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KAPITEL DREI

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Am Samstag machte Lacey sich frühmorgens im spätsommerlichen Sonnenschein auf den Weg, um nicht in den Morgenverkehr zu geraten. Da es in Toms Lieferwagen stickig war, ließ sie die Fenster herunter und genoss den Fahrtwind.

Sie hatte sich für den langen Weg nach Bournemouth entschieden, der über Landstraßen anstatt über Bundesstraßen führte. Es gab einfach nichts Schöneres, als auf kurvenreichen, einspurigen Straßen, die sich durch die Felder und Hänge schlängelten, durch die englische Landschaft zu fahren, besonders an einem schönen Sommertag. Lacey konnte einfach nie genug davon bekommen und war begeistert, als sie an einer Wiese voller Schafe und Feldern mit wiegenden Weizenhalmen vorbeifuhr. Sie freute sich genauso sehr über Landschaft wie auf die bevorstehende Schatzsuche.

Sie erreichte Bournemouth und die ruhigen Landstraßen gehörten der Vergangenheit an, als sie in die geschäftige Küstenstadt hineinfuhr und plötzlich von Asphalt und Verkehr umgeben war. Anscheinend hatten mehr Leute beschlossen, an diesem Wochenende den Strand von Bournemouth zu besuchen, und Lacey brauchte lange, um einen Parkplatz zu finden, der groß genug für den sperrigen Lieferwagen war. Schließlich parkte sie weit von den Klippen entfernt, in der Nähe eines alten Cafés und eines Spielplatzes voller Holzgeräte, wo eine Menge Kinder spielten.

Lacey stellte den Motor ab und nahm sich einen Moment Zeit. Mit neununddreißig wusste sie, dass sich ihr Zeitfenster für die Entscheidung, eine Familie zu gründen, bald schließen würde. Damals, als sie noch mit ihrem jetzigen Ex-Mann David in New York City gelebt hatte, war sie strikt dagegen gewesen. Doch seit ihrem Umzug nach England, wo das Leben langsamer und etwas Ruhe in ihr Leben eingekehrt war, hatte sich ihre Einstellung geändert. Auch die Zeit, die sie mit Frankie verbrachte, und durch die sie gemerkt hatte, dass ihr der Umgang mit Kindern Spaß machte, hatte sie dazu veranlasst, ihre Haltung noch einmal zu überdenken. Das, und ihr bevorstehender vierzigster Geburtstag, der immer näher rückte, auch wenn sie versuchte, ihn zu verdrängen.

Chester riss Lacey aus ihrer Träumerei, indem er an der Tür kratzte und laut wimmerte. Er hatte die Fahrt hierher genossen und den Kopf aus dem Fenster gestreckt, war aber offensichtlich ganz begierig darauf, endlich auszusteigen und den herrlichen Sandstrand unten zu erkunden.

„Ach, wer braucht schon Kinder, wenn man einen Hund hat?“

Chester bellte zustimmend.

Sie sprangen aus dem Fahrzeug und machten sich auf den Weg zu dem Pfad, der von den Klippen hinunter zur Strandpromenade führte. Mehrere Gleitschirmflieger hoben der Reihe nach ab und schwebten nacheinander in ihren hellen Stoffschirmen über dem Meer in Richtung Pier, wo sie eine Schleife machten und auf der Klippe landeten. Chester bellte aufgeregt, als ein Mann mit einem Regenbogensegel in den Himmel stieg.

„Ich frage mich, ob auch Tandemgleitschirme für Hunde hergestellt werden“, sagte Lacey nachdenklich zu Chester, als sie vorbeigingen.

Sie gingen den Hang hinunter zum Strand, wo sich Familien, Gruppen von Jugendlichen, alte Leute, die picknickten, Spaziergänger mit ihren Hunden, Volleyballspieler und Mädchen mit Hula-Hoop-Reifen tummelten … Menschen aller Arten und Altersklassen. Das seichtere Wasser war voller Kanu- und Kajakfahrer, Paddleboarder und Sonnenanbeter auf Schlauchbooten, während im tieferen Wasser jenseits der Stege Jachten und Schnellboote zu sehen waren. Gina hatte recht gehabt, der Strand von Bournemouth war weitaus belebter als der von Wilfordshire, aber Lacey liebte den Trubel. Ganz zu schweigen davon, dass der Sand hier golden und der Strand viel breiter war als in Wilfordshire.

