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Drittes Kapitel Wirtschaftliche Vorbedingungen
ОглавлениеDie Wirtschafts-Geschichte aller Epochen und Länder weist wohl kaum — trotz der japanischen Emanzipation — einen zweiten Fall auf, in dem sich ein Volk in seinem ganzen ökonomischen Leben so grundsätzlich und grundlegend wandelte, in die Breite, Tiefe und Höhe reckte, wie das deutsche Volk nach dem wahrhaft schöpferischen Einigungskriege von 1870/71. Ich weiß, daß ich eine Binsenwahrheit niederschreibe, die von pathetischen Rednern, denen das unbegreifliche Wunder dieser Befreiung und Beflügelung elementarer Volkskräfte nie das Hirn erhellt hat, so oft leer hingesprochen worden ist, daß sie fast zur Phrase versteinte. Wenn man eine Erscheinung, wie die Emil Rathenaus, wenn man ein Werk, wie das des großen Organisators der Elektrizität in seinen Wurzeln und Verzweigungen, in seinem Werden und Sein verstehen will, darf man sich nicht schämen, diese Binsenwahrheit dreimal unterstrichen noch einmal auszusprechen, nachdem man sie von allem Phrasenwerk gereinigt und mit dem Blut des Gedankens wieder gefüllt hat.
Was der Schöpfer des geeinten Deutschland politisch erreicht hat, war schon nach wenigen starken Schritten des Volkes auf der neuerschlossenen Bahn klar und im Resultat abzuschätzen. Nach Bismarcks entscheidender staatsmännischer Tat hat es in Deutschland einen großen politischen Gedanken nicht mehr gegeben, brauchte es auch auf lange Zeit keinen mehr zu geben. Die erobernde Arbeit, die jetzt zu leisten war, ist wirtschaftliche Arbeit gewesen, selbst die Ansätze zu einer deutschen Kolonialpolitik, die nach den nun einmal verpaßten Möglichkeiten einer vollblütigen deutschen Kolonialwirtschaft mehr ein Luxus des mächtig gewordenen und reich werdenden Deutschlands waren, als eine wirtschaftliche Notwendigkeit, mußten Nebensache bleiben. Darin — noch mehr als in dem subalternen Niveau der epigonischen Regierungskunst — liegt wohl der tiefste Grund dafür, daß sich die Persönlichkeiten mit Schöpferwillen und Schöpferkraft im Deutschland der nachbismärckischen Zeit nicht der Politik, sondern dem Wirtschaftsleben zuwendeten, daß wir in Deutschland eine Überfülle bedeutender, ja großer Kaufleute und Industrieller, so wenig politische Talente besaßen. Der schöpferische Mensch drängt dahin, wo es zu schaffen gibt, und besonders Männer des großen Wurfes fanden in der Politik nicht das Feld, das ihrem Schaffensbedürfnis genügte, ganz abgesehen davon, daß sich ihr Temperament an den ständigen Reibungen und fruchtlosen Hemmungen (es gibt auch fruchtbare) mit dem Bureaukratenstaat müde gelaufen hätte. Es konnten wohl Organisatoren jener stillen, schmiegsamen Art, wie Stephan und Miquel im preußisch-deutschen Staate ihren Platz finden, eine volle und vielleicht übervolle Kraft wie Dernburg wurde darin nie heimisch, überschritt allenthalben die ihr gezogenen Grenzen, fand die Einheit ihres Werkes auf Schritt und Tritt von hochmütiger Verständnislosigkeit durchkreuzt und kapitulierte schließlich vor dem Geist Erzbergers.
