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Erstes Kapitel Jugendjahre

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Inhaltsverzeichnis

Emil Rathenau wurde am 11. Dezember 1838 in Berlin geboren. In der Rede, die er am Vorabend seines 70. Geburtstages hielt, erzählte er, nicht ohne beziehungsreichen Stolz:

„Als ich die Lebensreise antrat, gab es in unserer Vaterstadt ein interessantes Erlebnis: Die Vollendung der ersten preußischen Eisenbahn. Die Berliner sollen in hellen Haufen begeistert zum Potsdamer Tor hinausgepilgert sein, um den Zug nach Steglitz abfahren zu sehen. Viel zu langsam (nach heutigen Begriffen) bewegte er sich vorwärts, ohne Schlaf- und ohne Speisewagen; und doch war die Eisenbahn ein gewaltiger Fortschritt gegen die Postkutsche, in der mein Vater aus der Uckermark als Jüngling, meine Mutter als Kind mit ihren Eltern aus der Mark hierher übersiedelten.“

Rathenaus Großeltern väterlicherseits und namentlich mütterlicherseits waren für die damalige Zeit wohlhabende Leute gewesen. Sein Vater wurde früh Rentier und betätigte sich nur hier und da in Gelegenheitsgeschäften. In der Mischung von geschäftigem Unternehmungsdrang und schnellem Überdruß an einer seßhaften, geordneten Geschäftlichkeit, die der ganzen Familie etwas eigen gewesen zu sein scheint, die sich entschiedener in dem Lebensgang seines ältesten und seines jüngsten Sohnes ausprägte und die eine Zeitlang auch den mittleren und begabtesten Sohn Emil zu erfassen drohte, scheint bei dem Vater die Abneigung gegen eine ausdauernde Geschäftstätigkeit das überwiegende Element gewesen zu sein. Gewiß nicht aus Unlust zur Arbeit, sondern zu einer Arbeit, die ihm nicht zusagte, seinen Wünschen und Fähigkeiten nicht zu entsprechen schien. Ein strenger, Fremden und Verwandten gegenüber nicht gerade entgegenkommender Mann, dessen Denkungsweise aber rechtlich und redlich war, so wird er von denen geschildert, die ihn gekannt haben. Sein Anteil an der Erziehung seiner Kinder war offenbar nicht sehr positiv, er hielt sie äußerlich streng, aber er verstand und versuchte es nicht, auf ihre innere Bildung Einfluß zu gewinnen, und zu diesem Zwecke in ihr Charakter- und Seelenleben einzudringen. Sie entwickelten sich, im Guten wie im Schlechten, ohne ihn und trotz ihm, und da er kein sehr hohes Alter erreichte (er starb im Jahre 1871), verwischte und verfärbte sich die Einwirkung seiner Persönlichkeit in dem späteren Leben der erwachsenen Söhne ziemlich schnell. Emil Rathenau hat in der selbstbiographischen Skizze, die in seinem Nachlaß vorgefunden wurde, das Verhältnis zu seinen Eltern mit ein paar kurzen und ziemlich kühlen Worten geschildert:

„Mein Vater hat sich bald nach meiner Geburt vom Geschäft zurückgezogen. Er war streng und gewissenhaft und führte eine korrekte Ehe mit der klugen und geistreichen Mutter, die Ehrgeiz besaß und Eleganz in ihrer Erscheinung bis an ihr spätes Lebensalter zu bewahren, die Schwäche hatte. Für die Erziehung der drei Söhne scheuten die Eltern keine Kosten, aber sie überließen die Sorge hierfür der Schule und Privatlehrern, weil das gesellige und gesellschaftliche Leben ihnen die Muße nicht ließ, den wilden Knaben die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen.“

Auch der Mutter werden in dieser sachlich-knappen Darstellung keine Worte innerer Beziehung gewidmet und es mag richtig sein, daß auch sie trotz unleugbarer geistiger Begabungen und Interessen keine eigentliche Menschenerzieherin im innerlichen Sinne des Wortes gewesen ist. Dennoch wirkten der mütterliche Einfluß und das Gefühl für die Mutter in dem Leben der Kinder ganz anders nachhaltig wie die Beziehungen zum Vater fort. Hier war nicht nur Respekt, hier war Liebe und herzliche Zuneigung auf beiden Seiten, und wie sehr auch Entwicklung und Veranlagung die Söhne später auseinander führten, ja entfremdeten, der Mutter hingen sie alle treu an, und namentlich Emil Rathenau ließ — auch in den Zeiten, in denen seine Tage nicht mehr die Fülle der Arbeit fassen wollten — kaum einen Sonntag vergehen, an dem er die Frau, die in seltenem und klugem Greisenalter den stolzen Aufstieg des Sohnes erleben, seinen Stern noch im Zenith sehen durfte, nicht zu einem Plauderstündchen besuchte. Den Kindern gegenüber hatte sie jene Herzensfreundlichkeit besessen, die die Grundlage jedes wirklich schönen Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern ist und die bei tüchtigen und guten Kindern auch einmal einen bewußten Erziehungsplan ersetzen kann.

Emil Rathenau besuchte, wie seine Brüder, zunächst die alte Berliner Knabenschule von Marggraf in der Sophienstraße, wo die Vorschüler in ziemlich patriarchalischer Weise auf das Gymnasium vorbereitet wurden. Die Privatanstalt verließ Emil Rathenau nach einiger Zeit mit seinem älteren Bruder, der das nach Ansicht des Schulvorstehers unverzeihliche Vergehen begangen hatte, den Unterricht durch Knallerbsen zu stören. Im Jahre 1849 kam er auf das Gymnasium zum grauen Kloster, das damals von dem älteren Professor Bellermann geleitet wurde. Wie so viele, die später im praktischen Leben bedeutende Männer geworden sind, war Emil Rathenau kein Musterschüler, und den meisten Fächern, die auf dem humanistischen Gymnasium gelehrt wurden, vermochte er nicht viel Interesse abzugewinnen. Immerhin hielt er sich auf leidlichem Niveau. Die Selbstkritik seiner Leistungen auf dem Gymnasium hat er in die Worte zusammengefaßt: „An Begabung fehlte es mir weniger als an häuslichem Fleiß.“ Die interessanten und aufregenden Begebnisse politischer Art, die in die ersten Schuljahre Rathenaus fielen, lenkten naturgemäß seine und seiner Mitschüler Aufmerksamkeit von den Schuldingen ab, so sehr auch die Eltern und Lehrer die Jugend durch Vorhaltungen und Strafen ihrer Wirkungssphäre zu entrücken versuchten. Die Ereignisse des Jahres 1848 hat Rathenau meist auf der Straße miterlebt. Die ausführliche Schilderung, die er in seinen Aufzeichnungen von ihnen gibt, läßt erkennen, daß der Eindruck auf ihn und die damalige Schuljugend ein starker war, aber ebenso auch, daß dieser Eindruck ganz im Sensationellen, Straßenjungen-Romantischen wurzelte und ihm kaum eine Ahnung der politischen Hintergründe beigemischt war. „Es war eine lustige Zeit für die Jungen, da die neuerrungene Freiheit sich häufig auch auf den Schulunterricht erstreckte und Eltern und Lehrer im Ernst der Zeit den strengen Gehorsam nicht als das oberste Gesetz mehr zu betrachten schienen.“ — Einen ernsten und tiefen Eindruck machte wohl nur die Überführung der Märzgefallenen nach dem Friedrichshain. Hier traf die Wucht und Tragik der Ereignisse auch die Kinderseele. „Unvergeßlich“ nannte Rathenau diese Stunde.

„Wir beobachteten das Schauspiel von den Fenstern eines kleinen Hauses am Schloßplatz, das jetzt dem Neubau des Marstalls zum Opfer gefallen ist; es gehörte der Firma Krüger & Peterson, deren Tabakgeschäft durch den Verkauf von Hyazinthenzwiebeln in Berlin bekannt geworden war. Der Schloßplatz, die Kurfürstenbrücke, König- und Burgstraße waren dicht gedrängt, alles schwarz; überall wehten Trauerfahnen von den Dächern und an Fenstern, und auf Balkonen standen Männer und Frauen in tiefer Trauer. Die nicht endenden Züge von offenen Särgen konnten sich nur mühsam und langsam durch die enge Menschengasse gen Osten bewegen. Auf den Balkonen des Schlosses und gegenüber standen entblößten Hauptes der König und sein Gefolge über der Stelle, von der die Kartätschen ihren Weg durch die Breitestraße zur d’Heureuseschen Konditorei genommen und manche Erinnerung an die blutigen Ereignisse in Straßenbrunnen und Häusern zurückgelassen hatten.“

Mit dem Zeugnis für Unterprima verließ Rathenau schließlich das Gymnasium. Über seinen zukünftigen Beruf hatte er noch wenig nachgedacht. Technische Neigungen hatten sich wohl gelegentlich gemeldet, waren aber nicht so stark und bestimmend gewesen, daß die technische Laufbahn sozusagen im festen Plan eines zielbewußten Willens gelegen hätte. Die Entscheidung brachten vielmehr, wie so häufig im Leben, Familienbeziehungen. Rathenau wurde Maschinenbauer und lernte sein Handwerk von der Pike auf. „Da weder Terpsichore noch andere Musen an meiner Wiege gestanden,“ erzählt er launig, „reiste ich auch ohne ihr Geleit in die Lehre nach Schlesien.“ Dort besaßen seine reichen Verwandten, die Liebermanns, industrielle Betriebe, die für die damalige Zeit als sehr respektabel gelten konnten. Die Wilhelmshütte, bei Sprottau, ein Eisenwerk mit Maschinenbauanstalt, das seine Entstehung wie viele der damals noch karg gesäten industriellen Unternehmungen des preußischen Landes Friedrich dem Großen verdankte, später in Privatbesitz übergegangen war, aber erst in den Händen von Rathenaus Großvater mütterlicherseits, Liebermann und dessen Söhnen sich schnell einen gewissen industriellen Ruf erworben hatte, diente Rathenau als Lehrstelle. Die Lehre war wie die väterliche Erziehung zu Hause streng, und das verwandtschaftliche Verhältnis zu den Inhabern der Fabrik schaffte dem jungen Maschinenbauer in der Arbeit keine Erleichterung. „Proletarier in blauer Bluse und mit zerschundenen Händen“ nannte er sich, als er in späteren Jahren auf diesen Abschnitt seines Lebens zurückblickte. Das Herrensöhnchen durfte er — zu seinem eigenen Besten — nicht spielen und der tüchtige Mestern, der den technischen Betrieb ziemlich selbständig leitete, behandelte ihn wie jeden beliebigen anderen Praktikanten auch. Der junge Rathenau, der doch immerhin die Primareife besaß, niemals gering von sich dachte und sich wohl damals schon zu Höherem berufen fühlte, mag manchmal unter dem Joch geknirscht haben, und sich etwas inferior vorgekommen sein, zumal wenn er den nicht nur äußerlich feinkultivierten Haushalt seiner Verwandten als Kontrast zu seiner damaligen Lage betrachtete. Erblickte der Lehrling im Arbeitskittel seine „vornehmen“ Kusinen von ferne, so wich er einer Begegnung lieber aus und drückte sich, wenn es ging, um eine naheliegende Ecke, tief beschämt, wenn er inne ward, daß sie ihn doch gesehen und sich an seiner Verlegenheit geweidet hatten. — Volle 4½ Jahre mußte er aushalten und er hielt aus. Von seiner Lehrzeit hat Rathenau die folgende Schilderung gegeben:

„Das Werk hatte mein Großvater, ein hervorragender Industrieller unserer Stadt, mit seinen Söhnen eben erworben. Es lag in hübscher Gegend am Bober, besaß schöne Wohnhäuser und einen großen Park, und prächtige Wälder in der näheren und weiteren Umgebung machten den Aufenthalt angenehm.