Lacey konnte nicht widerstehen, zog rasch ihre Schuhe aus und grub ihre nackten Füße in den Sand. Chester lief währenddessen zum Meer und fing an, nach den Wellen zu schnappen, als ob er sie fangen wollte.

„Eis!“, rief eine Stimme. „Eis am Stiel!“

Als Lacey sich umdrehte, sah sie einen Mann, der einen Kühlwagen am Strand entlang schob. Er winkte ihr zu. „Sie sehen aus, als könnten Sie ein Eis gebrauchen, junge Dame.“

„Das geht leider nicht“, teilte Lacey ihm mit. „Jedes Mal, wenn ich Eis esse, wird mein Hund neidisch.“

„Vielleicht möchte er eines meiner tiefgefrorenen Hundeleckerlis probieren?“

„Gefrorene Hundeleckerlis?!“, rief Lacey. „Das klingt ja mal nach einem Nischenprodukt.“

„Sie machen wohl Witze! Neunzig Prozent der Einwohner hier haben einen oder zwei Hunde. Meine gefrorenen Eisleckerlis verkaufen sich wie warme Semmeln. Oder wie kalte Kuchen.“ Er grinste.

„Woraus sind sie gemacht?“, fragte Lacey skeptisch. Milch war für Chester absolut tabu, genauso wie alles, was Schokolade oder Zuckerersatzstoffe enthielt, die giftig und für Hunde potenziell tödlich waren.

„Ich habe zwei Geschmacksrichtungen zur Auswahl“, sagte der Mann und zog gefrorene Leckerlis in Knochenform aus seiner Kühlbox. In seiner linken Hand hielt er ein wässrig aussehendes orangefarbenes. In der rechten Hand ein wässrig-grünes. „Wir haben pürierte Karotten in der linken und pürierte Honigmelonen in der rechten Hand“, sagte er. „Beide Rezepte sind vom Tierarzt genehmigt.“

Chester bellte.

„Nun, wenn das so ist, nehme ich von jedem eins“, sagte Lacey.

„Und ein Tropenfrucht-Wassereis für die Besitzerin?“ Er winkte ihr mit einem äußerst fruchtig aussehenden Eis am Stiel zu. „Damit keiner neidisch wird?“

Lacey kicherte. „Ein Eis am Stiel? Gut, warum nicht.“

Sie tauschte Geld für die gefrorenen Leckereien ein, die sie genüsslich verzehrten, während sie am Strand entlangschlenderten. Das Aroma von Mango, Ananas und Wassermelone überflutete Laceys Geschmacksknospen. Die Mischung war nicht übermäßig süß und das Eis erfrischend kühl.

„Wie war deins?“, fragte Lacey Chester und bemerkte die klebrigen Reste an seiner Schnauze. „Lecker, nehme ich an“, kicherte sie.

Dann fiel Laceys Blick auf ein altes Gebäude im Art-Déco-Stil. Es war das Einkaufszentrum, in dem sich das Geschäft für Pferdezubehör befand, und stand auf der Spitze des Hügels mit Blick auf das Meer und den Rest der Stadt Bournemouth.

Aufgeregt leckte Lacey das zuckerhaltige, klebrige Zeug von ihren Fingern, zog ihre Schuhe wieder an und beschleunigte ihr Tempo, als sie den Strand verließ und auf den Bürgersteig zuging. Chester folgte ihr, sein Fell war voller Sand und sein Gesicht nass vom Meerwasser.

Sie erreichten das Gebäude, das in seiner Blütezeit ein Kino gewesen war und jetzt mehrere kleine Pop-up-Stores beherbergte. Im Inneren erinnerte es Lacey an die Londoner Märkte, die sie mit Gina besucht hatte, von dem verrückten Markt in Greenwich über den geschäftigen Lebensmittelmarkt von Brixton, den historischen Markt von Covent Garden, bis hin zum Fressmarkt von Borough unter dem Dachvorsprung des Bahnhofs. Lacey liebte die Eigenarten der englischen Architektur. Neubauten schien man hier vergeblich zu suchen, stattdessen gab es viele große alte Gebäude, die zu überdachten Märkten oder Einkaufszentren umgestaltet worden waren. Und für einen Pop-up-Bastelladen schien kein Raum zu klein zu sein.

