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Zweites Kapitel Zwischenspiel

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Inhaltsverzeichnis

Emil Rathenau war in einer ungünstigen Zeit frei geworden. Wir haben bereits gesehen, daß die Krisis, die der Gründerzeit folgte, mit in die letzten Phasen seiner ersten Unternehmung hineingespielt hatte. Wenngleich seine Trennung von der Maschinenfabrik zweifellos früher oder später auch ohnedies erfolgt wäre, so ist sie doch durch den mißglückten Aufschwung und den darauf folgenden Zusammenbruch, mit denen die Rathenau-Valentinsche Fabrik der Zeitentwicklung Rechnung trug, beschleunigt worden. Inzwischen war die Krisis hereingebrochen, und für einen halbverkrachten Unternehmer, als der Rathenau damals in den Augen der Öffentlichkeit erscheinen mußte, war es nicht leicht, etwas Neues und Besseres zu finden, das ihm voll zusagte. Vom Standpunkt der damals nächstliegenden Situation aus beurteilt war das vielleicht ein „Pech“, vom Standpunkte der langsichtigen Entwickelung aber ein Glück für den innerlich noch nicht Ausgereiften. Hätte er seine erste Fabrik vor oder in den Gründerjahren aufgegeben, so würde die hochflutende Welle der Konjunktur ihn vielleicht schnell wieder an irgend einen anderen Strand geführt haben. Von dem hochgestimmten, der Selbstkritik und der Kritik der Dinge abholden Schwunge der Zeit getragen, würde er vielleicht — wie so viele andere auch — Arbeit und Kredit in einer Sache engagiert haben, der es an solider Grundlage und dauernder Lebensfähigkeit fehlte. Selbst eine in der Anlage gute Sache hätte von der Sturmflut der wenig später hereinbrechenden Krisis untergraben und fortgespült werden können. Ein zweites Mißlingen hätte ihm aber innerlich und äußerlich zweifellos noch schwerer geschadet, hätte sein Selbstvertrauen und das Vertrauen, das andere ihm entgegenbrachten, völlig erschüttern können. So war es wohl für ihn am besten, daß er, der innerlich noch nicht fertig geworden, der noch nicht im Feuer des doppelten Kampfes mit sich selbst und mit der Außenwelt dreimal gehärtet war, nach der Aufgabe seiner ersten Selbständigkeit in eine Zeit geriet, die aus Erfahrung kritisch geworden war, die ein berechtigtes Mißtrauen vor neuen Gründungen und Unternehmungen hatte. Im Jahre 1875 war die Auflösung der „Berliner Union“ vollendet, und nun tat der siebenunddreißigjährige Rentier, der seinen wahren Beruf noch nicht gefunden hatte, eigentlich 8 Jahre, — sonst die produktivsten Jahre des Manneslebens — nichts Bestimmtes, wenn man eben für das unablässige Suchen und das leidenschaftliche Lernen eines reifenden Charakters den Ausdruck „nichts Bestimmtes tun“ gebrauchen will. Die Familie, besonders die weitere, die Reichenheims und Liebermanns, die etwas hinter sich gebracht hatten, deren gefestigter Wohlstand sich von dem Aufschwung der Gründerzeit vornehm zurückgehalten hatte, aber auch von den Folgen des Zusammenbruches verschont geblieben war, gebrauchte wahrscheinlich solche Ausdrücke, und vielleicht — wenn sie unter sich war — noch weniger respektvolle. Für sie war Emil Rathenau der kleine Verwandte, der Fiasko erlitten hatte, der sich mit einer Menge von nicht ernstzunehmenden Projekten herumtrug und herumschlug, dem man darum auch keine rechte Zukunft zutraute. Emil Rathenau schwankte und irrlichtellierte in dieser Zeit tatsächlich ziemlich viel hin und her. Er faßte Pläne, ließ sie wieder fallen, erwärmte sich anfänglich für irgend einen ihm von den Brüdern oder Fremden zugetragenen Vorschlag, und lehnte — manchmal im letzten Augenblick — wenn der andere sich schon darauf eingerichtet hatte, aus irgend einem eigensinnigen oder nebensächlichen Vorwande ab. Sein älterer Bruder zum Beispiel, der eine glückliche Hand bei dem Kaufe und Wiederverkauf von Häusern zeigte, hatte ihn einmal zur Teilnahme an einem derartigen Geschäft, das Rathenau von ferne zunächst einen plausiblen Eindruck zu machen schien, aufgefordert. Man war übereingekommen, 80000 Taler für das Objekt anzulegen, der Bruder hatte das Grundstück aber nur zu einem höheren Preise bekommen können und Emil, dem das ganze seinem Charakter fernliegende Geschäft inzwischen leid geworden war, benutzte den Vorwand des überschrittenen Preises, um sich von der Sache loszusagen. „Behalte du das Haus lieber alleine,“ sagte er zu dem Bruder, der ihm den Kaufabschluß melden kam. Ein anderes Mal, als es sich um den von Rathenau eine Zeitlang erwogenen Ankauf der sogenannten Jablochkoff-Patente für elektrische Bogenlampen-Beleuchtung handelte, die in der Avenue de l’opéra in Paris mit vielem Reklame-Tam-Tam als erste elektrische Straßenbeleuchtung größeren Umfangs angewendet worden war, erwog er mit demselben Bruder den Plan, daß jeder zum gemeinsamen Ankauf jener Patente für Deutschland einen Teil des erforderlichen Geldes beschaffen sollte. Auch hier kam es aber nicht zum Kaufabschluß, und die Verstimmungen, die sich aus diesen gescheiterten Unternehmungen ergaben, waren so stark, daß eine Aussöhnung zwischen den beiden Brüdern nie mehr erfolgte.