Die politische Sammlung, die die bis 1870 verzettelten, durcheinander und gegeneinander streitenden Kräfte des Volkes in Richtung und Zusammenwirkung brachte, vermochte aber allein für sich und aus sich zunächst das neue wirtschaftliche Deutschland noch nicht zu schaffen, wenngleich eine Änderung und ein Aufschwung gegenüber dem bisherigen binnenwirtschaftlich beschränkten Zustand des Landes sofort sichtbar wurde, wenngleich aus dem Boden fast fabelhaft schnell frisches Grün emporsproß, vielleicht zu schnell emporwucherte. Aber all das war nur eine Verstärkung, eine Beschleunigung einer in ihrer Art und Richtung bisher schon im Flusse befindlichen Entwicklung. Es war nicht die Etablierung des neuen, technisch wie organisatorisch völlig anders gearteten Systems, das bisher noch nicht dagewesene Betriebsformen, Arbeitsmethoden, Wirtschaftsgebilde in Deutschland auf die Füße stellte, Kanäle und breite Tore auf den Weltmarkt öffnete, aus dem nach innen gerichteten, an versteckten Meereswinkeln träumenden Binnenlande den modernsten und expansivsten Industriestaat, den emsigsten Exporteur der Welt schuf. Dazu bedurfte es erst einer völligen Umdüngung des freigerodeten Bodens, der für die neue Ökonomie aufnahmefähig sein sollte. Die tüchtigen Industrieunternehmungen des Landes erhielten sofort nach dem Kriege einen verstärkten Antrieb gerieten in ein schnelleres Tempo der Entwicklung. Krupp, Borsig, Siemens fingen an wirklich groß zu werden. Sie und ein paar andere Werke wuchsen in die Statur von Weltfirmen hinein, aber die deutsche Industrie wuchs noch nicht zur Weltindustrie. Es gab schon große Industriepersönlichkeiten, Männer von jener zähen, soliden Genialität, die von unten, von klein herauf strebten, ihre Geschäfte Schritt für Schritt aufbauten, ihren Unternehmungen nur den gerade unbedingt notwendigen Schuß von Spekulation beimischten und geliehenes Geld wenn überhaupt, so nur widerwillig, gewissermaßen contre coeur und contre honneur aufnahmen. Noch in unsere heutige ganz anders geartete Zeit ragen Reste dieser Familienindustriewirtschaft hinein. Man denke an die Tradition bei Aktiengesellschaften wie Siemens & Halske und Krupp, an den alten Magnaten- und Gewerkenreichtum in Westfalen und Oberschlesien. Neben diesen Industriepersönlichkeiten und Industriefamilien mit durchaus intensiver Finanzwirtschaft standen schon damals große, oder doch wenigstens berühmte Finanziers. Sie waren entweder ihrem Grundzuge nach reine Bankiers wie damals noch die Bleichröders, Mendelsohns, Schicklers, die Industriefinanzierungen nur gelegentlich mitmachten, oder sie konnten, wenn sie die wechselseitigen Befruchtungsmöglichkeiten von Industrie und Bankgeschäft schon erkannten — wie einer der Bahnbrecher des modernen Finanzwesens, David Hansemann — den neuen Weg nur vorsichtig beschreiten, weil sich in ihrer Hand zu jener Zeit lange noch nicht die Kapitalien gesammelt hatten, die für eine Industriefinanzierung großen Stils notwendig sind. Die damals größte Bank Deutschlands, die Diskontogesellschaft, verfügte in den 70er Jahren über ein Kapital von 60 Millionen Mark, unser heutiges führendes Institut, die Deutsche Bank, nur über ein solches von 45 Millionen. Die Mittel dieser Banken und des Kapitalmarktes flossen in jenen Zeiten abgesehen von den Beträgen, die der Handel beanspruchte, in weit größerem Umfange als den Industrien den Eisenbahngesellschaften zu, die sich damals noch im Privatbesitz befanden und deren Aktien wie Obligationen mit den wichtigsten Posten in der Anlagenbilanz des nationalen Kapitals bildeten.