Der Reichtum an Holzbeständen und Wiesenerzen, die die Verhüttung lohnten, Wasserkräfte von mäßiger Stärke und sehr billige Arbeitslöhne hatten im niederschlesischen Revier zur Errichtung von Hochöfen und Walzwerken Anlaß gegeben, und namentlich erstere versorgten fast die ganze Monarchie mit einfachem Guß und Poterien, die roh oder mit einer schönen weißen Emaille auf den Markt kamen. In den Gießhütten stellte sich bald das Bedürfnis nach Kupolöfen ein, um die Hallen und Arbeitskräfte durch Herstellung von Maschinen- und Bauguß besser zu verwerten. Die Wilhelmshütte hatte einen Hochofen von mäßigen Dimensionen, dessen Gase ungenutzt in die Luft stiegen und die Gegend mit hellen Flammen erleuchteten. Das Kolbengebläse wurde durch ein mittelschlächtiges Wasserrad angetrieben, wie es Scharwerker jener Zeit herstellten; bei der Konstruktion hatte man offenbar mehr auf billige und solide Herstellung als auf hohen Nutzeffekt Wert gelegt. Die Maschinenfabrik baute landwirtschaftliche Maschinen, meist nach englischem Muster, Pumpen, Wasserstationen, Weichen, Radsätze für Eisenbahnwagen, Apparate für Gasanstalten, Einrichtungen für Brennereien und Mühlen jeder Art, daneben wurde all und jedes, was das Publikum verlangte, auch wenn es in sehr losem Zusammenhang mit dem Maschinenbau stand, hergestellt, zum Beispiel eiserne Bettstellen, Turmuhren und dergleichen. Diese Vielseitigkeit wurde eingeschränkt, als bald nach meinem Antritt A. Mestern die Leitung des Werkes übernahm. Dieser begabte Techniker hatte sein gemeinsam mit Tischbein in Magdeburg betriebenes Zivil-Ingenieur-Geschäft aufgegeben und war auf Fr. Walz’ Empfehlung als Sozius in die Firma getreten. Er war ein reiner Empiriker und hatte meines Wissens weder im praktischen Betriebe noch auf Hochschulen Erfahrungen gesammelt, aber sein feines Auge und Gefühl, sein Verständnis der kinematischen Vorgänge, sein Talent in der Formgebung und Abmessung aller Konstruktionen ersetzten diesen Mangel an Ausbildung. Mestern kannte die Dampfmaschine in ihrer damaligen primitiven Ausführung, und wenn er nach einfachen Formeln, wie sie in England gebräuchlich zu sein schienen, die Hauptabmessungen festgestellt hatte, konstruierte er vertikale oder Balanzier-Maschinen mit gotischem Gestell oder auf blanken Säulen gelagerter Schwungradwelle. Viel Fleiß verwendete er auf Ausgestaltung der Formen im Geschmack seiner Zeit, auf tadellose Bearbeitung von unzähligen blanken Pfeilern; das Publikum der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts liebte und bezahlte solche Erzeugnisse, legte aber wenig Wert auf die ökonomische Wirkung, die es weder zu beurteilen noch zu messen verstand. Obwohl Sachverständige die Bedeutung der Expansion des Dampfes zu schätzen wußten, begnügten viele Konstrukteure sich mit der unvollkommenen Wirkung nicht entlasteter Schieber und Drosselklappen, und die Kunst im Bau dieser langsam laufenden Maschinen bestand zumeist in der Bearbeitung der Einzelteile mit nichts weniger als vollendeten Werkzeugen. Die schwachen Hobelmaschinen vibrierten schon bei winzigen Spänen, und da genaue Flächen einer gründlichen Nacharbeit in jedem Falle bedurften, begann man häufig sogleich mit der Handarbeit, um die Zeit des Aufspannens zu ersparen.

Eine neue Ära des Maschinenbaues begann mit der Corliß-Dampfmaschine nach amerikanischen Mustern. Ihr vorangegangen war eine Periode des Maschinenbaues mit U-förmiger Grundplatte, deren Dampfzylinder und Geradführung an dieser seitlich befestigt waren; das Schwungradlager mit mehrteiliger Büchse lag so in derselben, daß die Kurbel gegen die gedrehte Fläche lief; der hohle Raum der Grundplatte war mit einem Holzdeckel geschlossen und diente als Schrank für Werkzeuge; auf der Grundplatte stand der von einem Riemen angetriebene Regulator.

Die Konstruktion der Corliß-Maschine mit ihren getrennten Ein- und Auslaßschiebern wurde in allen Größen und in einer Ausführung hergestellt, die dem amerikanischen Original nicht nachstand; sie führten sich durch das bestechende Äußere und die Ökonomie des Dampfes rasch ein, trotzdem die Verkaufspreise den teuerern Herstellungskosten entsprechend hohe waren. Für Reversier-Walzwerke und Gebläsemaschinen wurde die Schiebersteuerung beibehalten, und bei den Wasserhaltungsmaschinen für das Waldenburger Revier büßte die Katarakt-Ventil-Steuerung ihre Bedeutung nicht ein. Als ich die Wilhelmshütte nach 4½jähriger Tätigkeit verließ, war sie eine Maschinenfabrik, die sich eines guten Rufes in den Kreisen der Industrie erfreute und den besten Fabriken gleichwertig erachtet wurde.“

Die lange praktische Lehrzeit, die weit über das hinausging, was heute ein akademisch gebildeter Ingenieur auf diesem Gebiete zu leisten hat, gab Rathenau eine gründliche handwerkliche Kenntnis des Maschinenbaus, für den er immer eine gefühlsmäßige Vorliebe behielt, mit auf den Lebensweg.