Für die Menschen, die ihn damals sahen und kannten, soll Emil Rathenau, wie manch’ einer von den Zeitgenossen berichtet, keineswegs den Eindruck eines überragend genialen Mannes gemacht haben, dessen Stunde noch nicht gekommen ist, und der im vollen Bewußtsein seiner Kraft den richtigen Augenblick für sein Hervortreten abwartet. Er trug noch immer den Marschallstab im Tornister, aber der Durchschnittsmensch sah es ihm nicht an, und er hatte, wo und wann er auch immer mit Plänen an jemanden herantrat, Mißtrauen oder die noch schlimmere Gleichgültigkeit, kurz alle jene Hemmungen zu überwinden, die dem Anfänger, erst recht aber dem, der zum zweiten Mal anfangen will, im Wege stehen. Nur wer selbst mit Genieaugen Menschen und Dingen durch die äußere Schale auf den Grund blickte, wie Werner v. Siemens, spürte aus Rathenaus Reden und Entwürfen den göttlichen Funken überspringen. „Dem Mann geben wir Geld,“ sagte er, und machte sein Versprechen trotz skeptischer Einwände und passiver Resistenz seiner Mitarbeiter schließlich wahr. Für die meisten übrigen Menschen aber mochte Rathenau, der stets bereitwillig die Lippen von dem überfließen ließ, wessen sein Herz voll war, in jener Zeit manche Züge von Hjalmar Ekdal, dem ewigen Genie von morgen, an sich gehabt haben. Eine gewisse leidenschaftliche Beflissenheit und Verbissenheit konnten dem werdenden Genius eigen sein, aber dieselben Eigenschaften weist auch häufig die problematische Natur auf. Auch für Rathenau selbst war die Wartezeit zwischen der ersten provisorischen Unternehmung, die im Niedergang einer alten, überlebten Epoche zerbröckelte, und der zweiten endgültigen Schöpfung, die im Aufstieg einer neuen Zeit sich zu weltenweiten Formen auswuchs, keineswegs immer die bewußt gewählte, in jedem Augenblick gut ausgefüllte Ruhe- und Lernpause, als die sie in den Rückblicken des Vollendeten erscheint. Gar manchmal, wenn der Akkumulator des phantasiebegabten Kopfes zu viel von der aufgespeicherten Gedankenkraft von sich gegeben und sich erschöpft hatte, kamen Stunden und Tage der Verzagtheit, der Trübsal, in denen der beschäftigungslose Vierziger sich in seine Wohnung in der Eichhornstraße mit grauen Gedanken einspann. Aber solche Zeiten wurden von der ihm eigenen Schwungkraft des Wesens bald überwunden, und im Notfalle half die Ablenkung und Abwechselung einer Reise, wie denn Emil Rathenau Zeit seines Lebens vom Reisetrieb beseelt war und auch in den späteren Jahren der Arbeitsüberlastung aus geschäftlichen und privaten Reisen — mochten sie auch noch so kurz sein — immer wieder Frische und Nervenergänzung mit heim brachte. Wenn somit den in der Vollkraft der Jahre stehenden Mann die Tatenlosigkeit manchmal drückte, so zeigt doch seine ganze spätere Entwickelung, besonders die Art, wie er im richtigen Augenblick mit genialer Intuition und unbeirrbarer Entschlossenheit zugriff und alle Zweifelsucht von sich abstreifte, daß nicht er es gewesen war, der in jener Warteperiode an Ziellosigkeit, an Stagnation krankte, sondern die Zeit. Jene Zeit, in der die Triebkräfte der alten Wirtschaftsordnung abgestorben waren und die der neuen Epoche nach dem ersten überschwänglichen Aufflackern in der Gründerperiode noch nicht so recht Wurzelboden gefunden hatten. Rathenau wartete — innerlich betrachtet — nicht aus Unentschlossenheit, sondern aus Prinzip, und, wenn seine oberflächlichen Einsichten auch manchmal vielleicht ihn selbst der hamletischen Charakterschwäche anklagen mochten, die instinktiven, tieferen Einsichten waren stark genug, um sich dieser Selbstkritik und der Kritik der Außenwelt gegenüber durchsetzen zu können. Es waren nicht Jahre der inneren Klarheit, der bewußten Selbstzügelung und überlegenen Voraussicht, die Emil Rathenau damals durchmachte, sondern Jahre des inneren Kämpfens und Ringens. Mit dieser Feststellung setzt man die Größe des Mannes und seines Charakters nicht herab, dessen Bild weder menschlich-richtig, noch glaubhaft erscheinen würde, wenn man ihm nur geniale Frühzüge andichten wollte. Zu seiner vollen Entfaltung ist Rathenau, wie so viele seiner Zeitgenossen, erst dadurch gelangt, daß die Zeit sein Werk und sein Werk ihn zu einer Höhe trug, die er unter weniger glücklichen Bedingungen kaum erreicht hätte. Was er vorher darstellte, war ein Charakterboden, auf dem alle die reichen Saaten der Zeit Wurzel fassen und in reicher Blüte aufgehen konnten.