Einer allerdings hat schon damals — und zwar schon vor dem Kriege — seiner Zeit und ihren Möglichkeiten mit ungeduldigem Geniewurf vorausgreifend, beides, das Industrielle und das Finanzielle, in denkbar größtem Maße zu vereinen versucht, sich nicht damit begnügen können, ein einziges Unternehmen in Ruhe auszubauen, sondern sein Bedürfnis und seine glänzenden Fähigkeiten im Anregen, Finanzieren und Verwirklichen immer neuer Projekte betätigen müssen. Strousberg, dessen Größe nur allzusehr im „Entwerfen“ lag, und den nicht nur seine nach einem Sündenbock suchende Zeitgenossenschaft, sondern auch die geschichtliche Registratur als das böse Musterbeispiel einer „Gründerei nur um des Gründens willen“, als das Symbol jener sinn- und skrupellosen Wertetreiberei der ersten siebziger Jahre verewigt hat. Er war es nicht, war nicht Symbol, nicht Urheber, sondern Opfer dieser in allen Fäulnisfarben schillernden Periode. Ihre Wurzeln waren nicht die seinen; der Krieg, der die eigentlichen Gründer groß machte, hatte ihn, der damals gerade zuviel auf die Karte seiner rumänischen Bahnbauten gesetzt hatte, bereits empfindlich geschwächt. Die Atmosphäre der Gründerjahre ergriff den schon unsicher Gewordenen, und in ihren Zusammenbruch wurde der Ausschweifend-Geniale, der seine Saatkörner auf zu viele Äcker ausgestreut hatte, als einer der ersten mit hineingezogen. Den guten, den fruchtbaren Grundkern in Strousberg und seiner Methode anzuerkennen, ist Pflicht desjenigen, der die Art und das Werk eines Emil Rathenau in ihrer ganzen Bedeutung für unsere deutsche Wirtschaft erkennen und würdigen will. Wer Rathenau unbedingt bejaht, darf Strousberg nicht unbedingt verneinen. Denn Strousberg hat schon das vorgeschwebt, was Rathenau und die anderen großen Industriellen in den Jahrzehnten um die Wende des 19. Jahrhunderts auf ihren begrenzteren, aber geschlosseneren und intensiver bearbeiteten Arbeitsgebieten verwirklichen konnten. Woran Strousberg scheiterte, das waren Anomalien der Charakterveranlagung und der Zeitverhältnisse, die seinen Plänen und Absichten ebenso stark zuwiderliefen, wie die Schöpfungen Rathenaus und der anderen Nachsiebziger durch Harmonien der Umstände gefördert und hochgetragen wurden. Der Vergleich zwischen Strousberg und Rathenau ist darum ganz besonders lehrreich, wenn man die historischen Wurzeln und Bedingtheiten einer Erscheinung wie der Emil Rathenaus verstehen lernen will. Strousbergs Entwickelung und geschäftlicher Höhepunkt lagen in einer Zeit, in der größere Bildungen industrieller Natur in Deutschland zwar an sich möglich waren, aber doch mangels entwickelter Kapitalmächte und Geldorganisationen, mangels einer ausgebildeten modernen Fabrikationstechnik nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit hingeworfen werden konnten. Die bedächtige Entwicklung von innen heraus, der stufenweise Aufbau vom kleineren zum größeren war nötig, um dem industriellen Wachstum Gesundheit und Dauerhaftigkeit zu verleihen. So entwickelten Krupp und Siemens ihre Betriebe, so betrieb Wilhelm v. Mevissen seine Eisenbahnbaupolitik. Die kühneren Perspektiven eines Friedrich List waren nur Theorien, die zwar mit treffsicherem Blick für die Praxis erdacht waren, aber doch erst in einer späteren Zeit verwirklicht werden konnten. Strousberg ging ohne Rücksicht auf die Zeitumstände zu Werke. Er sprang mit Volldampf in seine Projekte. Nicht aus kleinen Anfängen und Entwürfen wuchsen seine Werke allmählich über sich hinaus, sondern seine Verwirklichungen blieben fast immer hinter dem Idealbild seiner Pläne zurück. Interessant und bezeichnend war es schon, wie er die Geldmittel für seine Gründungen aufbrachte. Sein Kapital stammte — wenigstens in der ersten Periode seiner Gründungstätigkeit — vorwiegend aus England, dem Lande, das ihm den Namen und die industriellen Maßstäbe gebildet, aber wohl auch für deutsche Verhältnisse etwas verbildet hatte. Es war ein geistreicher und geschickter Gedanke Strousbergs, den damals sehr erheblichen Unterschied zwischen dem niedrigen englischen und dem hohen deutschen Geldleihsatz als rentensteigernden Faktor in seine Rechnung einzustellen. Der