Rathenaus Austritt aus der Wilhelmshütte wurde durch die Mobilmachung der preußischen Armee aus Anlaß des italienischen Krieges herbeigeführt. Er sollte beim 2. Garde-Regiment eintreten, als der Friede von Villafranca geschlossen wurde. Damit wurde der Eintritt in das Heer zunächst aufgeschoben, der junge Mann ging aber nicht wieder zur Wilhelmshütte zurück, sondern entschloß sich, seiner technischen Bildung zunächst eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Aus der Erbschaft des Großvaters, die beim Kinderreichtum der Familie allerdings in 15 Teile ging, fiel ihm eine an sich bescheidene, für ihn aber damals nicht unbedeutende Summe von einigen tausend Talern zu. Mit diesem Gelde ausgerüstet, über das er ganz frei verfügen konnte, durfte Emil Rathenau, seinem längst gehegten Wunsch nach akademischer Durchbildung nachgeben. Er bezog zunächst die polytechnische Schule in Hannover. Da seine mathematischen Kenntnisse durch den Schulbesuch auf dem „Grauen Kloster“ nur recht mangelhaft gefördert worden waren, strebte er danach, sie durch Selbststudien zu ergänzen und hatte sich tatsächlich in kurzer Zeit in die Differential- und Integral-Rechnung so eingearbeitet, daß er den Vorlesungen, die allerdings keine großen Vorkenntnisse der Mathematik voraussetzten, gut folgen konnte. Die meisten Lehrer, so der Technologe Karmarsch, der Architekt Debo und der Statiker Ritter verstanden es, mit einer geringen Menge von Mathematik auszukommen, auch für das Studium des Maschinenbaus in seiner damaligen Form war ein Zurückgehen auf mathematische Begriffe nicht unbedingt erforderlich. Nicht lange konnte sich aber Rathenau in Hannover seinen Studien ruhig hingeben. Ein Streit um die akademische Freiheit sah Rathenau und einige preußische Kommilitonen unter den Wortführern, was den Zorn der welfischen Lehrer gegen die preußischen Studenten erregte. Nach Beendigung der Ferien ging Rathenau darum nicht mehr nach Hannover zurück, sondern wandte sich nach Zürich, wo Männer wie Zeuner, Reuleaux, Culmann und andere lehrten und in einem fast kameradschaftlichen Verhältnis zu ihren Schülern standen. Die Diplomprüfung bestand Rathenau, trotzdem die Zeit der schriftlichen Arbeiten gerade in die feuchtfröhliche Feier des eidgenössischen Schützenfestes fiel, mit der besten Nummer. Mit dem Diplom „eines richtig gehenden Ingenieurs“ kehrte der junge Techniker nach Berlin zurück. Der Wiedereintritt in die Wilhelmshütte stand ihm wohl offen, aber er hatte die Empfindung, daß er mit seiner inzwischen erworbenen wissenschaftlichen Methodik nicht mehr so recht unter die dortigen Empiriker passen würde. Als einen großen Erfolg betrachteten er und die Familie es, als er eine Anstellung in der Lokomotivfabrik von A. Borsig erhielt, die damals von dem Sohn des Begründers geleitet wurde. Zuerst wurde er im Zeichenbureau beschäftigt und hatte Arbeiten mehr untergeordneter Art auszuführen. Bald wurde er aber unter die meist älteren Konstrukteure versetzt und konnte sich unter der Leitung des Oberingenieurs Flöhringer mit der Konstruktion von Gitterbrücken, später unter der Leitung des Obermaschinenmeisters Stambke mit dem Entwerfen von Lokomotiven beschäftigen. Sein Gehalt betrug 25 Taler monatlich, womit er seine einfachen Bedürfnisse bestreiten konnte, ohne die geldliche Hilfe der Eltern in Anspruch zu nehmen. Dagegen speiste er Sonntags und an manchen Abenden der Woche im elterlichen Haus in der Kronenstraße. Die Tätigkeit bei Borsig befriedigte den jungen Ingenieur indessen nicht lange. Der Lokomotivbau wurde ziemlich schematisch nach den Entwürfen der Maschinenmeister durchgeführt und ließ den Konstrukteuren wenig Spielraum für die freie Entfaltung eigener Gedanken. Dazu war auch die Fühlung mit der Praxis, die eine solche Tätigkeit wenigstens vorausgesetzt hätte, sehr gering. Denn der Besuch der Werkstätten wurde durch Meister und Werkführer, die ihre Domäne namentlich den jungen Ingenieuren eifersüchtig verschlossen, sehr erschwert. Befand man sich doch damals in einer Zeit, in der die alte empirische Technik im Kampfe mit der neu aufkommenden wissenschaftlichen Methode stand, die auf den technischen Schulen herangebildet wurde und infolgedessen ihre Ideen etwas ungestüm und in der Form vielleicht auch etwas überheblich in die Praxis hineinzutragen suchte. Emil Rathenau war nicht der Mann, um seine frisch errungenen wissenschaftlichen Erkenntnisse sich im praktischen Betriebe um des leichten Fortkommens willen wieder langsam abzugewöhnen. Er hätte, wenn er ein Durchschnittsmensch und ein Durchschnittstechniker gewesen wäre, bei Borsig bleiben und allmählich eine wichtige Stellung, wahrscheinlich sogar einen Ober-Ingenieurposten erringen können. Aber Rathenau hat sich nie in seinem Leben mit mittelmäßigen Zielen begnügt. Er besaß die fruchtbare Unzufriedenheit des nach Großen strebenden Charakters, dem seine innere Entwickelung mehr wert war als eine gesicherte Existenz. Als er Borsig von seinem Entschluß, bereits nach ½jähriger Tätigkeit aus seinem Betriebe auszuscheiden und nach England zu gehen, benachrichtigte, schien der Chef einigermaßen darüber befremdet, daß Rathenau sein Interesse und seine Absicht, ihn bald in eine höhere Stellung aufrücken zu lassen, nicht mit größerem Dank anerkannte. Neben dem Bestreben, sich fortzubilden und alles in sich aufzunehmen, was die Technik damals in den fortgeschritteneren Industrieländern an Gegenwartserfüllungen und Zukunftsmöglichkeiten bieten konnte, war es wohl auch der Wandertrieb, der „Durst nach weiter Welt“, die ihn bewogen, die aussichtsreiche Stellung in der Heimat aufzugeben und sich in England, dem damals an der Spitze schreitendem Lande der Technik und Wirtschaft, gründlich umzusehen. Mit einem Empfehlungsbrief von Borsig an die große Maschinenfabrik von John Penn in Greenwich und einem zweiten des Admiralrates Coupette reiste Rathenau über den Kanal. Die Hoffnung einer Anstellung bei Penn schien sich zunächst nicht zu verwirklichen und Rathenau war vorerst darauf angewiesen, sich durch Annoncen im „Engineer“ eine Stellung zu suchen. Ein persönlicher Besuch in der Villa John Penns führte aber, ehe sich der junge Ingenieur zur Annahme eines Anerbietens der landwirtschaftlichen Maschinen- und Lokomotivfabrik Marshall in Gainsborough entschloß, doch noch zum Ziele einer Anstellung in der großen Greenwicher Fabrik und er bekam die Stelle eines Draughtsman mit 30 sh. Wochenlohn. Lassen wir nun Rathenau wieder selbst erzählen, wie sich seine Tätigkeit in verschiedenen englischen Fabriken gestaltete:

„Mein Vorgesetzter war ein liebenswürdiger Herr Lobb, der bald nach meiner Anstellung zu dem Österreichischen Lloyd überging; sein Nachfolger, Mr. Wright, war mir weniger sympathisch. Aber dieses Vorurteil war ungerecht, denn gerade ihm verdanke ich meine Heranziehung zu größeren Arbeiten. Ein Landsmann, der spätere Oberwerftdirektor Meyer, trat in dasselbe Bureau ein. Die teueren Lebensbedingungen veranlaßten uns zu einem gemeinsamen Haushalt, und wir fanden eine passende Behausung in der Nähe von zwei Marineingenieuren Gujod und Dede, die zur Überwachung der im Bau befindlichen Panzerkorvette nach England geschickt waren. Während wir unser Leben in Gainsborough allesamt sehr bescheiden einrichten mußten, fand ich hohe Befriedigung in der geschäftlichen Tätigkeit. Die englische Marine muß sehr gute Erfahrungen mit den Schiffen der Warrior-Klasse, zu denen „Achilles“ und „Black Prince“, wie ich glaube, gehörten, gemacht haben, denn sie ging zu einem ähnlichen Typ, dem Bellerophon, über und übertrug der Firma J. Penn & Sons die Ausrüstung des Schiffes mit Maschinen, Kesseln und Zubehör. Es war die erste 1000 PS-Expansionsdampfmaschine mit Zylinder von 105 Zoll, eine Trunk-Maschine, in der die Kurbelwelle zwischen jenen und den Kondensatoren gelagert war. Diese Konstruktion war neu, die Firma hatte früher meist oszillierende Dampfmaschinen gebaut und durch sie einen Weltruf erlangt. Nach Vollendung der Werkstattszeichnungen, Transportmittel, die für die ungewöhnlich schweren Arbeitsstücke angefertigt werden mußten, und der Gesamtanordnung, die bis in die Einzelheiten auf dem Papier festgelegt und in Maßskizzen den verschiedenen Abteilungen zur Fertigstellung überlassen wurden, befragte mich ein Freund, der nach Deutschland zurückzukehren im Begriff stand, ob ich sein Nachfolger in der Firma Easton & Amos zu werden wünsche. Die Vielseitigkeit dieses Geschäftes zog mich an und ich siedelte nach London über, das ich während meines Aufenthaltes in Gainsborough an Sonnabenden jeder Woche nachmittags mit Vergnügen aufgesucht hatte, und in dem das großzügige Leben und der enorme Verkehr auf den Straßen mich förmlich elektrisierten.

Im Gegensatz zu John Penns prächtigen Werkstatthallen und imposanten Werkzeugmaschinen fand ich hier eine elende Baracke, man mußte sich erst an die Arbeit in diesen Bureaus gewöhnen, die von den Schlägen der Dampfhämmer erzitterten. Auf den Zeichenbrettern häufte sich der Kohlenstaub, und während in Gainsborough unsere Kollegen junge lustige Leute waren, die Späße trieben und sich amüsierten, befanden sich hier meist Familienväter, deren Pünktlichkeit, wie die von Arbeitern, durch den Portier und Stundenzettel kontrolliert wurde; sie waren wohl meist aus diesem Stande hervorgegangen.

Meine erste Aufgabe war die Konstruktion einer Tunnelbohrmaschine nach den Patenten von Captain Beaumont: Eine Scheibe von etwa 5 Fuß Durchmesser enthielt an ihrem Umfange zur Achse parallel laufende Schlitze, in denen eine große Zahl von Stahlbohrern mit Keilen befestigt waren. Die hin- und hergehende Bewegung wurde durch einen mit der Scheibe verbundenen Differential-Dampfkolben verursacht, der in einem nach Art direkt wirkender Dampfspeisepumpen gesteuerten Zylinder vor- und rückwärts lief. Der volle Dampfdruck erfolgte bei der Stoßwirkung, während die kleinere Fläche den Rückzug vollendete. Waren die Stähle bis an die Befestigung in der Scheibe vor Ort in das Gebirge durch schnell aufeinanderfolgende Schläge eingedrungen, so erhielt der auf Rollen stehende Truck, der nach jedem Stoß selbsttätig vorrückte und sich wieder befestigte, eine geringe Drehung, so daß die Löcher in der gewünschten Teilung einen Kreis bildeten. Ein Bohrer in seinem Zentrum diente zur Aufnahme der Patrone, durch die die Sprengung erfolgte. Hierbei wurde die schwere Maschine auf den radial zur kreisrunden Öffnung stehenden Rollen des Trucks so weit zurückgezogen, daß man die Débris vor Ort bequem ausräumen konnte. Über das Schicksal dieser Maschine ist mir nichts bekannt geworden, dagegen sah ich ein anderes Werk meiner damaligen Tätigkeit nach einem Menschenalter noch im Betriebe. Es war ein hydraulischer Aufzug mit direktem Antrieb für Personentransport, der in dem ersten großen, damals im Bau befindlichen Hotel in Brighton aufgestellt wurde. Der sehr lange Stempel stak in dem Preßzylinder, für den man einen tiefen Rohrbrunnen in das Erdreich gesenkt hatte. Die einzelnen Kolbenteile bestanden aus gußeisernen Röhren, die durch Gewinde miteinander verbunden waren. Trotzdem diese Konstruktion große Sicherheit den Reisenden bot, erfuhr ich später durch Zeitungen, daß im Grand Hotel ein nach diesem Muster erbauter Aufzug mit den Passagieren verunglückt sein soll.

Die primitiven Einrichtungen deuteten auf den allmählichen Verfall des Werkes, und obgleich ich wegen der Vielseitigkeit der Aufträge eine bessere Schule in England kaum hätte wieder finden können, trat ich mit achttägiger Kündigung aus der Fabrik aus, die zwar bald nachher einen neuen Partner aufnahm, aber später von der Bildfläche, wie ich vorausgesehen hatte, verschwand. Der Wert der Grundstücke in der City hat hoffentlich die Inhaber oder Gläubiger für ihre Verluste im Betriebe entschädigt.