Der Fehler mancher früheren Biographen, den jungen Rathenau zu bewußt, zu klar und gewissermaßen zu seherisch-weise darzustellen, ist vom Standpunkt des nachgeborenen Betrachters verständlich und er ähnelt der Art der dichterischen oder zweckhistorischen Schilderung, die ihrem Helden bereits pränumerando Gedankengänge und Ereignisdarstellungen prophetisch in den Mund legt, welche erst viel später als Ergebnis von Notwendigkeiten, Zufällen, sich kreuzenden Entwickelungsrichtungen in Kampf und Wirrnis verwirklicht wurden. So wird von oberflächlichen Schilderern vielfach die Geschichte der Reichsgründung in der Weise gelehrt, als ob Bismarck bereits, als er die preußische Ministerpräsidentschaft übernahm, die genauen Pläne für den Aufbau des Reiches und die Politik, die zu ihm führte, fertig in seinem Kopfe getragen hätte, als ob Moltke, da er Chef des preußischen Generalstabs wurde, seine drei großen Kriege und ihren genauen Hergang bereits in ihren „notwendigen“ Grundzügen vor Augen gehabt hätte. Wer bewußt Geschichte miterlebt hat, weiß, wie ganz anders die Dinge sich zu entwickeln pflegen, wie auf dem großen Schachbrett der Geschehnisse Zug und Gegenzug abwechseln, wieviel verschiedene Züge in einem bestimmten Augenblick möglich sind, und wieviel Zufälligkeiten, Gegenströmungen und Wechselwirkungen einen Entschluß zeitigen und seine Folgen bilden. Die Rathenauschilderer, die in seinem Leben alles auf Gesetzmäßigkeit, auf Notwendigkeit und Vorherbestimmung zurückführen, die der Ansicht sind, daß dem 37jährigen, als er seine Maschinenfabrik Webers aufgab und sich zur ersten Ausreise nach Amerika anschickte, seine ganze spätere Entwickelung und die ganze spätere Entwickelung der Industrie wenigstens in ihren Umrissen klar vor Augen gestanden haben, können allerdings eines zu ihrer Entschuldigung anführen: Rathenau selbst hat in der schon verschiedentlich erwähnten Jubiläumsrede die Gedankenwelt, die ihn damals an der Wende zweier Generationen und wirtschaftlicher Epochen erfüllte, so dargestellt, als ob er nicht erst als rückschauend Betrachtender, sondern schon als Miterlebender Vergangenheit und Zukunft mit voller Klarheit erkannt und durchschaut hätte. Die betreffenden Ausführungen sind interessant genug, um hier wörtlich wiederholt zu werden. Rathenau erzählte:

„Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ich die erste Phase geschäftlicher Tätigkeit abgeschlossen hatte, erwog ich, ein Dreißiger damals, ob ich den mit Leib und Seele zugetanen Beruf wieder aufnehmen oder einer neuen Technik mich zuwenden sollte. An Anerbietungen fehlte es nicht, aber der Großmaschinenbau schien seine Bedeutung in Berlin eingebüßt zu haben, und die Geburtsstadt mochte ich ungern verlassen.

Mit der Erhebung zur Reichshauptstadt hatten die Berliner Verhältnisse sich wesentlich geändert: Der Wert von Grund und Boden, die Preise der Lebensbedürfnisse und infolgedessen die Arbeitslöhne waren so gewaltig gestiegen, daß die großen Maschinenbauanstalten von Borsig, Egells, Schwartzkopf, Wöhlert, Hoppe und andere sich anschickten, ihre Fabriken aus dem Norden der Stadt, wo sie seit Begründung betrieben wurden, in die weitere Umgebung zu verlegen, oder das Feld früher ersprießlicher Tätigkeit aufzugeben. Auf den weitläufigen Geländen entstanden neue Straßenzüge, an der Stelle lärmender Werkstätten erhoben sich Wohnhäuser und Mietskasernen, und wo aus hohen Schornsteinen dichter Qualm zu den Wolken emporgestiegen war, wirbelten dünne Rauchsäulen von den häuslichen Herden. In den Vororten aber waren bei dem Mangel an Verkehrsgelegenheit geschulte Arbeitskräfte mit Schwierigkeit zu beschaffen. Ein noch wichtigerer Faktor beeinflußte meinen Entschluß, von der unmittelbaren Aufnahme einer neuen Tätigkeit abzustehen und den völligen Verlauf der Krisis abzuwarten, die in der Finanzwelt und Industrie unzählige Opfer gefordert hatte: Patriotische Fabrikherren, die trotz eigener Sorgen in der schweren Zeit die Angehörigen ihrer im Felde stehenden Arbeiter mit reichen Mitteln unterstützt hatten, ernteten hierfür keinen Dank, sondern mußten nach dem Kriege mit Bedauern wahrnehmen, daß die Wogen der sozialdemokratischen Bewegung sich höher auftürmten als zuvor. Männer, wie Siemens, Schwartzkopf, — auch ich hatte die Ehre, der kleinen Vereinigung anzugehören, — hofften vergeblich durch Wohlfahrtseinrichtungen und den Bau von Wohnhäusern die Unzufriedenheit der Arbeiter einzudämmen.

Unter diesen Verhältnissen war eine Wiederbelebung des einst hochgefeierten Berliner Maschinenbaus frühestens mit dem Ersatz der physischen Arbeit durch selbsttätig wirkende Maschinen oder bei vollkommener Ausnutzung der der Berliner Arbeiterschaft eigenen Geschicklichkeit und Intelligenz zu erwarten. Unter ähnlichen Bedingungen waren vollendete Arbeitsmethoden in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika entstanden, allerdings unter Befolgung des Prinzips, das Zahl und Wahl der Produkte durch Teilung der Arbeit beschränkte. Leider steht in den heimischen Werken die weitgehende Spezialisierung der Erzeugnisse auch jetzt noch hinter der amerikanischen zurück, trotzdem die Fabrikation aus ihr große Vorteile ziehen würde.