Der Markt hier war wie eine eigene Stadt in der Stadt. An unzähligen Essensständen wurde Street Food aus allen Ecken der Welt angeboten. Lacey lief das Wasser im Mund zusammen, als ihr der Geruch von äthiopischem Injera-Fladenbrot und südkoreanischem Sojaeintopf mit Kimchi-Kohl in die Nase stieg, bevor dieser von dem aufdringlichen blumigen Duft eines verpackungsfreien Bio-Seifenstandes übertönt wurden, an dem riesige Seifenstücke zu einer Pyramide aufgeschichtet waren. Sie ging weiter, vorbei an dem intensiven Mottenkugelgeruch eines Verkaufsstandes für Second-Hand-Kleidung, sowie einem Laden für Surfbretter, ehe ihre Willenskraft sie schließlich verließ, als sie einen veganen Kuchenstand erreichte. Ein Frühstücksmuffin aus dunkler Schokolade, Erdnussbutter und Haferflocken gab ihr einen kleinen Vorgeschmack auf den Himmel.

Während sie sich zwischen den geschäftigen Ständen hindurchschlängelte, wurde ihr klar, dass sie hier auch ohne Probleme einen ganzen Tag verbringen könnte, bevor sie das Reitsportgeschäft fand, das sie gesucht hatte.

In dem Laden war es extrem ordentlich. Passend zum Thema Pferderennen war der Teppich grün. Die Vitrinen waren aus Holz und Messing gefertigt und der Laden strahlte eine friedliche Einheitlichkeit aus.

Lacey ging auf die Theke zu und stellte sich der Frau vor, die dahinterstand und deren lockiges braunes Haar zu einem buschigen Pferdeschwanz zusammengebunden war.

„Belinda?“ fragte Lacey und streckte der Frau die Hand hin. „Wir haben gestern telefoniert. Ich bin Lacey, die Auktionatorin aus Devon.“

„Ich erinnere mich“, sagte Belinda mit einem Grinsen, als sie Laceys ausgestreckte Hand schüttelte. „Sie kommen aus Wilfordshire, wo das Sommer-Reitsportfest stattfindet.“

„Ganz genau. Kennen Sie den Ort?“

„Natürlich! Ich hatte schon ein paar Mal einen Stand dort, aber durch die Kosten für Unterkunft, Benzin und die Standgebühr für den Markt kommt da eine ganz schöne Summe zusammen. Da mache ich mehr Gewinn, wenn ich den Laden hier offen lasse. Aber es ist wirklich schade, dass ich es verpasse. Ich hatte immer viel Spaß dort.“

Außer Lacey schien jeder in diesem Land das berühmte Wilfordshire Pferdefest zu kennen.

Die Frau sah Chester an. „Und wer ist dieser hinreißende Bursche?“, sprudelte sie hervor und kam hinter dem Tresen hervor, um seinen Kopf zu streicheln. Sie trug eine Reithose, wie es sich gehörte.

Chester bellte zur Begrüßung.

„Das ist mein treuer Begleiter Chester“, erklärte Lacey. „Wir haben uns gerade ein paar gefrorene Hundeleckerlis am Strand gegönnt.“

„Es ist wunderschön da unten, nicht wahr?“

„Das kann man wohl sagen. So sehr ich den wilden, zerklüfteten Strand von Wilfordshire auch liebe, das Gefühl von warmem Sand zwischen den Zehen ist einfach unbeschreiblich.“

Belinda lächelte. „Ich nehme an, Sie wollen sich meine Antiquitäten ansehen?“

Sie führte Lacey zu den Gegenständen, die sie für sie vorbereitet hatte. Da waren jede Menge Gebisse, Zaumzeug, Steigbügel und Sporen. Lacey begann sofort damit, sie genauestens zu inspizieren, um herauszufinden, ob echte Raritäten dabei waren.