Gedanke war nicht einmal ganz neu in jener Zeit, aber er war sonst nicht von Deutschen, sondern meist von Engländern ausgegangen und hatte zum Beispiel dazu geführt, daß englische Kapitalisten und Unternehmer in Deutschland Kohlenbergwerke (wie die Hibernia), Gasanstalten (wie die Berliner Imperial Gas Association), zu deren Errichtung von deutscher Seite es an Kapital oder auch an Unternehmungsgeist fehlte, mit eigenen Mitteln und unter eigener Verantwortung gründeten. Strousberg wollte selbst gründen, selbst die vollen industriellen Chancen ausnützen und das englische Kapital, das er verwendete, auf den bescheidenen Platz des mit einer festen Rente abgefundenen Finanz- oder Bankkapitals verweisen. Auch das ließ sich durchführen, und versprach sogar hohen Ertrag, wenn mit der bei einer Verringerung jener Zinsdifferenz eintretenden Gefahr des plötzlichen Abziehens der englischen Gelder gerechnet und gegen die Nachteile, die aus einer derartigen Geldentziehung erwachsen mußten, Vorsorge getroffen worden wäre. Eine solche Vorsorge hätte darin bestehen können, das englische Kapital entweder so fest an die deutschen Unternehmungen zu fesseln, daß eine plötzliche Abziehung nicht hätte vorgenommen werden können. Dann hätte Strousberg aber diesem Kapital einen starken Einfluß auf die Verwaltung und Verfassung seiner Unternehmungen einräumen, wahrscheinlich ihnen sogar einen englischen Sitz und englische Rechtsform, ihren Aktien einen englischen Markt geben müssen (deutsche Aktien würden ja bei einer Krise auf den deutschen Markt geworfen worden sein). Da Strousberg aber seinen Geldgebern einen solchen Anteil an der Macht nicht einräumen wollte, hätte er sich auf eine andere Art gegen die Gefahr der Kapitalentziehung sichern müssen. Er hätte das englische Kapital nur als eine vorübergehende, vorläufige Finanzgrundlage seiner Unternehmungen betrachten und dafür sorgen müssen, daß es allmählich entsprechend der langsameren Kapitalbildung auf dem deutschen Geldmarkte oder auch vermittels der eigenen Erträgnisse seiner Unternehmungen durch deutsches Kapital ausgewechselt werden konnte. Das hätte aber einmal einen Verzicht auf die langfristige Ausnutzung der Zinsdifferenz, an deren dauerndes und ununterbrochenes Vorhandensein Strousberg geglaubt zu haben schien, zur Bedingung gehabt; ferner hätte es einen ruhigen, geduldigen Ausbau der Gründungen verlangt, nicht jenes überstürzte Eiltempo der Expansion, das in dem Temperament Strousbergs begründet lag. Schon in finanzieller Hinsicht waren Strousbergs Werke also auf einer historischen Anomalie gegründet. Dasselbe gilt von ihrer industriellen und technischen Anlage. Seine Entwürfe und Ideen waren meist gut, oft zukunftsreich und immer genialisch, die Mittel, mit denen er sie ausführte, oft unzulänglich. Denn der intellektuelle Defekt in diesem bewunderungswürdig scharfsinnigen und positiven Gehirn bestand darin, daß Strousberg keinen Sinn für die praktischen Hemmungen der Materie hatte, daß er seiner eigenen Phantasie gegenüber durchaus unkritisch war. Sein Positivismus war ein Rausch, keine fest verankerte Weltanschauung, er war zu sehr Baukünstler und zu wenig Baumeister. Seiner Phantasie schwebte ein großzügiges Eisenbahnsystem von Rumänien durch Deutschland bis zum Atlantischen Ozean vor, aber die Art, wie er nun an allen Ecken und Enden, wo sich ihm gerade eine Möglichkeit bot, Linien anzulegen begann, in der Hoffnung, das Stückwerk werde sich schon von selbst zum Ganzen runden, war ganz und gar systemlos. Der Gedanke, die Lokomotiven, Waggons, Schienen, Eisenteile und den sonstigen Bedarf für seine Bahnen in eigenen Betrieben herzustellen, war von industrieller Folgerichtigkeit und Fruchtbarkeit, aber es war vermessen und ein Zeichen gänzlich falscher Einschätzung des Entwicklungsgesetzes, die Konzentrationsidee, den Gedanken der Selbstbedarfsdeckung, des gemischten Fabrikationsprozesses gleich mit einem umfassenden Radikalismus zu beginnen, bis zu dem er heute nach 50 industriellen Entwicklungsjahren kaum gediehen ist. Das konnte keine gesunde Grundlage für mächtige Unternehmungen, kein gerundetes Ganzes geben, sondern es wurde