Dieses amerikanische System war in Berlin nicht unbekannt. Intelligente Fabrikanten hatten mehr oder weniger automatisch arbeitende Maschinen von Amerika eingeführt, konnten ihnen jedoch in ihren Betrieben genügende Geltung nicht verschaffen, weil entweder die Präzision der Leistung damals noch nicht hoch genug eingeschätzt, oder die Rückkehr zu altmodischen Werkzeugen durch die Gewohnheit zu sehr begünstigt wurde.

Im Gegensatz zu diesen Erfahrungen erblickte ich in den Maschinen Werkzeuge der Zukunft; ich war überzeugt, daß ihre vortrefflichen Eigenschaften die Abneigung der Arbeiter allmählich überwinden und eine ihrer Bedeutung entsprechende Verwendung sichern würden.“

Zweifellos hat Rathenau damals wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das sichere Gefühl gehabt, daß eine gründliche Umwandlung der ganzen industriellen Technik und Arbeitsmethoden bevorstehe. Und zweifellos hat ihn dies Gefühl mit dazu veranlaßt, mit der vollkräftigen Gründung eines neuen Unternehmens erst dann zu beginnen, wenn sich die neue Lage einigermaßen übersehen lasse, wenn sich der neue Boden derart gefestigt haben würde, daß auf ihm ein tragfähiger Bau errichtet werden könnte. Was aber die Einzelheiten der von ihm gegebenen Schilderung, was ihre scharfe Präzisierung und Schattierung anlangt, so darf nicht vergessen werden, daß es sich bei ihr nicht um eine impulsive Beschreibung aus der geschilderten Zeit heraus, sondern um eine rückschauende Darstellung handelt, gesehen mit der Brille des durch Erfahrungen hindurchgegangenen Mannes, geklärt im Spiegel der Distanz, geordnet und gerichtet nach den Ergebnissen der Strömungen, die in ihren Ursprüngen und Anfängen geschildert werden. Vergleicht man mit dieser bewußten Darstellung die Zeugnisse Mitlebender, so möchte man der Ansicht zuneigen, daß in Emil Rathenau damals, als er an der Wende zweier Zeiten und Unternehmungen stand, bei aller Denk- und Sehschärfe, die ihn stets ausgezeichnet haben, doch mehr Chaos gewesen ist, als er später selbst zugegeben und gewußt hat. Das Vorhandensein eines derartigen kreisenden Chaos würde ja auch die ungemeine Ursprünglichkeit, Kraft und Ausdauer seiner späteren Leistung nicht abschwächen, sondern erst recht verständlich machen. Jede völlig durchsichtige Klarheit wird auf die Dauer kraftlos, matt und unschöpferisch, und nur das Ringen der wechselnden Gedanken vermag fortzeugendes Leben, Formen und Gestalten zu gebären. Für Emil Rathenau bildeten die 8 Jahre, die zwischen der Aufgabe seiner Maschinenfabrik und der Gründung der Deutschen Edison Gesellschaft lagen, das Staubecken, in das die neuen Kräfte von allen Seiten strömten, in dem sich — oft unter Schmerzen, unter drängender Hoffnungs- und Zweifelsfülle — aus der Tüchtigkeit das Genie bildete. Fast spürt man angesichts dieser Pause Neigung an Zarathustra zu denken, dem der Dichter an die Stirn seiner Geistesgeschichte die Worte schrieb: „Als Zarathustra 30 Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging ins Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde 10 Jahre nicht müde. Endlich aber wandelte sich sein Herz —“. Auch Zarathustra trug keine Klarheit in seine Einsiedelei, sondern er brachte erst Klarheit und Entschiedenheit aus ihr mit zurück. Der moderne Zarathustra der Industrie mußte allerdings nicht in die Einsamkeit, sondern in die Welt gehen, um sich mit dem Geiste anzufüllen, den er später in Taten umsetzen wollte. Die erste große Reise, die Rathenau schon im Jahre 1876, also ein Jahr nach der Auflösung der „Berliner Union“ antrat, ging nach Amerika, dem Lande der technischen Verheißungen. Ein langgehegter Wunsch, mit dem schon der 28jährige während seines englischen Aufenthaltes gespielt hatte, fand