„Ich muss sagen“, sagte Belinda, während Lacey die Antiquitäten untersuchte, „ich bin froh, dass es wieder ein Antiquitätengeschäft in Wilfordshire gibt.“

„Wieder?“, fragte Lacey etwas geistesabwesend, da ihre Aufmerksamkeit voll und ganz den Reitsportartikeln galt. Sie hatte einige sehr interessante Zaumzeuge und Gebisse für berittene Infanterieoffiziere und militärische Kavallerien entdeckt.

„Es hat vor ein paar Jahren mal eins gegeben“, fuhr Belinda fort. „Muss mittlerweile schon um die zwanzig Jahre her sein. Es wurde von dieser schönen, glamourösen Frau geleitet. Ich glaube, sie war eine Gräfin oder Baronin oder so. Irgendeine Art von Adel, zumindest wenn man den Gerüchten glaubt.“

„Sehr interessant“, murmelte Lacey und legte die beiden lateinamerikanischen Sporen aus dem neunzehnten Jahrhundert beiseite, die sie gerade inspiziert hatte, bevor sie sich ein paar gotischen Sporen aus dem fünfzehnten Jahrhundert zuwandte.

Belinda fuhr mit ihrer Geschichte fort. „Sie ist von ihrer Familie verstoßen worden, weil sie sich entschieden hatte, zu arbeiten, und sich in einen gewöhnlichen Mann verliebt hat.“ Ein wehmütiger Unterton lag in ihrer Stimme.

„Klingt so, als wäre sie eine starke Persönlichkeit gewesen“, sagte Lacey, die gerade ein seltenes Paar silberner französischer Sporen mit einem einzigartigen Phönix-Muster gefunden hatte. Sie schaute auf. „Die sind alle fantastisch. Ich nehme sie alle.“

„Wirklich?“, fragte Belinda und klang überrascht. „Einige davon habe ich schon seit Jahren, ohne dass die Kunden auch nur einen Hauch von Interesse daran gezeigt hätten!“

Lacey lächelte. So lief das Spiel in der Antiquitäten-Branche, das war der Nervenkitzel an der Sache. Viele Händler blieben oft jahrelang auf ihren Waren sitzen, weil ihnen einfach das entsprechende Klientel fehlte, während es anderen gelang, für beide Seiten einen Gewinn zu erzielen, einfach nur, weil sie ihren Kundenstamm genau kannten. Bei den meisten von Belindas Waren handelte es sich um Niedrigpreisartikel, die jahrelang im Laden stehen und Staub ansetzen konnten, bis sie nach und nach für zwanzig bis dreißig Pfund pro Stück verkauft wurden. Aber als Zusatzartikel bei einer thematischen Auktion konnten sie dazu beitragen, den Preis der teureren Artikel in die Höhe zu treiben. Die zwei seltenen französischen Silbersporen könnten Hunderte von Pfund einbringen, wenn der richtige Bieter am Auktionstag da war. Normalerweise würde Lacey kein so großes Risiko eingehen, aber sie war zuversichtlich, dass es sich auszahlen würde – vorausgesetzt, Ginas Behauptungen, dass eine ganze Schar reicher Pferdenarren in Wilfordshire einfallen würde, waren zutreffend. Und als sie Belinda anbot, ihr die gesamte Partie abzukaufen, erhielt sie sogar noch einen Mengenrabatt.

Lacey verließ den Laden in Bournemouth mit einer großen Schachtel im Arm und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Sie war begeistert, dass ihre Schatzsuche so gut begonnen hatte.

*

Die nächste Station ihrer Tour durch Dorset war Poole, nur zwanzig Autominuten von der Küste entfernt. Wie sich herausstellte, war der Lieferwagen doch eine sehr gute Idee gewesen. Er war jetzt schon deutlich voller als Lacey gedacht hatte, und sie war bisher nur in einem Geschäft gewesen! Und sie wollte noch in das Lederfachgeschäft und in den Kunstladen.

Im Rückspiegel betrachtete Lacey die Ladung Zaumzeug, Steigbügel und Sporen, die sie gerade gekauft hatte, bevor ihr Blick auf Chester fiel. Er saß aufrecht und selbstgefällig auf dem Rücksitz und seine Ohren flatterten im Wind.

„Habe ich ein bisschen übertrieben?“, fragte sie ihn.

Er legte seinen Kopf schief, als ob sie Unsinn reden würde.