Stückwerk, das beim ersten naturnotwendigen Rückschlag der Entwicklung, beim ersten Kampf der Idee mit der Materie zerbrechen mußte. Die Dortmunder Union, das erste, fast ein Menschenalter zu früh angewendete Beispiel eines gemischten Eisen- und Stahlwerks, wie es später eine der schöpferischsten Ideen der deutschen Industrie wurde, ist in der praktischen Anlage so verunglückt, daß immer neue Sanierungen notwendig wurden und doch Jahrzehnte hindurch den Boden des Fasses nicht erreichten. Noch haltloser waren die Grundlagen für das von Strousberg geplante große Werk in Zbirow bei Pilsen, das ebenfalls die ganze Eisenfabrikation vom Erz bis zum Eisenbahnbedarf umfassen sollte. Hier war nicht nur die Anlage, sondern auch der Standort, die Rohstoffgrundlage verfehlt. Auch den übrigen Gründungen Strousbergs, den Markthallen, Schlachthöfen, Zeitungen, die er gewissermaßen nebenbei aus dem unerschöpflichen Füllhorn seines Ideenreichtums schüttete, lag fast stets ein guter Gedanke zu Grunde, die Ausführung aber war flüchtig und sorglos. Es war vielleicht die verhängnisvollste Schwäche Strousbergs, daß er, der Nichtfachmann, der seine Unternehmungen auf die Technik einer künftigen Zeit anlegte, nicht einmal die Technik seiner Zeit völlig beherrschte. So sehr er sich in seinem Memoirenwerk dagegen wehrt, er hat manchmal schlecht gebaut, trotz des meist ehrlichen Willens, gut zu bauen, weil er nicht imstande war, sich die richtigen Fachleute auszusuchen und weil er zu schnell bauen wollte und mußte.
Aber nicht nur in den Zeitumständen, auch in den Charaktereigenschaften war Emil Rathenau fester gegründet, als der so ähnlich begabte Stammesgenosse. In dem wesentlichen Grundzug ihrer finderischen Natur waren diese beiden Juden einander nahe verwandt. Beide von einer — bei aller Fähigkeit für das Komplizierte — schlichten und fast naiven Konstruktivität, Strousberg naiver, Rathenau schlichter, beide von hellseherischer Phantasie für zukünftige Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Strousberg schweifender auf die Möglichkeiten, Rathenau — wenigstens in der Arbeit — nüchterner auf die Notwendigkeiten gerichtet. Des einen, des Bahnenkönigs Unternehmungsgeist, trotzdem er nie eine Sache um des Gründergewinns, sondern nur um des meist guten industriellen Gedankens willen gründete, etwas fessel- und hier und da auch wahllos umherspringend, des andern Schaffen bei allen gelegentlichen gedanklichen Exkursionen von einer einheitlichen Grundidee gebändigt und beherrscht, sich selbst mit eiserner Selbstzucht stets wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzwingend. Strousberg hat auf viele Gebiete der Industrie übergegriffen, Rathenau hat eine Industrie mit höchster Vertiefung und Vielseitigkeit ausgebaut und die Nebenindustrien, denen er sich zuwandte, doch immer unter die Gesichtspunkte des elektrotechnischen Gewerbes gestellt. Bei aller Verwandtschaft der spirituellen Intelligenz, der Begabung und der Methode, eine starke Verschiedenheit weniger der Temperamente, als der Hemmungen der Temperamente. Strousberg drängte gewaltsam vorwärts und überstürzte. Rathenau hat gezeigt, daß er wohl zu warten verstand.
Unter solchen Umständen ist es falsch zu sagen, daß Glück oder Unglück die entscheidende Rolle in dem Leben dieser beiden Männer gespielt haben, wie dies Strousberg in seiner im russischen Schuldgefängnis geschriebenen Selbstbiographie von sich behauptet hat. Es ist richtig, daß die 6 Millionen Taler Entschädigung, die Strousberg gerade in seiner kritischen Zeit an Rumänien infolge fehlerhafter Ausführung eines Bahnenbaus zahlen mußte, seinen Zusammenbruch beschleunigt haben. Aber dieses Schicksal traf ihn nicht unverdient, und es wurde aufgewogen durch manchen Glückszufall, aus dem er früher hatte Nutzen ziehen können. Emil Rathenau andererseits ist durch das Glück nie sonderlich verwöhnt worden und gerade die vielen Reserven, Hindernislinien und Schutzgräben, von denen er um sein Werk nicht genug ziehen konnte, um es gegen jeden Schicksalsschlag, gegen jeden ungünstigen Zufall zu sichern, zeigen den Unterschied seiner industriellen Bauweise von der Strousbergs.