damit seine Erfüllung. Den äußeren Anlaß zu der Reise bot die Weltausstellung in Philadelphia, eine der wirklich großen Ausstellungen, auf der fruchtbare technische Gedanken verkündet wurden und von der aus sie ihren Weg in die Welt fanden. Für Emil Rathenau, der später als großer Kaufmann und Industrieller von den Reklameausstellungen, mit denen gewisse Länder und Städte ihren Fremdenverkehr zu heben suchten, nur recht wenig hielt, bedeutete die Ausstellung in Philadelphia eine Offenbarung. Was ihm in den Jahren der mühsamen Kleinarbeit, der beschränkten Enge in seiner Berliner Maschinenfabrik vor dem geistigen Auge gestanden hatte, an dessen Erreichung er aber damals verzweifelte, hier war es verwirklicht und erfüllt. „Was ich im Geiste erschaute, gestaltete sich zur Wirklichkeit, und mit reicher Ausbeute kehrte zurück, wer der Heimat neue Arbeitsprozesse und Industrien zu beschaffen gedachte.“ Damit meinte Rathenau nicht so sehr die Dampfmaschine, die in Amerika damals eher auf einer niedrigeren Stufe der Entwickelung stand als in Deutschland und England. Die 1400 PS vertikale Corlißmaschine, die in der Mitte der Maschinenhalle paradierte, imponierte zwar dem Maschinenbauer Rathenau durch den einfachen und soliden Bau, sowie den langsamen und sanften Gang, aber er hatte doch bereits ähnliches gesehen. Viel stärker fesselten ihn die Holzbearbeitungs- und Werkzeugmaschinen für Präzisionsarbeiten, die automatischen Maschinen zur Herstellung von Massenfabrikaten, neuartige und feine Instrumente zum Messen, wie sie die deutschen Fabriken nicht einmal kannten. Auch die Schreibmaschine fand sein lebhaftes Interesse. Im allgemeinen war es die neuartige technische und wirtschaftliche Betriebsökonomie, die arbeitssparenden und leistungsverbessernden Maschinen, die Rathenau in Philadelphia und in den amerikanischen Fabriken bewunderte, während die räumlichen und sozialen Einrichtungen ihm im Verhältnis zu den deutschen vernachlässigt zu sein schienen. Auch die deutsche Industrie hatte damals in Philadelphia ausgestellt, und breite Kreise der öffentlichen Meinung in Deutschland waren patriotisch-kurzsichtig genug, um die „soliden und bewährten“ Leistungen der heimischen Industrie den amerikanischen Bluffkonstruktionen an die Seite oder noch voranzustellen. Wer den Unterschied wahrheitsgemäß feststellte, wie Professor Reuleaux, der von der deutschen Industrie damals das bittere, von unseren Neidern und Konkurrenten noch jahrzehntelang auch dem längst führend gewordenen deutschen Gewerbe entgegengehaltene Wort „billig und schlecht“ prägte, wer erkannte und aussprach, daß die deutsche Fabrikation sich damals zum großen Teil auf Vergangenheitsgleisen bewegte, während in der amerikanischen Industrie die konstruktiven Neugedanken vorwärts stürmten, der wurde „gesteinigt und verbrannt“. Emil Rathenau gehörte weder zu den radikalen Verächtern der Heimat, deren guten Industrieboden, deren schlummernde Entwickelungsmöglichkeiten er wohl würdigte, noch zu den Selbstzufriedenen, die da ständig priesen, „wie wir es so herrlich weit gebracht hätten.“ „Die Schätze der Maschinenhalle blieben mir unvergeßlich,“ so erzählte er und in der Tat hat er sich das, was er dort sah, so tief eingeprägt, daß er es in dem Augenblicke, in dem er davon Gebrauch machen konnte, nur aus der Kammer des Gedächtnisses hervorzuholen brauchte. Im Geiste noch übertrumpft mag die mächtige Phantasie Rathenaus auch die derzeitigen Höchstleistungen des Großmaschinenbaus schon damals haben. Denn was Rathenau zu jener Zeit in Philadelphia sah, war neben dem, was er später an gewaltigen Aggregaten von den Konstrukteuren seiner Drehstrom- und Hochspannungsmaschinen verlangte und erreichte, das reine Kinderspiel.

