Читать книгу Ein erlesener Todesfall - Fiona Grace, Фиона Грейс - Страница 4
KAPITEL EINS
Оглавление“Meins!”, rief Olivia Glass. “Ganz allein meins!”
Sie konnte die fassungslose Aufregung in ihrer eigenen Stimme hören, als sie sich dem einfachen, zweistöckigen Farmhaus näherte.
Seit gestern war alles unterschrieben, besiegelt, bezahlt und damit ihr Eigen. Hier, in diesem heruntergekommenen, aber dennoch wunderschönen Heim, in die Berge der Toskana genestelt, würde sie ihr neues Leben beginnen. Sie hatte diese Farm aus einem Impuls heraus gekauft – zusammen mit zwanzig Morgen Land – nachdem sie sich Hals über Kopf darin verliebt hatte. Olivia schätzte, dass diese Romantik eines Tages nachlassen würde, aber im Moment war sie völlig aufgekratzt, als sie zu dem Haus hinaufging und, nach einem kurzen Kampf mit der Türklinke, die Eingangstür aufschwang.
Eine Gänsehaut legte sich über ihren Rücken, als sie ihr neues Heim betrat.
Sie kickte Staubmäuse vor sich her, als sie durch den Flur schritt, an dem Handwerker am Tag vorher noch dringende Reparaturen vorgenommen hatten, und schließlich die Küche betrat. Es war ein großer Raum mit Aussicht auf die Berge, ausgestattet mit zerbrochenen Tresen, Schränken ohne Türen und Wasserhähnen, die nur sporadisch funktionierten. Die Wasserversorgung zu reparieren würde bestimmt nur eine nebensächliche Aufgabe werden.
Sie spürte, wie sich ihr Herz vor Aufregung und Angst zusammenzog. Das Haus hatte so viel Potenzial, aber war in solch einem vernachlässigten Zustand. Vor ihr lag ein Berg aus Arbeit. Olivia hatte keine Angst vor harter Arbeit, aber sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, diese hallende, zerbröckelnde Hülle voller Spinnweben in das gemütliche und funktionelle Heim zu verwandeln, das es in der Vergangenheit möglicherweise einmal gewesen war und nun wieder werden könnte.
Olivia musste niesen. Die Küche war staubig, doch im Moment konnte sie die Fenster nicht öffnen, weil die von Dreck und Rost ganz verklemmt waren. Sie entschloss, dass es besser wäre, draußen auf ihre beste Freundin Charlotte zu warten, mit der sie sich für einen Rundgang über die Farm verabredet hatte.
Als Olivia wieder in den sonnendurchfluteten Korridor trat, hielt sie plötzlich inne und starrte entsetzt auf den Neuankömmling, der soeben aufgetaucht war.
Zwischen ihr und der Tür, mitten auf dem pfirsichfarbenen Gipsfußboden, hockte eine riesige, haarige Spinne.
Olivia wich zurück, als sie in die Mitte des Sonnenstrahls krabbelte, der auf den Boden fiel. Sie begann, schnell und heftig zu atmen. Sie hatte eine Mordsangst vor Spinnen.
Ihr Apartment in Chicago, in dem sie in den letzten sechs Jahren gewohnt hatte, war brandneu, und sie wohnte im achten Stockwerk. Während ihrer Zeit dort hatten sich keine Spinnen bis zu ihr hochgearbeitet, daher hatte sie völlig vergessen, was für eine Angst sie vor ihnen hatte.
Doch jetzt erinnerte sie sich wieder.
Sie fand sie furchteinflößend!
Plötzlich zweifelte Olivia an der Klugheit ihrer Entscheidung, ihr sicheres, gemütliches Apartment verkauft zu haben und all ihr Geld in ein Haus voller lebensbedrohlicher Wildtiere zu investieren. Das Farmhaus war von Spinnweben überzogen. Das hieß wahrscheinlich, dass hier auch hunderte von Arachniden wohnten.
„Raus mit dir?“, versuchte Olivia es mit zitternder Stimme. Selbst ihr war klar, dass ihre Worte wenig von der benötigten Autorität widerspiegelten. Die Spinne ignorierte sie, scheinbar recht zufrieden in ihrem Fleckchen Sonne.
Unfähig, ihre Augen von dem Monster abzuwenden, griff Olivia hinter sich. Ihre Finger umklammerten ein Stück Holz, das von den Handwerkern gestern zurückgelassen wurde.
Sie könnte sie mit dem Brett anstupsen und sie somit dazu bewegen, ihr den Weg freizumachen. Dann könnte sie in aller Ruhe hinausspazieren.
Wahrscheinlich würde sie eher nach draußen hechten, gestand sie sich.
Olivia würde die Spinne nicht töten können. Das war nicht einmal eine Option, egal, wie viel Angst sie hatte. Sie könnte unmöglich ein unschuldiges, wenn auch angsteinflößendes, Wesen töten, das dieses Haus ihr Heim nannte. Sie spielte eine wichtige Rolle im Ökosystem. Welche Rolle das war, darüber war Olivia sich nicht sicher, aber sie wusste, dass es eine wichtige war.