Die vorangegangene Schilderung hat gezeigt, welche große Bedeutung die zeitlichen Umstände als Vorbedingung für ein Werk, wie das Rathenaus gehabt haben, wenngleich sie keineswegs allein ausschlaggebend für das Wachstum seiner Persönlichkeit und seiner Schöpfung gewesen sind. Man kann sagen, daß die letzten 3 Jahrzehnte in Deutschland deswegen so viel schöpferische Persönlichkeiten und Leistungen in Handel und Gewerbe hervorgebracht haben, weil sie selbst so schöpferisch waren und Gelegenheit, ja förmlich Zwang zu produktiver Tätigkeit boten. In dem Agrarland Deutschland war noch so viel Platz für große Industrieunternehmungen, es gab so viele ungehobene industrielle Rohstoffe, so viel überschüssiges, früher auf den Weg der Auswanderung gedrängtes Menschenmaterial, daß die Entwicklung, nachdem einmal die Bahn durch Beseitigung der politischen Hemmungen, durch Freimachung und Anreicherung der kapitalbildenden Kräfte geebnet war, mächtig vorwärts drängen mußte. Man brauchte sich nur von dieser Entwicklung tragen zu lassen, um es zu etwas zu bringen und selbst die mäßige Begabung konnte sich ansehnliche Ziele stecken. Die große aber fand Baustoff und Werkzeug zu stärkstem Vollbringen. Man kann den Anteil, den Zeit und Persönlichkeit an den gewerblichen Schöpfungen unseres Zeitalters hatten, vielleicht am besten charakterisieren, wenn man sagt, daß die Männer dieser Zeit mit der Stromrichtung schwimmen konnten. Sie hatten — natürlich nur im Großen, und nicht im einzelnen betrachtet — kein zähes Gestrüpp an Gewohnheiten, Vorurteilen erst auszuroden, ehe sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnten. Sie brauchten nicht einen erheblichen Teil ihrer besten Kraft darauf zu wenden, erst den Kampf des Positiven gegen das Negative zu führen, wie etwa der gedankliche Bahnbrecher Friedrich List, sie brauchten auch keiner spröden Materie langsame Gestaltung abzuzwingen, wie David Hansemann, Alfred Krupp und Werner Siemens. Sie fanden den Boden gepflügt und gedüngt. Gewiß, nur fruchtbare Körner konnten auf ihm aufgehen. Aber das fruchtbare Korn wird, wenn es auf einen guten und bereiten Boden fällt, anders und stärker gedeihen, als wenn es in Brachland oder dünnen Sandboden gesenkt wird.