Auf eine Annonce in einem Londoner Fachblatt, durch die ein theoretisch erfahrener, der französischen Sprache mächtiger Ingenieur bei hohem Salär gesucht wurde, meldete ich mich zum sofortigen Antritt und hatte das Glück, aus der großen Zahl von Bewerbern mit 4 Lstrl. wöchentlichem Gehalt Anstellung nach kurzer Prüfung bei einer neu gegründeten Gesellschaft, die British & Continental Steam Improvements Co. firmierte, zu erhalten. Das Bureau der Gesellschaft lag in Adelphi Street, Strand, ihr Leiter war ein französischer Chemiker namens Martin, auf dessen Erfindungen das Unternehmen gegründet war. Der Dienst begann um 10 Uhr; nach dem Luncheon, das ich in dem dem Theater gegenüber liegenden Public House stehend, aber mit Gemütsruhe einzunehmen pflegte, erschien der Chef; er las die wenigen eingegangenen Briefe, besprach die Geschäfte, die ihn kaum mehr als mich erregten, und führte mich bei eintretender Dunkelheit in ein vornehmes Restaurant zum Mittagessen, das mir wegen der lukullischen Genüsse und der gewaltig hohen Preise imponierte. Niemals hatte ich für eine so geringe Tätigkeit eine solche Behandlung und Bezahlung erfahren. Meine Aufgabe war doppelter Natur; Konstruktionen und Schriftstellerei. Beide erstreckten sich auf eine Rauch verzehrende Lokomotivfeuerung einerseits und einen Kesselsteinreinigungsapparat andererseits; letzteren kannte ich bereits aus meiner früheren Tätigkeit; ich entsinne mich nicht, wo er zuerst konstruiert worden war, glaube aber aus der Literatur später erfahren zu haben, daß er unter dem Namen Schau in der Lokomotivfabrik in Wiener-Neustadt gebaut wurde. Auf dem Kessel war ein zweiter Dampfdom so befestigt, daß man ihn von den ebenen Dichtungsflächen leicht abnehmen konnte. In diesem waren Teller übereinander so angebracht, daß das kaskadenweise herabfließende Speisewasser von den oberen zu den unteren langsam in der heißen Dampfatmosphäre herabtröpfelte. Da gewisse Verunreinigungen bei diesen Temperaturen sich bereits absondern, so wurde die bewußte Reinigung häufig erzielt, und da auch die Wärmeverluste unbedeutend waren, so hat der Apparat sich zuweilen und jedenfalls bei den Versuchen bewährt, wie denn die Salze auf den Tellern bei ihrer Herausnahme ad oculus demonstrierten. Mit guten Patenten, genügender Reklame und glänzenden Zeugnissen hätte der Erfinder vielleicht durch Herstellung en masse einen Gewinn für die Gesellschaft erzielen können, dazu aber fehlte ihm kaufmännische Begabung.

Die Lokomotive, in die auf einem der großen Bahnhöfe in London — ich entsinne mich nicht, ob Great Eastern, Northern oder Western — die neue Feuerung eingebaut wurde, gab befriedigende Resultate in ökonomischer Beziehung, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die feuerfesten Konstruktionsteile bei den Stößen und Erschütterungen, denen solche Dampfkessel ausgesetzt sind, eine genügend lange Dauer besitzen. Die maßgebenden Persönlichkeiten scheinen anderer Ansicht gewesen zu sein, denn kaum waren die Meßresultate in ihren Händen, so erhielt ich den Auftrag, eine Straßenlokomotive von Aveling und Porter mit der Feuerung auszurichten. Technisch bot dieses Kommissorium keine Schwierigkeiten, aber die kommerzielle Behandlung öffnete mir die Augen über die Geschäftsgebarung, und ich beschloß deshalb, einen neuen Wirkungskreis zu suchen.“

Vorher wünschte Rathenau seine Eltern nach zweijähriger Abwesenheit wiederzusehen; zumal diese in der Meinung, daß der junge Ingenieur sich draußen in der Welt genügend umgesehen habe, und sich nunmehr eine dauernde Existenz gründen solle, auf die Rückkehr drängten, die nach ihrem Wunsche eine dauernde Heimkehr sein sollte, während Rathenau selbst, als er sich zur Heimreise anschickte, noch nicht fest entschlossen war, sich für die Dauer im Heimatlande anzusiedeln. Indessen gefiel es ihm im Hause Viktoriastraße 3, das die Eltern inzwischen bezogen hatten, recht wohl und er ließ sich unschwer überreden, seine weiteren Wanderpläne aufzugeben. Den Eltern und Freunden kam es bei ihren Plänen zu statten, daß Rathenau, trotz aller Lust die Welt kennen zu lernen, doch mit seinem ganzen Herzen an Deutschland und besonders seiner Heimatstadt Berlin hing, und eigentlich in seinem ganzen Leben niemals ernstlich daran dachte, sich wie so viele andere tüchtige Deutsche jener Zeit irgendwo draußen, wo es sich zu jener Zeit besser und aussichtsvoller leben ließ, dauernd anzusiedeln. In seinem Streben und Denken war Rathenau Kosmopolit. In seinem Grundgefühl blieb er trotzdem immer bodenständig. Jeder Fortschritt, jede Errungenschaft, jede Verbesserung der Verhältnisse, die er irgendwo draußen sah, waren ihm nie allein Inhalt genug. Er konnte sie sich nur in Verbindung mit der Heimat denken, der er entstammte und der er ihren Nutzen dienstbar machen wollte. So wenig sich Rathenau durch die Schranken und Bedingungen des Vaterlandes binden oder hemmen ließ, so sehr er alle Fernen nach neuen wissens- und nachahmenswerten Einrichtungen abschweifte, in irgend einem fremden Boden hätte er nie Wurzel fassen können. Dort sich einfach und bequem niederzulassen, wo das Neue bereits entwickelt war, reizte ihn nicht, bot seinem Schaffenswillen wohl auch nicht Leistungsmöglichkeit und Spielraum genug. Ihn leitete stets das instinktive Bestreben, das Neue dorthin zu verpflanzen, wo es sich noch nicht vorfand und ihm schwebte wohl schon damals der Gedanke vor, daß in Deutschland ein weiteres Arbeitsgebiet offen lag als in fortgeschritteneren Ländern, wo er die Hauptstraßen bereits durch einen zu starken Wettbewerb besetzt fand. „Trotz schmaler Kost und wenig Geld“, sind Emil Rathenau, der in dem berechtigten Stolz, auf eigenen Füßen zu stehen, schon damals auch die kleinste geldliche Beisteuer des Vaters nicht mehr angenommen hatte, die Jahre in England unvergeßlich geblieben. Außer den technischen Erkenntnissen, die er ihnen verdankte, gaben sie ihm den freien Blick des Staats- und Weltbürgers und eine ausgeprägte demokratische Anschauungsweise, deren Fundament sich nie verlor, wenngleich der Geschäftsmann sie später aus Opportunitätsgründen, vielleicht auch aus Mangel an Zeit für politische Interessen, nicht mehr sonderlich betonte, allerdings auch nie verleugnete. Auch der spätere Gegensatz zu der aufkommenden sozialdemokratischen Agitation mit ihrer Erschwerung der Arbeiterbehandlung und Arbeiterökonomie für das Unternehmertum mag dazu beigetragen haben, den demokratischen Grundton der Rathenauschen Denkweise zu dämpfen. In den englischen Jahren warf er sich ihr aber mit Entschiedenheit in die Arme. Bedeutete sie doch eine reife Betätigung und Erfüllung der ringenden Bestrebungen, deren jähes gewaltsames Aufflackern der heranwachsende Knabe im Jahre 1848 staunend, wenn auch wohl nicht verstehend, miterlebt, für die der junge polytechnische Student dann im engen Kreise mitgekämpft hatte. Das waren Erinnerungen, die in der englischen Luft wieder aufgewacht waren und ihm manche Einrichtungen der englischen Bürgerfreiheit als glücklich und nachahmenswert erscheinen ließen. Auch die Freihändlerlehre mochte sich dem jungen Deutschen damals so tief ins Gemüt gesenkt haben, daß er Zeit seines Lebens nie so recht von ihr loskam, auch hier allerdings später die Theorie den Zweckmäßigkeitsgründen seiner besonderen Interessensphäre anpassend.

Nun machte Emil Rathenau zum ersten Mal den Versuch, seßhaft zu werden und sich eine Position zu schaffen, wie sie den Augen der Familie wohlgefiel. Ein wohlsituierter Bürger und tüchtiger Fabrikbesitzer, das war das Ziel, das den Eltern vorschwebte und das sich immerhin um eine wesentliche Spielart von den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen unterschied, die sonst in den damaligen jüdischen Kreisen Berlins und Deutschlands üblich waren. In der Industrie hatten die jüdischen Kaufleute damals erst in geringem Umfange Fuß gefaßt. Handel und Finanz waren noch ausgesprochener als heute die Hauptgebiete ihrer Betätigung, und die kombinierten, großkapitalistischen und großgewerblichen Methoden, durch die sie späterhin den Übergang auch in die Industrie fanden, erschienen damals noch wenig ausgebildet. Allerdings fehlte es nicht an Ausnahmen. Der Stern des industriellen Gründers Strousberg, der allerdings durch eine Welt von dem soliden deutschen Industrietypus geschieden war, stand damals noch im Zenith. In Berlin waren es gerade Rathenaus Verwandte, die Liebermanns und Reichenheims, die als Industrielle sich bereits einen soliden Reichtum und ein großes bürgerliches Ansehen geschaffen hatten. Mitglieder der Familie Liebermann besaßen neben der schon erwähnten Wilhelmshütte in Sprottau eine bedeutende Tuchweberei, die Familie Reichenheim gleichfalls eine blühende Textilfabrik im schlesischen Wüste-Giersdorf. Auch die noch jetzt als Aktiengesellschaft bestehende Textil-Firma Anton und Alfred Lehmann befand sich im Besitz von Verwandten Rathenaus. Gerade diese Beispiele aus der Familie, die sich allerdings nach dem Tode des Großvaters Liebermann nicht mehr allzuviel um Emil Rathenau und sein Elternhaus kümmerte, werden dazu beigetragen haben, den jungen Rathenau der industriellen Laufbahn zuzuführen. Nach der Rückkehr aus England begab er sich auf die Suche nach einem geeigneten, bereits bestehenden und eingeführten Unternehmen. Durch Familienbeziehungen gelangte Rathenau an eine Fabrik, die damals verkäuflich war und auch den Eltern eine geeignete Grundlage für eine Selbständigkeit zu bieten schien. Es war die kleine Maschinenfabrik von M. Webers, die in der Chausseestraße, dem damaligen Berliner Maschinenfabrikenviertel, unweit der alten Berliner Anstalten von Schwartzkopf, Borsig, Wöhlert und Engells gelegen war. Die Fabrik beschäftigte nicht mehr als 40–50 Arbeiter und betrieb neben dem Bau von Dampfmaschinen die Herstellung von Einrichtungen für Gas- und Wasserwerke. Auch Zentrifugalpumpen, Lokomobilen und was sonst zu dem Betrieb einer damaligen Maschinenfabrik gehörte, wurde gelegentlich hergestellt. Daneben führte das Unternehmen, gewissermaßen als Monopol, sämtliche Apparaturen aus, die die Königlichen Theater brauchten. Emil Rathenau prüfte die Grundlage des Betriebes, von denen die technische trotz ziemlich primitiver Methoden einen besseren Eindruck machte als die kaufmännische, und war grundsätzlich zu einem Erwerb bereit. Die Verfassung, in der sich das Unternehmen damals befand, wurde von ihm wie folgt geschildert:

„Aus einem früheren Vergnügungslokal, Bella Vista, war ein hübsches Wohnhaus mit Vorgarten stehen geblieben, das sich durch schmuckes Äußeres hervortat; hinter diesem lag die Fabrik in dem früheren Tanzsaal, der sich als Seitenflügel dem einstöckigen Wohnhause anschloß; Dampfkessel, wie sie unter bewohnten Räumen zu jener Zeit zulässig waren, und eine ihrer Größe entsprechende Dampfmaschine trieben vermittels Wellentransmission die einfachen Werkzeugmaschinen, wie sie Chemnitzer und Berliner Fabriken herstellten. Die Fabrik hatte einen guten Ruf. Der spätere Rektor der technischen Hochschule in Darmstadt hatte als technischer Leiter die Bügel- und Balanziermaschinen etwas modernisiert und mit einer Expansionsvorrichtung versehen, die sich recht bewährt hat. Ein Glockenventil, das auf und mit dem Schieber sich bewegte, wurde von dem unrunden Konus auf der Spindel des Zentrifugalregulators geöffnet und geschlossen.“ — Der junge Ingenieur konnte und wollte das Wagnis, das auch über die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Kräfte hinausging, nun allerdings nur in Gemeinschaft mit einem tüchtigen und gleichgesinnten Kaufmann übernehmen. Für die Fabrik mit Grundstücksgebäuden und Inventar — dazu gehörte ein großer Garten mit schönen alten Bäumen — wurden 75000 Taler gefordert und von dem Käufer eine Anzahlung von einem Drittel dieses Betrages verlangt, über das Emil Rathenau nur zum Teil verfügte. An Geldmännern, die sich an dem Geschäft beteiligen wollten, fehlte es nicht. Doch konnte sich Rathenau nicht zur Wahl eines stillen Teilhabers entschließen. Ein Sozius fand sich aber bald in der Person des um zwei Jahre jüngeren Julius Valentin, den Rathenau als Nachbarkind vom Monbijouplatz und als jüngeren Schulgenossen vom Grauen Kloster her kannte. Die beiden jungen Männer trafen sich ganz zufällig. Auf der Straße begegnete Rathenau einige Zeit nach seiner Rückkehr aus England dem jungen Valentin, der ihm den Eindruck eines intelligenten, offenen Menschen machte. Den ersten gegenseitigen Fragen nach dem „Woher“, nach den Lebensschicksalen beider seit der gemeinsamen Schulzeit, folgte bald die Frage nach dem „Wohin“, den Plänen für die Zukunft.

Rathenau erzählte schließlich, daß er etwas Eigenes unternehmen wolle, auch schon eine bestimmte Sache in Aussicht habe, daß ihm aber noch der Kaufmann fehle. Auf die Frage, ob er dieser Kaufmann sein wolle, und ob er sich mit einem bestimmten Kapital beteiligen könne, bat sich Valentin Bedenkzeit aus, gestand auch ganz offen, daß er nicht nur über die zu erwerbende Maschinenfabrik, sondern auch über Rathenau selbst vorher Erkundigungen einziehen müsse. Einige Tage nachher bat sich Valentin von Rathenau eine schriftliche Erklärung aus, daß er ihn zum Sozius bei der Fabrik nehmen wolle. Den jungen Ingenieur verstimmte diese Vorsicht ganz und gar nicht, sie gefiel ihm sogar, und man vereinbarte weitere Besprechungen. Diese fanden statt, und man wurde miteinander einig. Rathenau und Valentin erwarben gemeinsam die Maschinenfabrik, und der Jugendbekanntschaft folgte eine enge, fast zehnjährige Geschäftsgenossenschaft und bald eine herzliche Freundschaft, die auch die geschäftliche Trennung überdauerte, in manchen späteren gemeinsam geplanten, wenn auch nicht ausgeführten Projekten ihren Ausdruck fand, und das ganze Privatleben der beiden trefflich zueinander passenden Männer durchzog. Wenn man den glaubhaften Schilderungen des in seinem Verhältnis zu Rathenau selten bescheidenen Valentin folgt, so ist Emil Rathenau schon in der damaligen gemeinsamen Tätigkeit der führende, aktive und bestimmende Teil gewesen, während Valentin sich anpaßte und bemüht war, die Gedanken und Anregungen Rathenaus, so gut ihm das möglich war, auszuführen. Daß auch Valentin kein gewöhnlicher Mensch gewesen ist, zeigen die immerhin respektablen Erfolge in seiner späteren eigenen Tätigkeit. In der Leitung der Maschinenfabrik Webers jedenfalls vereinigten und ergänzten sich die beiden Charaktere auf das beste, und es ist vielleicht nie wieder ein äußerlich Gleichgeordneter mit Rathenau, der im Verkehr mit Menschen als eigenwillig, rücksichtslos, ja manchmal sogar als hart galt, so gut und glatt ausgekommen wie Valentin. Dieser rühmt besonders die feine, taktvolle Art, mit der sein damaliger Sozius bei gemeinsamen Verhandlungen und Beratungen jedes Pochen auf seine Überlegenheit, jede besserwisserische Art vermied. „Ja sogar, wenn man Aufklärung, Belehrung bei ihm suchte, hatte man am Ende den Eindruck, als ob Rathenau, der klar und mit ausgeprägtem Sinn für das Wesentliche auseinanderzusetzen und zu antworten verstand, als der Gewinnende, Belehrte und Dankbare aus der Unterhaltung schied.“ — Ungefähr zu derselben Zeit, als die Maschinenfabrik M. Webers in den Besitz der beiden Freunde überging, heiratete Rathenau Mathilde Nachmann, die Tochter eines angesehenen und wohlhabenden Bankiers, und die Mitgift, die er erhielt, bildete zum Teil die finanzielle Einlage, die er in die Sozietät mit einbrachte. Mathilde war Emil Rathenau sein ganzes Leben hindurch eine treue und kluge Lebensgefährtin, die in den jungen Jahren der ersten kaufmännischen Tätigkeit an den Plänen und Arbeiten ihres Mannes ihren beratenden Anteil nahm und ihm später in den Jahren des beschäftigungslosen, manchmal unbefriedigten Suchens stützend und anspornend zur Seite stand. Als dann das Lebenswerk Rathenaus auf fester Grundlage errichtet war, die Tätigkeit wuchs, sich verzweigte und die Tages-, manchmal auch die Nachtstunden des Mannes in immer zunehmenden Umfange fortnahm, lernte sie sich bescheiden, gerade weil sie verstand, daß große Männer mehr ihrem Werke als sich und ihren Nächsten gehören. Sie konnte sich auch bescheiden, weil sie der Liebe ihres Mannes, des Teils seines Denkens und Fühlens, der dem Menschen und Privatmann verblieb, stets sicher war und stets sicher sein durfte. So wenig Emil Rathenau für seine Familie im weiteren Sinne übrig hatte, so innig war er mit seiner engsten Familie verwachsen, so selbstverständlich fest war sein Familienzusammengehörigkeitsgefühl mit seinen nächsten Angehörigen. Unzertrennbar wie er den Eltern, besonders der Mutter anhing, fühlte er sich auch Frau und Kindern verbunden. Dieses Bewußtsein linderte auch in den späteren Jahren die Klage der Lebensgefährtin, daß sie von ihrem Manne so wenig hätte, und „es kaum so viele Romane gäbe, wie sie in ihren einsamen Stunden lesen müßte.“ Daß an eine ins Einzelne gehende Teilnahme der Gattin an der Arbeit des Gatten in späteren Jahren in der Rathenauschen Ehe gar nicht mehr zu denken war, erscheint bei der Größe, dem Umfange und der Vielseitigkeit dieser Arbeit nicht verwunderlich. Auch die aktiengesellschaftliche Form und die strenge Scheidung, die Rathenau — wie wir noch später sehen werden — zwischen seinen eigenen Vermögensinteressen und denen der Aktiengesellschaft stets wahrte, ließ eine enge Fühlungnahme der Gattin mit den Geschäften des Gatten, zu der Mathilde Rathenau an sich durchaus fähig gewesen wäre, nicht entstehen. Wie weit ihre Geschäftsfremdheit in späteren Jahren gegangen ist, zeigt ein Vorfall, den mir Rathenau einmal persönlich erzählt hat. Die A. E. G. hatte seit einiger Zeit die Herstellung der lichtstarken und stromsparenden Metallfadenlampen aufgenommen und dafür eine große geschäftliche Propaganda entfaltet. In seiner eigenen Wohnung am Schiffbauerdamm brannten aber noch ganz gemütlich die altmodischen Kohlenfadenlampen, bis eines Abends Frau Mathilde einmal den Gatten fragte: „Sag mal, Emil, Ihr macht doch jetzt in den Zeitungen so viel für eine neue Lampe Reklame. Können wir die nicht auch bei uns einführen?“ — Dieser Vorfall, der zugleich für die völlige Gleichgültigkeit kennzeichnend ist, mit der Emil Rathenau immer nur das Allgemeine, nie das Spezielle sehend, sein Privatleben wenigstens in äußeren Dingen behandelte, kann gegen den tiefen inneren Ernst, mit dem Rathenau die Ehe — allerdings weitab von jeder modernen Emanzipation — ansah und behandelte, nicht das geringste besagen. Frau Mathilde wird diesen Vorfall wahrscheinlich ebenso von der gemütlichen, humoristischen Seite genommen haben, wie die harmlose Galanterie, die ihr Mann, besonders auf Reisen — und zwar je älter er wurde, umso mehr — jungen oder klugen Damen, mit denen er gern und gut plauderte, entgegengebracht hat. Wußte sie doch, daß dabei keine Spur von Erotik, sondern nur angeborene Ritterlichkeit dem weiblichen Geschlechte gegenüber mitspielte, die diesem innerlich keuschen, jeder groben Sinnlichkeit abholden Manne stets eigen war, eine Ritterlichkeit, die er der Gattin selbst stets entgegengebracht hatte.