Die Spinne brauchte nur ein wenig Überzeugung, sich zu bewegen. Nach draußen am besten, mindestens ein oder zwei Meilen weg von hier.
„Weg!“, rief sie und schüttelte eine blonde Strähne aus ihren Augen, als sie das Brett auf die Spinne zuschob.
Die Spinne kletterte auf das Brett, und Olivia ließ es schreiend fallen und sprang zurück.
„Das hatte ich nicht gemeint!“, jammerte sie.
Sie stieß mit ihrer Schulter gegen etwas Hartes. Es war das Gerüst, das die Handwerker am vorigen Tag hier zurückgelassen hatten, denn die hohen Decken hatten ebenfalls eine Reparatur nötig gehabt.
Der achtbeinige Besucher auf dem Boden hatte Olivia so hypnotisiert, dass sie das Gerüst über ihr ganz vergessen hatte.
Die Arbeiter hatten auf einem Holzbrett gestanden, das sich über die gesamte Länge des Flurs erstreckte.
Wenn Olivia auf das Gerüst kletterte, könnte sie über das Brett kriechen und an der Tür wieder hinunterklettern.
Dieser wagemutige Höhenakt würde ihr ermöglichen, die Spinne vollständig zu umgehen.
Olivia blickte das Gerüst hinauf und die Planke entlang.
Es wirkte höher, als sie es in Erinnerung hatte. Sie war kein Freund von Höhen.
Sie blickte wieder zurück zur Spinne.
Aber Höhen waren immer noch besser als das.
Olivia umklammerte das Metallgerüst und bemerkte, wie es schepperte und wackelte, als sie sich daran hinaufzog. So gefährlich kann es nicht sein, sagte sie zu sich selbst. Immerhin hatten die Handwerker den ganzen Tag darauf gearbeitet und Opern gesummt, während sie über das Brett balancierten und dabei hämmerten und bohrten.
Jetzt, wo Olivia dort oben war, war sie sich nicht sicher, wie sie das vollbracht hatten.
Auf allen Vieren kauernd legte sie eine testende Hand auf das Brett.
Es schwankte beunruhigend, und Olivia stieß ein erschrockenes Quieken aus.
Sie war jetzt vierunddreißig. Sie wollte gerne noch ihren fünfunddreißigsten Geburtstag erleben! War diese Idee zu leichtsinnig?
„Kein Zurück mehr“, trieb sie sich selbst an und legte auch ihre andere Hand auf das wackelige Brett. Das Gerüst auf der anderen Seite schien meilenweit entfernt zu sein.
Von ihrem Blickwinkel aus konnte sie sehen, wie das Licht durch das Farbglas über der hölzernen Eingangstür fiel. Sie waren von Staub überzogen, aber von hier konnte sie das bezaubernde Design sehen und sich vorstellen, wie herrlich die blauen, gelben, roten und grünen Scheiben aussehen würden, wenn sie erst einmal geputzt und poliert waren und die Morgensonne durch sie hindurchfiel.
Ermutigt von diesem positiven Gedanken kroch sie die Planke entlang.
„Iiik“, flüsterte sie. Das Brett war so schmal, dass sie nur mit Mühe ihr Gleichgewicht halten konnte, und es schwankte, als sie sich voranarbeitete, was ihr einen flauen Magen bescherte.
Was, wenn sie abstürzte und auf die Spinne fiel?
Obwohl sie hoch oben war, konnte sie sie noch immer sehen.
Wie sie auf sie wartete.
Olivia schnaubte besorgt bei dem Gedanken und klammerte sich an das Brett, während sie noch einige Zentimeter weiter vorankroch. Wer hätte gedacht, dass der Kauf eines Farmhauses zu solch einem risikofreudigen Verhalten führen würde? Sie hatte mit stundenlangem Putzen und Schrubben gerechnet, wenn sie die staubige und zerfallene Küche renovieren würde – welche zwar heruntergekommen, aber geräumig war, mit Tresen auf zwei Seiten und einer glorreichen Aussicht auf die Berge durch das größte der Fenster. Sie stellte sich einen Holztisch und Stühle in der Mitte vor und einen großen, neuen, glänzenden Ofen und die abgenutzten, kaputten Tresen ersetzt mit hellen, glänzenden Granitplatten und Töpfen mit Kräutern entlang der Fensterbänke.
In ihrer Vision würde sie das oben gelegene Schlafzimmer wieder auf Vordermann bringen, welches sowohl ein wundervolles Panorama über das Tal als auch ein großes Badezimmer mit einer riesigen Wanne, aber noch ohne Dusche, bot. Sie stellte sich die Wände in einem warmen Cremeton vor, mit gelben Vorhängen und rechts neben dem Fenster, ihr Bett an der gegenüberliegenden Wand mit einem großlinks en Gemälde darüber.