„Bist du dir da sicher?“

Er bellte.

„Du hast recht“, sagte sie beruhigt. „Das Risiko sollte nicht allzu hoch sein. Schließlich weiß ich, dass es einen entsprechenden Kundenstamm für diese thematischen Artikel geben wird. Wenn man Gina und Tom Glauben schenken darf, ist das Risiko tatsächlich ziemlich gering.“

Beim Gedanken an Tom hielt sie inne. Eigentlich sollte er heute mit ihr hier sein und ihr bei ihren Einkäufen beistehen und nicht ein Hund, so wunderbar Chester auch war. Aber stattdessen nahm ihn seine Arbeit vollkommen ein. Er hatte Paul, einen armen Praktikanten, der ihm etwas unter die Arme greifen sollte, aber nachdem Lucia einen neuen Job in Suzys Gästehaus angenommen hatte, hatte er niemanden mehr eingestellt. Lacey konnte nicht verstehen, warum er für den Rest der Hochsaison keine Aushilfe gesucht hatte. Vor allem, wenn man bedachte, dass er über das bevorstehende Sommer-Reiterfest bestens informiert war. Es war fast so, als ob er ihre Beziehung sabotieren wollte.

„Habe ich ihm zu früh gesagt, dass ich ihn liebe, Chester?“, fragte sie ihren Vertrauten. „Denkt er, er kann sich jetzt auf seinen Lorbeeren ausruhen, weil er mich sowieso sicher hat?“ Sie begann, sich in ihre Angst hineinzusteigern. „Sind wir bereits in einen Trott verfallen? Wir sind doch erst seit ein paar Monaten zusammen. Das sollte doch eigentlich unsere Flitterwochenzeit sein, in der uns vor Glück ganz schwindlig und alles perfekt ist! Stattdessen spiele ich die zweite Geige nach einer Konditorei!“

Chester winselte.

Lacey schürzte die Lippen. „Okay. Vielleicht projiziere ich da auch ein bisschen was hinein.“

Wieder bekam sie ein Winseln als Antwort.

„Alles klar, okay, ich hab’s verstanden. Ich erwarte, dass Tom so wie David werden wird, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sind. Deshalb habe ich mich in ihn verliebt, weil er so anders ist als David. Ich bin nur unzufrieden, weil ich mehr Zeit mit ihm verbringen möchte und es nicht kann.“ Sie streckte sich nach hinten aus und strich über Chesters samtweiche Ohren. „Danke, dass du so ein guter Zuhörer bist, Junge.“

Eine halbe Stunde später fuhr Lacey den Lieferwagen über den Kamm eines Hügels und das offene Meer lag vor ihr. Unten angekommen sah sie den Hafen von Poole, der keineswegs das war, was sie erwartet hatte. Für sie war ein Hafen eine von Menschenhand geschaffene Konstruktion. Der Hafen von Poole hingegen schien natürlich entstanden zu sein, mehrere große Flüsse trafen hier aufeinander. Das Wasser war extrem flach und mit mehreren kleinen Stücken Land durchsetzt. Jachten, Kreuzfahrtschiffe und große Passagierfähren bewegten sich träge durch das Wasser.

„Halt die Augen nach dem Ledergeschäft offen“, sagte Lacey zu Chester.

Sie folgte der Straße, die parallel zum Hafen verlief. Sie war von schicken Strandrestaurants gesäumt, deren Außensitze voll von Wochenend-Ausflüglern waren, die die letzten Wochen der Sommersonne genossen, in der Erwartung, dass sie bald dem Herbst weichen würde.

Herbst. Laceys Lieblingsjahreszeit. Sie war gespannt, wie England aussehen würde, wenn sich die Blätter orange, rot und braun färbten. Wilfordshire würde mit Sicherheit umwerfend aussehen und wenn die High Street zum Jahreszeitwechsel mit kleinen Flaggen geschmückt wurde (was sowohl im Frühling als auch im Sommer der Fall war), würde der Ort sogar noch schöner aussehen. Laceys spann ihren romantischen Tagtraum weiter und stellte sich vor, wie sie mit Tom am Lagerfeuer saß und gegrillte Marshmallows futterte, an einem warmen gewürzten Apfelwein nippte und geröstete Kastanien mampfte.