Aber kehren wir wieder zu dem jungen Rathenau und seiner Maschinenfabrik zurück. Kurz nach ihm hatte auch der Sozius Valentin geheiratet, und die beiden Familien wohnten nun in dem der Fabrik vorgelagerten Wohnhause in der Chausseestraße, einträchtig beisammen. Abends nach getaner Arbeit zogen die beiden Ehepaare nicht selten gemeinsam in das Stadtinnere, nach der Friedrichstadt, wo es damals noch an jeder Kanalisation fehlte und die Abwässer in offenen Rinnsteinen, an den Straßenübergängen nur von Bohlen überdeckt, sich ihren Weg suchten, an warmen Sommerabenden einen wenig angenehmen Duft verbreitend. Die baulichen und hygienischen Verhältnisse ließen auch in der Zeit, als Berlin schon Reichshauptstadt geworden war, noch viel zu wünschen übrig. Die Einführung der Gasbeleuchtung hatte die wenig fortgeschrittene Kommunalverwaltung zunächst einer englischen Gesellschaft überlassen, die Gründung des ersten öffentlichen Schlachthofes und der ersten Markthalle durch Strousberg betrachtete man mit Mißtrauen und suchte ihr, statt sie zu unterstützen, allerlei kleinliche Hindernisse in den Weg zu legen. Rathenau, der ja die damals viel besseren Verhältnisse in englischen Großstädten kannte, empfand die Rückständigkeit der Vaterstadt schmerzlich, und auf den gemeinsamen Abendspaziergängen entwarf er, dessen Hirn stets voll von Plänen steckte und dem besonders beim Sprechen die Projekte nur so zudrängten, nicht selten kühne und großzügige Modernisierungsvorschläge.

Die Tätigkeit Rathenaus in der Maschinenfabrik M. Webers dauerte fast 10 Jahre. Als die beiden Freunde die Leitung übernahmen, verstanden sie von dem Fabrikbetriebe, wie Rathenau selbst zugab, wenig oder nichts. Der alte Webers hatte einen Buchhalter hinterlassen, der Valentin in die Mysterien der einfachen kaufmännischen Tätigkeit einweihte. Rathenau glaubte eine ähnliche Stütze in dem Ingenieur zu finden, der den technischen Arbeiten in Bureau und Werkstatt vorgestanden hatte. Dieser Mann, verstimmt darüber, daß sein früherer Chef das Anwesen verkauft hatte, ohne ihn zu fragen, ob er selbst darauf reflektiere, zog sich aus dem Geschäft zurück, um eine eigene Fabrik zu begründen und Emil Rathenau war somit allein auf sich selbst angewiesen. Der wichtigste Gegenstand bei seinem Eintritt war die Herstellung des Schiffes für Meyerbeers Oper „Die Afrikanerin“, die von dem Königlichen Opernhaus damals vorbereitet wurde. Rathenaus Interesse für derartige Theaterarbeiten war gering. Weder die Bühne noch die Balletteusen, für deren Gruppendarstellungen er schmiedeeiserne Konstruktionen auszuführen hatte, übten eine Anziehungskraft auf ihn aus. Zu dem Programm des Unternehmens gehörten, wie wir schon gesehen haben, außer Dampfmaschinen von nicht erheblicher Größe, Apparate für Gasanstalten und Wasserwerke, wie sie in den beschränkten Werkstätten und mit den vorhandenen einfachen Hilfsmaschinen ausgeführt werden konnten. Auch Schieber von den kleinsten bis zu den größten Abmessungen bildeten eine lohnende Spezialität. Über die technischen Zustände, die Rathenau in der Fabrik vorfand, und über die Versuche, sie auf eine höhere Stufe zu heben, lassen wir ihn am besten wieder selbst berichten:

„Während Aufträge auf gewisse Gegenstände ohne Mühe und regelmäßig einliefen und die listenmäßigen Preise ohne Feilschen erzielten, schwankten die Bestellungen auf Dampfmaschinen, und diese Schwankungen erschwerten den geordneten Werkstattbetrieb. Brauchbare und leistungsfähige Arbeiter lassen sich nur erziehen, wenn sie die Überzeugung gewinnen, daß ihre Beschäftigung eine dauernde ist und das Unternehmen im Aufblühen sich befindet, denn mit dem Wachsen der Bestellungen nimmt auch ihr Verdienst zu. Der Bau von Dampfmaschinen nach Preislisten, wie viele amerikanische Fabriken ihn später aufgenommen haben, lag zuerst in meiner Absicht, aber ich sah bald, daß jeder Kunde neue Wünsche äußerte und die von mir festgelegten Typen diesen nicht entsprachen. Lag die fertige Maschine rechts, wünschte man das Spiegelbild, war das Schwungrad als Riemscheibe ausgebildet, forderte man besondere Scheiben, befand sich die Kondensation hinter dem Dampfzylinder, legte man Wert auf den Antrieb der Luftpumpe von der Kurbel usw. Unter solchen Umständen beschloß ich eine neue Type zu schaffen, in der Hoffnung, daß mit derselben die Kritik aufhören würde, und in dieser Erwartung habe ich mich nicht getäuscht, denn viele hundert Maschinen von 1 PS bis zu ansehnlichen Leistungen wurden ohne Änderungen der Modelle ausgeführt und verkauft; freilich sorgte ich stets, daß sie auf der Höhe der Technik verblieben. Diese Maschinen nannte ich zum Unterschiede von Lokomobilen auf Rädern transportable Dampfmaschinen. Sie bildeten ein in sich abgeschlossenes Ganze. Die vertikale Maschine war mit ihrer Grundplatte an dem sauber gearbeiteten stehenden Dampfkessel befestigt; die einfache Feuerbüchse erhielt durch herabhängende (Fieldsche) Röhren genügende Heizfläche, und die aufsteigenden Rauchgase wurden durch eine mit feuerfestem Material bekleidete Eisenwand abwärts und dann in den Schornstein geführt. Die Montage der Maschinen nahm geringe Zeit in Anspruch, sie konnten in tadelloser Ausführung fast immer sogleich vom Lager oder aus den Werkstätten geliefert werden, hatten einen ganz befriedigenden ökonomischen Effekt und so viele Vorzüge vor stationären Maschinen mit schwerfälligen Kesselanlagen, Einmauerungen, Schornsteinen usw., daß die Firma sich bald eines Rufes erfreute und die Fabrikate über die ganze Welt absetzte. Weitere Spezialfabrikationen bauten sich auf direkt gesteuerten Dampfpumpen auf, die die Schwungradpumpen allmählich ersetzten, auf Zentrifugalpumpen, darunter solche für Hochdruck und direkten Dampfmaschinenantrieb, auf Ejektoren für Kondensationszwecke und dergleichen, während Dampfmaschinen und Dampfkessel in allen Größen, wie sie damals üblich waren, auf besondere Bestellung gebaut wurden. Es muß hier bemerkt werden, daß der schöne Garten modernen Werkstätten für Kessel- und Maschinenbau inzwischen Platz gemacht und Umsatz sowie Arbeiterzahl mit jedem Jahre sich vermehrt hatten. Außer den laufenden Bestellungen betätigten wir uns in Konstruktionen für das Heer und die Marine.

Die Firma Siemens & Halske hatte uns den Auftrag zur Herstellung einer 10 PS transportablen Dampfmaschine erteilt, die auf Rädern dergestalt hergestellt war, daß Dampfkessel und Maschinen auf der Hinterachse, Dynamo- und Erregermaschine auf einem leichten schmiedeeisernen Gestell ruhten. Der Betrieb erfolgte mittels Riemen. Die Versuche mit Scheinwerfern wurden entweder auf dem Tegeler Schießplatze oder der damals unbebauten Genthinerstraße, wo die Bureaus des Ingenieurkomitees sich befanden, wie ich meine, mit befriedigendem Erfolge ausgeführt.

An ersterer Stelle hatten wir bereits größere Leistungen aufgewiesen. Unter Leitung eines sehr befähigten, damals als Hauptmann fungierenden Offiziers hatten wir einen drehbaren Panzerturm für zwei 50 cm-Geschütze erbaut; die Panzerplatten waren so schwer, wie sie die englische Firma damals walzen konnte, umgaben aber hauptsächlich den Teil des Turmes, in dem die Minimalscharten sich befanden, während der übrige Teil des Ringes aus sehr starken Flächen und die gewölbte Kalotte aus einer Doppellage von diesen gebildet wurde. Die Drehung des solid und genial konstruierten Turmes erfolgte durch das Gewicht von Artilleristen mittelst Hebel und Tritte vorwärts und rückwärts in mäßigem Tempo. Fast eine Kunst war die Auswechslung der schweren und langen Geschützröhren in dem niedrigen Turm; ohne Kräne und Winden mußte sie in wenigen Stunden erfolgen. Diese Röhren wurden in Eisenblechlafetten durch zwei voneinander unabhängige Vorrichtungen so bewegt, daß der ideelle Drehpunkt in der Schießscharte verblieb und diese auf ein Minimum reduziert werden konnte.

Die Mannschaft wurde allmählich mit den Manipulationen so vollkommen vertraut, daß es eine Freude war, die schwierigen Exerzitien zu beobachten. Welche Einfachheit der Übungen im Vergleich zu den heutigen Manövern, bei welchen alle Neuerungen der modernen Technik zur Anwendung gebracht sind! Über die zahlreichen Feldbefestigungen, die wir ausführten, gehe ich hinweg zu dem Barackenlager, das in Tegel errichtet, vorher aber in einem Exemplar in unserer Fabrik aufgestellt wurde. Gebogene I-Eisen, durch einen Ring zu einer Kuppel vereinigt und mit einem halben Stein ausgewölbt, bildeten hohe, luftige Wohnräume für etwa je 16 Mann; kleinere Baracken waren für Offiziere, Küchen, Latrinen usw. bestimmt. Bei Ausbruch des französischen Krieges hatte das für eine Kompagnie in Tegel bestimmte Lager die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und der damalige Direktor der Charité Esse, Virchow und andere Zelebritäten bestürmten uns, zwei solcher Baracken, für die das Material noch vorhanden war, in dem Königin Augusta-Hospital zu errichten. Acht Damen, darunter meine Frau, übernahmen die Pflege der Verwundeten, deren Lob und Dank sie erwarben. Die hohe Protektorin wünschte mir als Urheber des zeitgemäßen Gedankens und seiner Verwirklichung ihre Anerkennung persönlich auszusprechen, aber die Auszeichnungen, die meine Frau erfuhr, schienen mir eine ausreichende Belohnung für die zur Befriedigung meiner patriotischen Gesinnung bewirkte Leistung.