Sie hatte allerdings nicht erwartet, auf allen Vieren in schwindelerregenden Höhen über eine schmale, instabile Planke zu kriechen, um eine der größten und unberechenbarsten Spinnen zu umgehen, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte.
Ihre Renovationspläne machten nicht die Fortschritte, die sie sich erhofft hatte.
Olivia machte sich langsam Sorgen darüber, dass ihr die Zeit davonrannte. Die Villa, die Charlotte ursprünglich gemietet hatte, war nur bis Ende des Sommers gebucht. Sie wusste nicht, ob ein paar kurze Monate ausreichen würden, um dieses hübsche, aber heruntergekommene Haus in ein auch nur annähernd bewohnbares Heim zu verwandelt, vor allem, wenn sie das Gelände jedes Mal verlassen wusste, sobald eine Spinne auftauchte. Das würde ihr gehörig Sand ins Getriebe streuen.
Olivia blickte auf, als sie hörte, wie sich von draußen schnelle Schritte näherten – was die Planke erneut zum Schwanken brachte.
„Sorry, dass ich spät bin“, rief Charlotte. „Ich wurde in der Villa aufgehalten. Die Hausmeister waren da, um den Springbrunnen draußen zu reparieren. Ich habe mir gedacht, du solltest hier auch eine installieren.“
„Hallo!“, rief Olivia nervös von oben herab. „Nicht reinkommen! Es ist gefährlich! Warte an der Tür!“
Charlotte steckte ihren Kopf durch die Tür und blickte überrascht zu Olivia hinauf.
Olivia starrte zurück – weit nach unten, denn Charlotte war ziemlich klein – in das runde Gesicht ihrer Freundin, von rotgesträhntem Haar umgeben und mit großen, erstaunten Augen.
„Was um alles in der Welt tust du da oben?“, fragte Charlotte ungläubig.
„Dort ist eine riesige Spinne“, erklärte Olivia mit vor Angst zitternder Stimme.
„Ich sehe nichts.“ Charlotte blickte den Flur entlang.
„Da!“ Ihr Leben riskierend nahm Olivia eine Hand von der Planke, um auf das Tier zu zeigen.
„Ach, da. Das kleine Ding?“ Charlotte klang überrascht. „Soll ich es für dich rausscheuchen?“
Sie marschierte in den Flur, und Olivias Herzschlag legte einen Gang zu.
„Sei vorsichtig“, quietschte sie.
Charlotte ging unerschrocken auf die Spinne zu.
„Raus mit dir!“, befahl sie mit strenger Stimme. „Du jagst meiner Freundin eine Heidenangst ein.“
Sie klatschte in die Hände, und die Spinne krabbelte gehorsam nach draußen.
Als sie durch die Tür verschwand, bemerkte Olivia zu ihrem Erstaunen, dass sie geschrumpft zu sein schien. Jetzt, wo Charlotte hier war, war sie nur noch halb so groß wie zuvor.
Charlotte schüttelte den Kopf und lachte.
„Olivia, du bist die einzige Person, die ich kenne, die lieber auf einem himmelhohen Gerüst den Tod in Kauf nimmt, anstatt an einer Spinne vorbeizugehen. Ich weiß noch, wie sehr du in der Schule Angst vor Spinnen hattest, aber ich dachte, aus der Angst wärst du herausgewachsen.“
Olivia rieb sich Staub aus ihren blauen Augen.
„Ich glaube, es ist sogar noch schlimmer geworden“, gab sie zu.
Charlotte sah sich draußen um.
„Sie ist weg“, versicherte sie Olivia. „Sie sucht sich jetzt wohl ein neues Zuhause, wo es ruhiger ist. Vielleicht richtet sie sich in diesem Ranken an den Seitenwänden ein. So, heute ist Erkundungstag. Sind wir bereit?“
„Und wie!“
Olivia trat aus dem warmen, staubigen Haus und sog dankbar die frische Luft ein. Sie konnte eine Spur von Abenteuer in der Brise ausmachen. Heute war der Tag, an dem sie jeden Quadratmeter ihres neuen Grundstücks erkunden und die Geheimnisse entdecken würde, die sich dort versteckten.
Zu Olivias Erstaunen war die Geschichte der alten Farm noch immer ein Mysterium, und sie hatte nur wenig darüber erfahren können, wer hier einst gewohnt hatte und zu welchem Zweck die ehemaligen Besitzer die hügeligen zwanzig Morgen genutzt hatten.
Heute hatte sie den Vormittag von ihrer Arbeit in der Probierstube von La Leggenda freibekommen, dem Weingut, auf dem sie als Sommelière arbeitete. Sie und Charlotte hatten entschieden, dass sie die Zeit dazu nutzen würden, das wilde, überwucherte Gelände auf der Suche nach Anhaltspunkten und Beweisen über die vorigen Besitzer genauestens zu durchkämmen.
Olivia konnte kaum erwarten, welche Geheimnisse sie womöglich aufdecken würden.