Es spricht nicht gegen unsere Auffassung von den wirtschaftlichen Wirkungen der reichsdeutschen Gruppierung um die staatenbildende Zentrifugalkraft Preußens, wenn man feststellt, daß einmal der wirtschaftliche Zusammenschluß Norddeutschlands und der spätere Hinzutritt Süddeutschlands zu dem deutschen Zollverein schon vor dem deutsch-französischen Kriege stattgefunden hatten und daß nachher noch fast ein Jahrzehnt hinging, ehe die moderne Wirtschaftsbewegung mit voller Kraft einsetzte. Vor dem Kriege war durch die Zollbündnisse, die den politischen Reichsgedanken vorbereiten halfen, wohl eine gewisse Einheit schon de jure erreicht. Das blieb auch ganz gewiß nicht ohne befruchtende Wirkung auf das Wirtschaftsleben und führte schon in der Mitte der 60er Jahre zu günstigen Geschäftskonjunkturen. Aber die große Revolutionierung des Wirtschaftsbodens, von der wir gesprochen haben, wurde dadurch höchstens angekündigt, noch nicht eingeleitet. Dies konnte erst geschehen, nachdem die wirtschaftliche Einheit durch die feste politische Form endgültig geworden, gegen jede Bedrohung von innen und außen gesichert war. Die allgemeine Überzeugung, daß die Einheit politisch und kriegerisch noch einmal würde erprobt und verteidigt werden müssen, hinderte vorerst das organische Zusammenwachsen der einzelnen Glieder Deutschlands zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet. Nach dem Kriege setzte der subjektive Aufschwung sofort ein und zwar in einem Tempo, daß ihm der objektive Aufschwung nicht zu folgen vermochte. Da keine genügende Zahl von industriellen Unternehmungen und von den sie repräsentierenden Wertpapieren da war, an denen die spekulative Hochbewertung sich hätte genug tun können, nahm der Aufschwung die Form der künstlichen „Wertschafferei“ und „Werttreiberei“ an, die sich auch am fingierten Wert entzündeten. Die wirklichen Werte an industriellen Objekten, an Grund und Boden, an Waren und Rohstoffen wurden gewaltig übersteigert, wie das immer der Fall ist, wenn der Kreis der realen Tatsachen nicht schnell genug erweitert und auf den Umfang der neuen geistigen Möglichkeiten gebracht werden kann. Die Plötzlichkeit, mit der die deutsche Binnenwirtschaft vor weltwirtschaftliche, ja imperialistische Probleme gestellt wurde, zeitigte ein gewaltiges schöpferisches Bedürfnis, dem die schöpferischen Verwirklichungen nicht im gleichen Tempo folgen konnten. Die Zukunftsphantasien, die den Gründern und Spekulanten jener Zeit vor Augen standen, waren dabei sicherlich nicht einmal falsch gesehen oder übertrieben. Was seither verwirklicht wurde, hat jene Phantasiegemälde längst überboten und in Schatten gestellt. Falsch war nur die Bemessung der Distanz, der Zeitspanne, in der man zur Verwirklichung jener Ideen kommen zu können glaubte. Man glaubte Tal und Berg im Sprung überwinden zu können, während eine mühselige Wanderung über Hügel und Einsenkungen, durch Schluchten und Gestein notwendig war. Was diesen Trugschluß damals noch so wesentlich förderte, war der französische Milliardensegen, der sich unerwartet und unvorbereitet über Deutschland ergoß. Man glaubte, daß mit diesem Gelde jede Distanz überwunden werden könnte und hatte noch nicht die vorher nirgends so augenfällig gewordene, erst anläßlich dieser gewaltigsten gegenwertlosen Geldübertragung der Geschichte möglich gewordene Erfahrung gemacht, daß ein Überfluß an Geld eine gesunde Entwicklung nicht fördert, sondern stört. Nur Geld, das Kapital geworden ist oder Kapital werden kann, das heißt für das sich eine gesunde Anlagemöglichkeit findet, vermag Früchte zu tragen. Das Geld, das beschäftigungslos umhertreibt oder zu zwecklosen Experimenten verwendet wird, schafft eine künstliche Kaufkraft, eine ungesunde Unternehmungslust, bringt die Faktoren der Preisbildung, die Ventile der Marktregulierung in Unordnung und treibt in Krisen hinein, in denen die künstlichen Gebilde zusammenbrechen müssen, ehe wieder richtige Wertmaßstäbe gewonnen werden können.
Durch die Delirien dieser Krise mußte erst die subjektive Aufschwungskraft des wirtschaftlichen Deutschland nach seiner Einigung hindurchgehen, ehe der wirkliche, wohlfundierte Aufstieg begonnen werden konnte. In dieser Krise wurde schon die Spreu von dem Weizen gesondert, und wer sie überlebte, hatte schon halb bewiesen, daß er würdig und fähig war, an den Mühsalen und Früchten des aufsteigenden Weges teilzunehmen. Emil Rathenau gehörte zu jenen, die sich durch das falsche Gold der Gründerjahre nicht hatten blenden lassen. Er hatte seine gewaltige Bejahungskraft, seine Phantasie, die doch nicht weniger lebendig und beweglich waren als die des verwegensten Abenteurers aus der Gründerzeit, vollkräftig und doch fast unbeschädigt durch die Jahre getragen, die rings um ihn von Orgien der Unternehmungslust erfüllt gewesen waren. So war er rein und stark für die kommenden Jahre der Stärke geblieben.