Als die Kriegserklärung erfolgte, stand das Geschäft plötzlich still, der Gütertransport auf den Bahnen hatte aufgehört, die besten Arbeiter waren zu den Fahnen berufen, Aufträge liefen nicht mehr ein, und niemand wußte, welche Ausdehnung der Zustand nehmen würde. Da erhielten wir die Anfrage, ob wir Minentorpedos anfertigen könnten. Die anderen Berliner Fabriken hatten es abgelehnt, sich auf die Herstellung der völlig neuen und von unseren Fabrikaten gänzlich verschiedenen Konstruktionen einzulassen, und so erhielten wir den großen Auftrag zu den von uns auskömmlich berechneten Preisen. Das Material wurde auf Requisitionsschein herbeigeschafft, und die mit der Fabrikation beschäftigten Beamten, wie ich selbst, von der Dienstpflicht im Heere befreit. In kurzer Zeit waren Werkstätten und Höfe für den neuen Zweck eingerichtet. Verzinkereien angelegt, große Feuer zum Biegen der Bleche gebaut und Drehbänke für Herstellung der Schrauben und Zünder angeschafft. Die ungewohnte Arbeit ging anfänglich schwer vonstatten; es fehlte an guten Holzkohlenblechen, die die unsanfte Behandlung vertrugen, und auch die Dichtung ließ zu wünschen übrig. Allmählich lernten wir und unsere Arbeiter jedoch die Behandlung, und jeder Torpedo wurde anstandslos abgenommen. Als die Konkurrenz sah, wie immer neue Arbeiter von uns eingestellt wurden, die sie aus Mangel an Beschäftigung entlassen mußten, bewarben auch sie sich um diese Aufträge und erhielten sie, da unsere Leistungen erschöpft waren. Aber die höheren Preise, die man ihnen zugebilligt hatte, wurden uns nicht nur für die noch in Ausführung und Bestellung gegebenen, sondern auch für die bereits abgelieferten Torpedos in einem schmeichelhaften Schreiben über unsere Leistungen gewährt.

So beschlossen wir, unsere Fabrikation beträchtlich zu erweitern. Die Kesselschmiede wurde damals in Berlin noch recht primitiv betrieben. Bei Arbeiten aus dünnen Blechen, wie bei Gasbehältern, erhielten wir kaum die Auslagen für Material und Lohn ersetzt, wie wir zuletzt beim Bau in Nauen zu unserem Bedauern erfahren hatten, und nicht viel besser erging es bei Dampfkesseln, Brücken, Dächern, Trägern usw., die nach Gewicht geliefert und verrechnet wurden. Die einzige Hilfe, uns aus dieser üblen Lage zu befreien, war auch in diesem Zweig die Aufnahme von Spezialfabrikaten, denn die Herstellung der Torpedos hatte gezeigt, daß wir billig zu arbeiten in der Lage waren. Da mit feinerem Material auch die Arbeit sich verbessern mußte, nahmen wir den Bau von Stahlkesseln auf, die zwar neue Konstruktionen und Einrichtungen erforderten, aber auch bessere Verkaufspreise erzielten, da wir mit Preisunterbietungen seitens der Konkurrenz nicht mehr zu rechnen brauchten. Auch hier zahlten wir Lehrgeld; denn als ich in den Weihnachtsfeiertagen durch die Kesselschmiede ging und die Arbeiten betrachtete, sah ich, daß an verschiedenen Bördelungen der Feuerröhren infolge mangelhaften Materials Längsrisse entstanden waren. Der Fabrikant der Bleche schob die Schuld von sich auf nicht genügend langsame Abkühlung nach dem Biegen der Flansche, ich vermutete die Ursache in der Unzuverlässigkeit des Materials und überlegte, ob es nicht geraten sei, die weitere Fabrikation solange zu sistieren, bis Erfahrungen aus dem Betriebe vorlägen. Seit länger als 30 Jahren ist der von mir gefertigte Stahlkessel im Betriebe einer Tuchfabrik, und der Besitzer ist seines Lobes voll.

Eine andere von mir eingeführte Fabrikation hat sich seit meiner Zeit zu außerordentlicher Höhe entfaltet: die Verarbeitung von Wellblechen. In der Fabrik für Eisenbahnbedarf von Pflug erbaute ich zwei freitragende Dächer aus Wellblech von erheblicher Spannweite über der großen Schmiede. Interessant ist, daß gerade auf diesem Grundstücke die A. E. G. etwa zehn Jahre später ihre erste Fabrikationsstätte errichtet hat. Indem ich jener Fabrik gedenke, erinnere ich mich, daß nicht nur die ersten Dampfheizungen in den Waggons unter den Sitzen der Reisenden, sondern auch Niederdruck-Wasserheizungen in Wohnhäusern von mir ausgeführt sind: sie bewiesen, daß man ideale Behaglichkeit erreichen kann, wenn man die Kosten der Anlage nicht spart. — Kompressoren wurden gebaut, um Gefäße mit komprimierter Luft zu füllen, mit der die Soldaten in langen Minengängen sich ernährten. Sie trugen die kurzen Röhren über den Tornistern auf dem Rücken und konnten dadurch ihre Arme frei bewegen. Erwähnenswert ist auch die Herstellung einer Dampfturbine. Sie bestand aus zwei miteinander verbundenen Scheiben, die, durch dünne Zwischenlagen voneinander getrennt, den Dampf von der Mitte nach dem Umfang durch Schaufeln ausströmen ließen, die in den Zwischenlagen ausgespart waren. Die Querschnitte der Aktionsturbinen erweiterten sich der Expansion des Dampfes entsprechend nach dem Umfang zu, und dieser strömte durch die hohle Welle in das Rad, das in einem Gebäude rotierte, um den Auspuff in die Atmosphäre zu leiten. Bei der geringen Heizfläche der stehenden Dampfkessel und der wenig ökonomischen Wirkung war es immer nur minutenweise möglich, die Turbine im Leerlauf zu erhalten, und die Versuche wurden aufgegeben. Hätte man die Geschwindigkeit zu steigern, Kondensation anzuwenden und die erzeugte Arbeit auf die noch wenig bekannten Dynamos zu übertragen verstanden, die Fortsetzung der Versuche wäre beim Übergang von Aktions- zu Reaktionsrädern vielleicht von Erfolg gekrönt worden.“

Diese Schilderung zeigt, daß alles von Rathenau damals an Neuerungen Versuchte, zwar im einzelnen ganz schöne Erfolge brachte, aber doch den Rahmen für eine großzügige Erweiterung oder gar für eine grundlegende Umgestaltung des im ganzen primitiven Betriebes nicht abgeben konnte. Über die Grenzen, die der damaligen Maschinen-Industrie in Deutschland noch gesetzt waren, fand sich das Unternehmen nicht hinaus. Es gab in der Maschinenfabrikation jener Zeiten bestimmte Typen, an denen zwar hier und da kleinere oder größere Verbesserungen angebracht wurden, die aber doch im großen und ganzen ziemlich festlagen. Bahnbrechende Erfindungen wurden nicht gemacht, für großzügige Experimente wurde nicht viel Geld ausgegeben. Emil Rathenau, der noch mit einem anderen Ingenieur den ganzen technischen Stab der Maschinenfabrik bildete, saß in jener Zeit fleißig am Reißbrett und betätigte sich, ohne schon eine Spur seiner späteren schöpferischen Kaufmannsbegabung erkennen zu lassen, hauptsächlich als Konstrukteur. Mit dem, was sich mit den Mitteln seiner Fabrik verwirklichen ließ, war er innerlich nicht zufrieden. Damals durchgrübelte er in den freien Stunden, die ihm der nicht überhastete Betrieb ließ, bereits die Möglichkeiten des Maschinenbaus, und Ideen, die später in der Hochdruck-Zentrifugalpumpe und der Dampfturbine ihre Verwirklichung fanden, fühlte und dachte er schon bis an die Schwelle ihrer Konstruierbarkeit problematisch vor. Zum großen Konstrukteur fehlte ihm weder die technische Phantasie noch die intime Kenntnis der maschinellen Praxis, aber wohl das breite Zwischengebiet, das zwischen diesen beiden Exponenten liegt. Er hatte das Gefühl dafür, welche Erfindung nottat, und wußte wohl auch die Richtung ungefähr zu treffen, in der sie zu gewinnen war. Er verstand es auch trefflich, die vielen kleinen und großen Hindernisse zu beseitigen, die auf dem Wege von der prinzipiell gelungenen Konstruktion bis zu ihrem glatten und geschäftlich rationellem Funktionieren in der Praxis wie Steingeröll auf einer schon tracierten, aber noch nicht applanierten Chaussee zu liegen pflegen. Aber die Chaussee zu bauen vermochte er nicht. Dazu fehlte es seinem technischen Sinn an gleichmäßiger Kraft, seiner Arbeit an Freiheit und Selbständigkeit. Darunter scheinen auch seine konstruktiven Versuche in der Maschinenfabrik gelitten zu haben. Gänzlich neue Gebilde vermochte er nicht zu schaffen. Damals bemächtigte sich seiner zeitweilig sogar eine gewisse Resignation hinsichtlich der Entwickelungsfähigkeit des Maschinenbaus überhaupt, und seinem Sozius klagte er in der beginnenden Stimmung des Überdrusses an dem ewigen Kreislauf des kleinen Betriebes, daß die Kolbendampfmaschine in allem Großen und Wesentlichen wohl für alle Zeiten festgelegt sei, und an ihr höchstens mittlere und kleine Verbesserungen noch erreicht werden konnten. Es war schon nach einigen Jahren ersichtlich, daß die Tätigkeit in der Maschinenfabrik dem ruhelos schweifenden Geist Rathenaus, der Entwickelungsfeld, Weite und die Möglichkeit des vollen Schaffens vor sich sehen mußte, keine dauernde Befriedigung zu bieten vermochte. Wäre Emil Rathenau eine Durchschnittsnatur gewesen, ein Mensch, dem es genügt hätte, einen guten und entwickelungsfähigen Wohlstand zu gründen, so würde er in der Chausseestraße zufrieden geblieben sein, mit der Aussicht, es vielleicht allmählich zu einer Position zu bringen, wie sie seine Verwandten Liebermann sich geschaffen hatten. Das Gefühl und der Wert des Erwerbens und Besitzens haben aber Rathenau in seiner Handlungsweise nie geleitet. Gelderwerb war ihm eine Begleiterscheinung der Arbeit und ein äußeres Zeichen für ihren Erfolg. Persönlich bedürfnislos, ohne Sinn für Wohlleben und Luxus, auch in der Zeit des Reichtums noch dem Geld mit kleinbürgerlichen Gefühlen gegenüberstehend, so ist er allezeit geblieben. Nur die Seligkeit des Schaffens war es, die ihn beflügelte und befriedigte. Seinem Werke diente er, weil er in dem Werke und mit ihm wachsen, sich ausleben konnte, nicht weil er durch Geld genießen und Macht üben wollte. Es ist kein Wunder, daß einen so gearteten Menschen nach wenigen Jahren ruhigen Wirkens im gemäßigten Klima Überdruß und Unrast überfielen. Nicht lange vermochte er sie sich und den Seinen zu verbergen. „Lassen Sie mich heraus,“ bat er den Sozius, Valentin. „Behalten Sie mein Geld im Geschäft, ich will keinen Pfennig heraushaben.“ — „Aber warum wollen Sie unser gutes Unternehmen, unsere harmonische Zusammenarbeit im Stich lassen?“ fragte bekümmert der Freund. „Ich finde darin keine Zukunft für mich, ich komme mir auch manchmal unseren Kunden gegenüber wie ein Betrüger vor. Unsere heutigen Maschinen verbrauchen viel mehr Kohlen, als sie dürften. Die Abnehmer rügen es nicht, aber gerade deswegen drückt es mich. Gewiß sind unsere Fabrikate nicht schlechter als die anderer Firmen. Das ganze Niveau ist zu niedrig. Es müßte gehoben werden, aber in einer Fabrik wie unserer, mit unseren Mitteln muß ich daran verzweifeln, es heben zu können.“ So sprach Rathenau, zuerst aus vorübergehenden Stimmungen heraus, die Valentin zurückzudrängen versuchte. „Ich will Ihre Stimmungen und Verstimmungen nicht benutzen, um mich zu bereichern. Wenn Sie aus der Firma herausgehen, bleibe auch ich nicht. Dann liquidieren wir eben oder verkaufen die Fabrik gemeinsam.“ Der Gedanke, den Sozius und Freund der ihm lieb gewordenen Unternehmung zu entziehen, hielt Rathenau dann wieder eine Zeitlang von seinem Vorhaben zurück. Aber die Stimmungen wurden immer düsterer, die Klagen immer dringlicher. „Es ist die typische Veränderungssucht der Rathenaus, ihr Mangel an Sitzfleisch,“ so urteilte vielleicht die Familie über die Nöte des schwer ringenden Mannes. Wer mochte ihn damals verstanden haben? — Nach dem Kriege von 1870/71 schien ein Ausweg zu winken. Ein großer Auftrag der Militärverwaltung auf Umarbeitung von 800000 Gewehren sollte vergeben werden. Rathenau gibt von dem Vorgang folgende Schilderung:

„Während der Torpedoauftrag zu Ende ging, erfuhr ich, daß man in den Spandauer Gewehrfabriken sich mit Umänderung der Visiere auf den eroberten Chassepotgewehren herumquälte und gern Offerten der Privatindustrie entgegennehmen würde. Ich begab mich unverweilt in das Bureau des Dezernenten und führte aus, daß die Umänderungen mit den hier üblichen Mitteln kostspielig und zeitraubend seien, daß ich mit modernen amerikanischen Millingmaschinen die Arbeit, deren Selbstkosten in Spandau ich auf fünf Taler schätzte, für ebensoviel Mark liefern würde. Der alte General hielt mich zuerst für einen Hochstapler oder Wahnsinnigen, wie ich aus seinen Fragen und Mienen sah, im weiteren Verlauf der Unterhaltung gewann er indessen die Überzeugung, daß meine Offerte Ernst sei, als ich als Garantie für die Erfüllung meiner Verpflichtungen eine imposante Summe (300000 Taler) bei einer ersten hiesigen Bank zu hinterlegen mich erbot. Obwohl ich keine Zusage erhielt, daß der Auftrag an uns zur Vergebung gelangen würde, veranlaßte ich einen Freund, der die Fabrikation der oben bezeichneten Maschinen durch seine Tätigkeit in Amerika genau kennen gelernt hatte, schleunigst nach den Vereinigten Staaten abzureisen und sich zu vergewissern, in welcher kürzesten Zeit der ausgedehnte Maschinenpark zu beschaffen sei. Ein Probevisier hatte er mitgenommen, und bald erhielt ich ein Kabeltelegramm, daß ein großer Teil der Werkzeuge und Maschinen in vier Monaten, der Rest in gewissen, näher bezeichneten Perioden zur Verladung gelangen würde. Mit diesem Telegramm begab ich mich nach der Zimmerstraße in das Bureau des Dezernenten, der fast sprachlos war, als ich auf seine Fragen die Absendung meines Delegierten kurz und bündig schilderte. Er hätte mir weder einen Auftrag erteilt, noch in sichere Aussicht gestellt, meine Handlungsweise sei nicht zu rechtfertigen; als ich ihm entgegenhielt, daß die Arbeit in kürzester Zeit vollendet werden müsse, daß weder die Königlichen Fabriken noch ein Dritter hierzu in der Lage seien, daß mit den alten Werkzeugmaschinen präzise Arbeit nicht hergestellt werden könne und meine Mittel mir gestatteten, für die Möglichkeit, eine große Bestellung zu erlangen, eine Summe zu opfern, beruhigte sich der alte Herr und entließ mich mit dem Versprechen, die Offerte wohlwollend zu prüfen. Als wir am Weihnachtsheiligabend desselben Jahres unsere Kinder unter dem Baum zu bescheren gerade im Begriff waren, meldete sich der Adjutant des Generals mit dem Auftrage, uns zu befragen, ob wir den geforderten Preis für Änderung von 800000 Visieren um 50 Pfg. das Stück zu reduzieren geneigt seien; in diesem Falle würde der Auftrag uns, sonst aber der inzwischen aufgetauchten Konkurrenz erteilt werden. Ohne lange Überlegung lehnten wir den Vorschlag ab, nicht weil wir an einen ernsten Wettbewerb glaubten, sondern weil nach Lage der Dinge diese Behandlung uns nicht fair erschien. Der Konkurrent ging, wie vorauszusehen war, bei der Arbeit zugrunde, denn er hatte weder die Mittel, die neuen Arbeitsmethoden einzuführen, noch kannte er diese. Sein Untergang war die Erweckung der Nähmaschinenfabrik von Ludwig Loewe & Co., die bis dahin Erfolge nicht aufzuweisen gehabt hatte. Nach meinen Kalkulationen sind an diesem Auftrage mehrere Millionen verdient worden, aber wichtiger als der einmalige Gewinn war die hierdurch herbeigeführte Annäherung an die Firma Pratt, Whitney & Co. in Hartford, Conn., deren Maschinen- und Werkzeugbau Loewe an Stelle der unlohnenden Nähmaschinen aufnahm und hiermit das Verdienst erwarb, den amerikanischen Machine tools eine würdige Stätte in unserem Vaterlande zu bereiten.“

Das Fehlschlagen dieses Geschäfts bedeutete aber für die Maschinenfabrik Rathenaus nicht nur einen entgangenen Gewinn und eine entgangene Entwicklungsmöglichkeit, sondern brachte auch einen — wenn auch nicht allzu schweren — Geldverlust mit sich. Im Vertrauen auf das erwartete Geschäft, an dessen Zustandekommen die Sozien nicht zweifelten, hatten sie zur Aufbringung der erforderlichen beträchtlichen Kapitalien einen stillen Teilhaber aufgenommen oder doch mit ihm einen Vertrag abgeschlossen, nach dem er einen Betrag von 600000 Mark einbringen sollte. Nachdem das Geschäft sich zerschlagen hatte, mußte dieser Vertrag gelöst werden, wobei dem Kapitalisten eine Abstandssumme von 20000 Mark zu zahlen war. Die Frage, ob Rathenau dem Unternehmen treu geblieben sein würde, wenn es durch den großen Auftrag der Militärverwaltung auf eine verbreiterte, und vielleicht wesentlich veränderte Grundlage gestellt worden wäre, ist schwer zu beantworten. Auch auf dem Gebiet der Waffen- und Werkzeugmaschinen-Industrie waren große Entwickelungsmöglichkeiten vorhanden, wie ja der Werdegang der Löweschen Fabrik zeigte, die später einen ganzen Kranz gewaltiger Unternehmungen der Waffen- und Munitionsindustrie, ihrer Hilfs- und Nebengewerbe und der Werkzeugmaschinenfabrikation um sich gruppiert hat. Hinter dem großartigen und vielgestaltigen Sonnensystem der A. E. G. mit seinen Ausstrahlungen nach allen Seiten und Himmelsrichtungen bleibt die beschränkte Spezialfabrikation des „Waffenkonzerns“ aber nicht nur an Umfang, sondern auch an Fülle der Formen und Gestaltungen, an Möglichkeiten zur Betätigung des kaufmännischen Ingeniums und des industriellen Schaffenswillens so weit zurück, daß sie fast einförmig erscheint. Ob einen Emil Rathenau, dem der Formenreichtum und die gewaltigen Maße der A. E. G. kaum genügten, dessen Phantasie den Wundern der Elektrizität himmelhoch nachfliegen durfte, die nüchterne Klein- und Präzisionskunst der Waffenindustrie und der Drehbänke dauernd gefesselt hätte, will mir nicht sonderlich glaubhaft erscheinen. Für die Entwickelung der deutschen Industrie ist es jedenfalls gut gewesen, daß Emil Rathenau als 33jähriger eine Enttäuschung bei einem kleineren Werke erlebte, um für größere Aufgaben freizubleiben, zu denen er erst als Reiferer mit 43 Jahren gelangen sollte.

Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter

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