Falls er überhaupt Zeit dafür hat, dachte Lacey mürrisch und ihr romantisches Bild zersplitterte in ihrem Kopf wie ein zerbrochener Spiegel.

Es gelang ihr nicht, die nagenden Zweifel an Toms Behauptung, dass er nach der geschäftigen Sommer-Tourismussaison mehr Zeit haben würde, abzuschütteln. Immerhin waren da drei Feiertage, die es zu überstehen galt – Erntedankfest, Halloween und die Guy Fawkes’ Nacht –, bevor die Vorbereitungen für die Weihnachtszeit in vollem Gange sein würden. Die Leute würden für jeden einzelnen davon Kuchen und Kekse wollen, ganz zu schweigen von einer aufwendigen Macaron-Auslage fürs Schaufenster. Wenn Lacey etwas über Feiern in Großbritannien gelernt hatte, dann, dass es immer ein dazugehöriges Gericht gab, und Tom würde sich gezwungen fühlen, eine einzigartige Version davon zu kreieren. Nachdem sie seine Oster-Lebkuchenhasen und die Lebkuchenpferde für das Reiterfest gesehen hatte, konnte sie sich bereits vorstellen, wie viel Arbeit er in seine Halloween-Lebkuchenmänner stecken würde. Wie sie Tom kannte, würde er wahrscheinlich ein ganzes Spukhaus aus Lebkuchen bauen! Und er würde sich auch nicht damit zufriedengeben, seine üblichen Croissants und Kuchen zu verkaufen. Dafür hatte sich Tom seinem Handwerk zu sehr verschrieben. Er würde sich stundenlang abmühen, um sich neue Rezepte für mit Zimt gewürztes Apfelgebäck und Kürbismuffins auszudenken. Es war höchst unwahrscheinlich, dass er überhaupt Zeit für sie finden würde.

Plötzlich fing Chester an zu bellen und riss Lacey aus ihren besorgten Grübeleien heraus. Als sie aufsah, stellte sie fest, dass das Ledergeschäft direkt vor ihnen war. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie fast daran vorbeigefahren wäre.

„Danke, Chester“, sagte sie zu ihrem Welpen.

Er bellte stolz.

Sie lenkte den Lieferwagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Dann sprangen Chester und sie in den strahlenden Sonnenschein hinaus und betraten das Ledergeschäft.

Es war von innen viel größer als Lacey erwartet hatte. Eine große steile Holztreppe zu ihrer Linken deutete darauf hin, dass es neben der Etage, die sie betreten hatte, noch eine weitere gab, die sich endlos weit nach hinten zu erstrecken schien. Als Lacey sich umblickte, sah sie, dass der Laden sowohl neue als auch alte Lederwaren führte, von Cowboystiefeln bis hin zu marokkanischen Sandalen, die direkt aus Marrakesch importiert worden waren, gab es hier einfach alles. Der Geruch war ein wenig überwältigend – Lacey bevorzugte den staubigen, metallischen Geruch von Antiquitäten – und es war sehr dunkel. Die schmalen Gänge waren mit Lederwaren vollgestopft. Handtaschen baumelten von der Decke und es gab zahlreiche Regale, die mit Jacken und hautengen Hosen gefüllt waren, von denen Lacey sicher war, dass sie schon in den achtziger Jahren aus der Mode gekommen waren. Der Laden war so vollgestopft, dass Lacey nicht einmal wusste, wo sie anfangen sollte, nach den antiken Gegenständen zu suchen, wegen denen sie gekommen war.

Sie zwängte sich durch die Gänge und bahnte sich ihren Weg an zwei Schaufensterpuppen – einem Mann in einem Wildlederanzug und einer Frau im Domina-Outfit (sogar mit Peitsche) – vorbei, bevor sie sich an dem erhöhten Tresen wiederfand, hinter dem ein Mann stand. Er war älter, hatte einen langen grauen Bart und trug eine schwarze, mit Quasten besetzte Lederweste über einem weißen T-Shirt, das in einer hellblauen Jeans steckte. Lacey fand, dass er aussah wie ein motorradfahrender, gitarreschwingender Rockstar. Oder zumindest wie ein pensionierter Rockstar.

