfall der sofortige Ausschluss aus der ehrwürdigen Vereinigung der Iatas.«
Obwohl Skal so etwas bereits erwartet hatte, rutschte ihm dennoch das Herz in die Hose. Nun würde er neben seinem Schüler auch noch die Position des Iatas-Meisters verlieren, die er sich so hart erkämpft hatte. Und vielleicht sogar auch noch sein Leben.
»Allerdings«, fuhr der Vorsitzende des Hohen Rates mit Bestimmtheit fort, »haben wir uns anders entschieden.« Skal klappte die Kinnlade herunter und er wagte seinen Ohren kaum trauen. Doch ebenso wenig erlaubte er sich, die Stimme zu erheben, um das Gehörte zu hinterfragen, denn schon sprach Asthirad weiter.
»Mit elf Stimmen zu einer hat der Hohe Rat beschlossen – in Anbetracht deiner Leistungen, welche du in den letzten Jahren für uns erbracht hast, sowie der Tatsache geschuldet, dass wir viel mehr Schüler als Meister haben – dir noch einmal eine allerletzte Chance zu geben. Zudem werden wir die Regel für das Höchstalter, welches ein Mensch zu Beginn der Ausbildung seines Schülers haben darf, außer Kraft setzen und somit gleich zwei Tabus für dich brechen. Skal, wir erlauben dir hiermit, trotz des Verlustes deines Schützlings, sowie deinem fortgeschrittenen Alter, einen neuen Schüler aufzunehmen.«
Skal konnte sein Glück noch immer kaum fassen. Auf der anderen Seite meldeten sich seine Selbstzweifel plötzlich wieder stärker zu Wort. War er überhaupt dazu in der Lage, sich noch einmal eines jungen Mannes anzunehmen, jetzt, da er schon einmal versagt hatte? Doch in seiner Euphorie scherte er sich nicht darum, was die kleine Stimme in seinem Hinterkopf sagte. Einmal hatte er eine falsche, eine tödliche Entscheidung getroffen, ein zweites Mal würde ihm das nicht passieren. Während er auf dem niedrigen Stuhl ohne Armlehnen hockte, schien sein Herz noch immer Purzelbäume zu schlagen, sodass die nächsten Worte Asthirads kaum zu ihm durchdrangen.
»Es handelt sich jedoch nicht um irgendjemanden«, fuhr der Großmeister mit geheimnisvoller Stimme fort. »Auf den jungen Mann, der sich für die nächsten Jahre an deiner Seite befinden wird, trifft womöglich eine alte Prophezeiung zu. Das hat dich im Moment allerdings nicht zu beschäftigen. Ob die Vorhersage wahr ist oder nicht, wird sich dem Hohen Rat im Laufe seiner Ausbildung noch eröffnen. Sieh du nur zu, dass aus ihm ein tadelloser Krieger wird. Bist du damit einverstanden?«
»Ja, na...natürlich«, antwortete Skal sogleich hocherfreut und wusste seine zweite Chance mehr zu schätzen, als ein jeder von ihnen auch nur ahnen konnte. Die warnende Stimme in seinem Hinterkopf hatte er inzwischen längst zum Schweigen gebracht und war erpicht darauf, seinen neuen Schüler kennenzulernen. Obwohl natürlich kein anderer die Lücke in seinem Herzen jemals würde schließen können, die Cedryk hinterlassen hatte. Den Gedanken daran, dass es dieses Mal etwas geben könnte, das ihn daran hindern würde, die Ausbildung des Jungen erfolgreich zu beenden, verdrängte er geflissentlich. Für Selbstzweifel war jetzt einfach kein Platz mehr.
»Dein neuer Schützling ist erst vor wenigen Augenblicken angekommen. Farjez wird dich nun zu ihm führen«, meinte Asthirad in einem Tonfall, der das Gespräch für beendet erklärte. Skal erhob sich und neigte das Haupt in einer respektvollen Geste. Als er sich gerade umdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, erhob jedoch ein anderer Großmeister des Rates, den er noch nie zuvor gesehen hatte und dessen Namen er auch nicht wusste, die Stimme.
»Und Skal, es wäre schön, wenn Darius sich bei dir ein wenig länger halten würde als Cedryk.«
Skal sah dem Mann nur stumm in die Augen und nickte. Bei der Gelegenheit bemerkte er anhand der muschelförmigen Ohren, dass es sich bei ihm um einen der wenigen Menschen im Rat handelte. Einen Atemzug später drehte er sich wortlos um und verließ den Raum.
Darius hieß sein Schüler also.
Und Skal, es wäre schön, wenn Darius sich bei dir ein wenig länger halten würde als Cedryk. Dieser Satz ging dem Iatas nicht mehr aus dem Kopf, während er geistesabwesend den Weg in die Eingangshalle einschlug. Er war ihn schon so oft gegangen, dass seine Füße in den Fluren, die mehr einem Labyrinth als einer Burg ähnelten, von ganz alleine wussten, wohin sie sich zu wenden hatten. Skal war sich in diesem Moment sicher, dass dem Mann die eine Stimme gehörte, die bei der Abstimmung gegen ihn gewesen war.
Ahnte er womöglich etwas?