Aber so stark auch die Anregungen auf dem Gebiete der Maschinentechnik waren, so sehr sie gerade den gelernten Maschinenbauer reizten und beschäftigten, es war vielleicht zu viel des Neuen, das auf ihn einstürmte und ihm die Wahl schwer machte. „Mir schien, als brauche ich nur ins volle Menschenleben hineinzugreifen, um mir die Fabrikation zu sichern, die mich interessierte,“ schrieb er. Aber die Fülle der Gesichte, die den Schauenden und Lernenden überwältigte, hätte entsagungsvoll eingedämmt und eingeschränkt werden müssen, sobald es ans praktische Ausführen gegangen wäre. Er war ja nicht nur nach Amerika gereist, um zu lernen, sein Wissen zu bereichern und zu vertiefen, sondern auch um eine geschäftliche Idee, eine faßbare Grundlage für eine neue aussichtsreiche Unternehmung mit nach Hause zu bringen. Der frühere Sozius Valentin begleitete ihn auf dieser Reise, und beide waren sich darüber klar, daß sie ihr gutes Geld nicht ausschließlich für eine wissenschaftliche Studienreise ausgeben durften, sondern als einen Spesenbetrag betrachten müßten, den sie sich aus den geschäftlichen Früchten dieser Reise vervielfacht zurückholen wollten. Mehrere amerikanische Städte und Fabriken wurden darum besucht, und es wurde nach einer aussichtsreichen Sache gesucht, die man mit den zur Verfügung stehenden, immerhin nicht unbeschränkten Mitteln und Kräften nach Deutschland verpflanzen könnte. Daß diese Mittel für die gewaltigen Maße einer in Deutschland nach amerikanischem Muster zu errichtenden Großmaschinenfabrik nicht ausreichten, sagten sich die beiden Freunde wohl ohne weiteres. Wenn Rathenau diese notgedrungene Entsagung nicht zu schwer fiel, so war dies darauf zurückzuführen, daß sich noch etwas anderes bot, das ihn technisch kaum weniger fesselte, dazu aber leichter und schneller praktische Erfolge versprach:

In Philadelphia hatte Rathenau das Telephon und Mikrophon, eine dem Gedanken nach deutsche Erfindung, zuerst praktisch brauchbar ausgeführt in überzeugender Funktion gesehen. „Das Telephon und das fast gleichzeitig mit ihm erfundene Mikrophon haben, vielleicht wegen ihrer verblüffenden Einfachheit, die Bewunderung niemals erregt, die minder bedeutsamen Errungenschaften der Technik zuteil geworden war. Mich elektrisierten förmlich die ingeniösen Apparate...“ Rathenau schwankte, ob er ihre Erzeugung im Großen aufnehmen sollte, aber die Befürchtung, daß einerseits fremde Patente den Absatz ins Ausland erschwerten und andererseits die Herstellung so außerordentlich, so fast handwerksmäßig leicht war, daß sie einen verheerenden Wettbewerb anlocken mußte, ließ ihn vorsichtig sein. Der Kaufmann in Rathenau bändigte eben fast immer die Leidenschaft des technischen Gründers. Er entschloß sich, keine Telephonfabrik zu bauen, sondern nur eine Konzession für eine Berliner Telephonzentrale nachzusuchen, gewissermaßen das Telephon in Berlin in Generalentreprise zu nehmen. Die Stadt Berlin hätte die Sache vielleicht mit ihm gemacht, aber der damalige Polizeipräsident v. Madai wollte die Konzession, die Rathenau brauchte, nicht erteilen. „Das Telephon ist ein Reichsregal,“ entschied Herr v. Madai, und, wenn sich auch später bei der Beratung des Telegraphengesetzes ergab, daß er geirrt hatte, Rathenau fürchtete zu jener Zeit die Scherereien des Instanzenweges und bot dem damaligen Generalpostmeister Stephan, dem Verweser des angeblichen Regals, die Durchführung in Reichsregie an. Aber der sonst so weitsichtige Stephan versagte zunächst. Er stellte sich auf den Standpunkt, den die Verteidiger der Postkutsche der Einführung der Eisenbahnen gegenüber eingenommen hatten und prophezeite, daß eine Telephonzentrale in Berlin höchstens 23 Anschlüsse finden würde. Diesen rückständigen Standpunkt nahm er ein, trotzdem die Postverwaltung damals mit dem telephonischen Überlandverkehr zwischen verschiedenen Ortschaften Versuche gemacht und günstige Erfolge erzielt hatte. Die städtische Schaltzentrale hielt die Postbehörde dagegen für ein unlösliches Problem. Später kam Stephan von selbst auf die Idee zurück, er bot Rathenau an, die Einführung des Telephons im öffentlichen Postdienst auf Reichskosten zu leiten. Rathenau, den inzwischen schon ganz andere Dinge beschäftigt und tiefer in das Wesen der elektrischen Industrie hineingeführt hatten, nahm trotzdem an, weil er sich mit der elektrischen Technik praktisch vertraut machen wollte. Ihre Zukunftskraft hatte ihn inzwischen mit Macht gepackt, um ihn nie mehr loszulassen.

Den ihm von Stephan übertragenen Auftrag führte er ehrenamtlich aus, ohne eine Vergütung dafür zu beanspruchen oder anzunehmen. Nachdem er die grundlegende Organisation geschaffen hatte, verließ er das Arbeitszimmer im Reichspostamt, das ihm Stephan für die Zeit seiner Tätigkeit im Telephondienste der Post eingeräumt hatte. Da Schwachstromanlagen dem Feinmechaniker mehr Spielraum als dem Ingenieur gewährten, so wandte er sich seinem alten Plan, nach kurzer Übung auf dem Schwachstromgebiete zu der durch die Elektrizität veredelten Technik zurückzukehren, ohne längeres Besinnen wieder zu. An einer Tätigkeit, die ihm innerlich nichts mehr sagte, ihm keine Rätsel mehr aufgab, hielt er nicht fest, auch wenn sie ihm noch so gute geschäftliche Erfolge versprochen hätte.

An die großartige Verbindung und die gegenseitige Befruchtung der Maschinentechnik und der Elektrizität, die Rathenau auf sein ureigenstes Schaffensgebiet, zu der großen Leistung seines Lebens führen sollten, dachte dieser damals noch nicht. Die gewaltige Weite und Tiefe der zukünftigen Verschwisterung hatte sich vor seinem Auge noch nicht aufgetan, und wenn er auch einige Blicke in die Werkstatt der Elektrizität geworfen hatte, so lag es doch nicht in seiner Absicht, sich zum Meister dieser Werkstatt zu machen, sondern er dachte an Rückkehr zum „veredelten“ Maschinenbau. Der „Dynamo“, der Hauptträger der maschinellen Elektrotechnik, befand sich damals allerdings noch immer in einem primitiven Zustand und ließ die gewaltige Entwickelung, die er bald — besonders auf Grund der Anforderungen nehmen sollte, die Rathenau seinen Konstrukteuren stellte, noch nicht ahnen. Wie so viele technische Erfindungen wurde er nicht aus sich heraus, aus seiner eigenen konstruktiven Idee zur vollen Leistungsfähigkeit entwickelt und ihm dann die Anwendungsmöglichkeit geschaffen, sondern als sich die praktischen Bedürfnisse einstellten und immer größere Ansprüche an ihn stellten, wurden die Heere der Techniker mobilisiert, die besten Ingenieurgehirne aufgeboten, um ihm seine Geheimnisse abzulauschen und ihm die Leistungen abzuringen, die der Anwendungszweck von ihm forderte.

Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter

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