Sie blickte zu ihm auf. „Könnten Sie mir zeigen, wo ich die Reitausrüstung finden kann? Auf Ihrer Website stand, dass Sie auch alte Sandwichkoffer, Feldflaschen und Flachmänner verkaufen.“

„Solange es aus Leder ist, haben wir irgendwo mindestens einen Artikel davon“, sagte er. Seine Stimme war viel sanfter als sein Aussehen vermuten ließ. „Kommen Sie mit.“

Lacey folgte dem Mann, der, nachdem er von dem erhöhten Tresen hinuntergestiegen war, kleiner war als sie. Geschickt bewegte sich der schlanke Mann durch die Gänge. Lacey musste sich beeilen, um Schritt zu halten. Offensichtlich kannte er den Laden sehr gut und Lacey vermutete, dass er der Besitzer war.

Sie erreichten die steile Holztreppe und stiegen hinauf. Das Holz knarrte unter ihnen. Lacey sah, dass der nächste Stock genauso vollgestopft war wie das Erdgeschoss.

„Ihre Auswahl ist beeindruckend“, sagte sie und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

„Ich bin jetzt schon seit dreißig Jahren hier“, antwortete er. „Im Laufe der Jahre hat sich eine ganze Menge angesammelt.“

„Das sieht man.“

Er führte sie in den hinteren Bereich des Ladens.

„Steigen Sie auch in den Sattel?“, fragte der Mann.

„Motorradsattel?“, fragte Lacey, die annahm, er würde sich auf seine Kleidung beziehen.

Er lachte. „Nein. Pferdesattel.“

„Oh!“ Lacey lachte ebenfalls. „Nein, ich bin Antiquitätenhändlerin und Auktionatorin. Ich veranstalte eine Auktion zum Thema Pferde, daher mein Interesse.“

„Interessant“, sagte der Mann. „Ich stehe auf Vintage, wie Sie wahrscheinlich sehen können, aber von Antiquitäten habe ich keine Ahnung.“

Sie erreichten die Abteilung des Ladens, die dem Thema Reitsport gewidmet war, und Lacey sah, dass neue und alte Stücke miteinander vermischt waren. Er hatte nicht gelogen, als er behauptet hatte, dass er keine Ahnung hatte. Auf den meisten handgeschriebenen Etiketten standen so banale Dinge wie ‚alte Tasche‘. Es würde ewig dauern, bis sie sich durch alle Artikel durchgearbeitet hatte.

„Haben Sie sowas in der Art gesucht?“, fragte er.

„Mhm-hm.“

„Sind Sie sich da sicher? Denn Sie sehen etwas enttäuscht aus.“

„Es tut mir leid“, sagte Lacey. Als sie ihre Gesichtszüge wieder entspannte, fiel ihr auf, wie sehr sie die Stirn gerunzelt hatte. „Ich glaube nur, dass es eine Weile dauern wird, bis ich alles gefunden habe, was ich suche.“

„Ich kann helfen“, sagte der Mann. „Und Sie können mir nebenbei ein bisschen was über Antiquitäten beibringen.“

„Okay“, sagte Lacey und nahm sein Angebot an. „Danke.“ Sie zog ihr Handy hervor und zeigte ihm die Fotos von den Gegenständen, die sie haben wollte. „Das sind Sandwichboxen oder Sattelfeldflaschen. Die werden an den Sattel gehängt, damit der Reiter sich etwas zu essen mitnehmen kann.“

„Davon habe ich ungefähr eine Million“, sagte er, bevor er in einem anderen Gang verschwand.

Lacey sah Chester an und zuckte die Achseln. Vielleicht würde das hier doch nicht so lange dauern, wenn sie Hilfe hatte.

Wenige Augenblicke später kehrte der Mann zurück und schob einen großen Wagen mit der Aufschrift verschiedene Taschen vor sich her, kippte ihn um und schüttete den gesamten Inhalt auf den Boden, wo er sich zu einem Lederhaufen auftürmte.

„Sie haben keine Scherze gemacht“, sagte Lacey und fühlte sich schwindlig, wie ein Kind, dem man gerade einen Haufen Spielzeug vor die Füße geworfen hatte. Sie setzte sich auf den Boden neben den Haufen, bereit, mit der Schatzsuche loszulegen. „Als nächstes suche ich Sattelfläschchen, so wie diese hier.“ Sie reichte ihm ihr Handy, um ihm das Bild zu zeigen, und er machte sich an die Arbeit.

Lacey begann, den Taschenberg zu durchwühlen. Alle, die in schlechtem Zustand waren, und Nachahmungen legte sie beiseite, in der Hoffnung, ein paar zu finden, die für ihre Auktion geeignet waren. Dann fand sie genau, was sie gesucht hatte: einen dunkelbraunen Swaine-Brigg-Sandwich-Koffer mit der originalen Silberdose darin. Sowohl die Tasche als auch die Dose waren in einwandfreiem Zustand, und Lacey war zuversichtlich, dass sie bei der Auktion ein paar hundert Pfund dafür bekommen würde. Sie legte die Tasche auf den Stapel, den sie mitnehmen würde, und suchte weiter. Als nächstes fand sie einen gebogenen Sandwich-Koffer. Auf der Innenseite des Rehleders befand sich ein schwarzer Stempel: „James Dixon & Sons, Sheffield“ sowie die Jahreszahl 1879. Und auch in diesem Koffer befand sich die originale silberne Sandwich-Dose, ebenfalls in tadellosem Zustand. Sie wanderte ebenfalls auf den „Behalten-Stapel“.

Als nächstes fand sie einen Champion & Wilton-Seitensattelkoffer aus hellbraunem Leder, komplett mit Flachmann und Sandwich-Dose, gefolgt von einer Reiterschultertasche, die so gebogen war, dass sie bequem am Körper anlag, mit der dazu passenden gebogenen Sandwich-Dose und dem Flachmann.

„Chester, das ist wie Weihnachten“, schwärmte Lacey, als sie die Dinge auf ihren Haufen legte.

Schläfrig hob Chester den Kopf von seinen Pfoten und gähnte.

„Freut mich, dass Sie Spaß haben“, sagte der Verkäufer und kam mit einer großen Schachtel zurück.

„Sind das alle Fläschchen?“, fragte Lacey überrascht.

„Ich konnte nur ein paar finden“, sagte er. „Aber ich dachte, Sie würden sie sich diese hier vielleicht gerne ansehen.“ Er zog einen Stiefel aus der Schachtel.

Lacey sprang auf. Es war ganz eindeutig ein Reitstiefel aus der Kavallerie-Zeit im Ersten Weltkrieg. „Bitte sagen Sie mir, dass der zweite Stiefel auch da drin ist“, sagte sie und ihre Aufregung wurde immer größer.

Er grinste. „Da sind etwa zehn Paar drin.“

Er ließ die Kiste sinken, damit Lacey hineinsehen konnte. Darin befanden sich zehn Paar Reitstiefel, alle in verkaufsfähigem Zustand.

„Sie haben recht“, sagte sie lächelnd. „Die will ich mir unbedingt ansehen!“

Während Lacey die Stiefel auf Verschleiß und Spuren von Abnutzung inspizierte, setzte sich der Angestellte. „Was hat Sie dazu bewogen, sich auf Reitausrüstung zu spezialisieren?“, fragte er. „Wenn Sie gar nicht reiten.“

„Ich veranstalte eine Auktion für das Sommer-Reiterfest“, erklärte Lacey. „Ich komme aus Wilfordshire.“

„Wilfordshire?“, fragte der Mann mit einem Hauch von Anerkennung in der Stimme. „Ich habe mal einen Antiquitätenhändler aus Wilfordshire gekannt.“

„Etwa die Gräfin?“ fragte Lacey mit einem Lächeln, als sie sich an Belindas Geschichte erinnerte. „Ich habe einige interessante Geschichten über sie gehört.“

„Nein, es war ein Mann“, antwortete er. „Ein Amerikaner, genau wie Sie. Wenn ich es mir recht überlege, hat er Ihnen sogar ein bisschen ähnlich gesehen.“

Lacey spürte sofort, wie das Blut aus ihrem Gesicht strömte. „War sein Name Frank?“

„Das war's! Frank der Ami!“ Er schnippte mit den Fingern und grinste. „Kennen Sie ihn?“

Ein tödlicher Kuss

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