Читать книгу Ein erlesener Todesfall - Fiona Grace, Фиона Грейс - Страница 9
KAPITEL SECHS
ОглавлениеAm nächsten Morgen wurde Olivia um halb sechs von ihrem Wecker geweckt.
Sie sprang aufgeregt aus dem Bett und blickte durch das große Fenster der Villa hinaus auf den Sonnenaufgang. Was für ein glorreicher Morgen! Die Luft war frisch und kühl, und die Schatten der Bäume breiteten sich über den tiefgrünen Wiesen aus. Dahinter erstreckten sich die Berge und Felder im nebligen Morgenlicht bis hin zum fernen Horizont.
Da der Verkostungsraum seine Pforten erst am Vormittag öffnete, hatte sie sich angewöhnt, bis acht Uhr auszuschlafen. So früh am Tage schon wach zu sein fühlte sich wie ein Abenteuer an.
Heute war der Tag des Ausflugs nach Pisa mit Marcello. Geschäftstrip, korrigierte sich Olivia hastig. Kein Ausflug, das durfte sie nicht vergessen. Geschäftstrip.
Es wird bestimmt ein langer, anstrengender Tag, redete sie sich streng ein. Sie würde professionell und aufmerksam sein müssen, um zu lernen, was sie nur konnte, selbst wenn die Unterhaltungen mit seinen Kollegen und Kunden auf Italienisch stattfinden würden.
Obwohl es ein Geschäftstrip war, hoffte sie, dass sie vielleicht die Chance haben würden, sich den Schiefen Turm von Pisa ansehen zu können, auch wenn es nur ein kurzer Blick von der Straße aus sein würde. Das war einer der Orte, den sie schon immer mal sehen wollte. In Gesellschaft von Marcello wäre es natürlich noch tausend Mal besser.
Olivia ermahnte sich streng, nicht zu aufgeregt zu sein. Das war ein geschäftlicher Ausflug, und sie musste es locker angehen.
Sie verließ das luftige Schlafzimmer und betrat das luxuriöse, anliegende Badezimmer. Sie duschte, stylte ihr schulterlanges, blondes Haar und nahm noch ein paar letzte Änderungen an ihrem Outfit vor, das sie am Abend zuvor herausgesucht hatte. Sie tauschte die schicken, hochhackigen Schuhe, die ihre erste Wahl gewesen waren, gegen Sommersandalen mit niedrigeren Absätzen, in denen sie leichter laufen konnte. Das türkise, knielange Kleid war perfekt, aber sie würde dazu ihre beigefarbene Lederjacke anziehen, welches mehr italienischen Flair ausstrahlte als die weiße Baumwolljacke, die sie sich gestern ausgesucht hatte.
Außerdem packte sie noch sowohl einen Notizblock und einen Stift als auch ihr Handyladegerät in ihre Handtasche. Und natürlich Lippenstift, Lipgloss und Parfüm, falls sie sich unterwegs noch einmal frisch machen musste.
Zum Beispiel bevor sie und Marcello zusammen zu Mittag essen würden.
Hör auf, sagte Olivia sich. Wahrscheinlich würde ihr Mittagessen aus einem schnellen Sandwich im Auto bestehen.
Sie blickte aus dem Fenster und bemerkte Erba, die von den Obstbäumen der Villa, wo sie sich an den herabgefallenen Granatäpfeln sattgegessen hatte, nun zielsicher auf das Haus zusteuerte. Gewöhnlich genoss Erba die zarten Sonnenstrahlen morgens auf der Fensterbank von Olivias Schlafzimmer, und sie hatte sich bereits an den ungewöhnlichen Anblick der sich sonnenden Ziege gewöhnt, wenn sie nach dem Aufwachen ihre Vorhänge zurückzog.
„Wir gehen heute früher zur Arbeit“, warnte sie Erba.
Nach einem letzten Check, dass sie auch alles hatte, was sie brauchte, eilte Olivia in die Küche. Von allen Räumen in der Villa liebte sie diesen am meisten. Der große, auffällige Wandfries mit zahllosen Trauben bedeckte eine der gekachelten Wände, und die Tontöpfe mit den Kräutern auf dem Fenstersims verströmten einen himmlischen Duft nach Rosmarin, Basilikum und Thymian. Am besten gefiel ihr an diesem Raum mit den angenehm warmen Farbtönen natürlich die große, rot- und chromfarbene Kaffeemaschine, die auf der Anrichte thronte.
Schnell verhalf sich Olivia zu einem doppelten Cappuccino und trank ihn, während sie aus dem Fenster auf den gefliesten Hof blickte, wo noch mehr Kräuter und Sträucher entlang den Steinmauern wuchsen. Genau so einen Hof wollte sie auch vor ihrer Farmhausküche haben. Vielleicht konnte sie die Fliesen sogar selbst verlegen. Sie liebte den Anblick. Alle Abschnitte mit Thymian und Katzenminze waren säuberlich voneinander abgegrenzt.
Genug geträumt, sagte sich Olivia, trank ihren Kaffee aus und schnappte sich ihre Handtasche.
„Komm, Erba“, rief sie, während sie durch den Flur nach draußen trat und vorsichtig die imposanten Türen hinter sich schloss. „Gassi!“
*
Um zehn vor sieben erreichte sie La Leggenda. Marcello war draußen bereits dabei, Wasserflaschen in eine Kühlbox und diese in den Kofferraum des SUVs zu laden. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und seine wirren Fransen fielen ihm jetzt nur noch bis zu den Augenbrauen. Er trug ein anthrazitfarbenes Hemd und eine schicke Jeans.
„Wir nehmen ein Geschenk mit“, erklärte er lächelnd. „Du siehst heute Morgen zauberhaft aus. Ich freue mich auf unseren Tag.“
„Ich mich auch“, sagte Olivia, durch sein Kompliment förmlich zum Glühen gebracht.
Er küsste sie auf beide Wangen, und sie spürte, wie ihre Knie sowohl durch diese Nähe als auch wegen des würzigen Aftershaves, das sie an seinen kräftigen, kantigen Wangenknochen erschnupperte, beinahe nachgaben.
Zum Glück hatte sie sich an diesen Effekt, den Marcello über sie hatte, bereits gewöhnt, und ihr rasendes Herz brauchte nicht lange, um wieder zu seiner normalen Geschwindigkeit zurückzukehren.
Sie trat in die Verkostungsstube, griff sich die letzten beiden Flaschen von der Theke und verstaute sie in der eigens dafür angefertigten, gepolsterten Kühlbox.
Eine Minute später fuhren sie bereits durch das elegante Tor des Weinguts.
„Unsere Reiseroute wird sehr malerisch, denn wir werden die ruhigeren Straßen nehmen“, erklärte Marcello und drehte die Musik ein wenig auf, sodass die sanften Klänge einer Oper – welche bei Olivia ein Schauder aus romantischer Vorfreude hervorriefen – eine melodische Untermalung boten. „Wir fahren zu einem Weingut, und ich hätte gern deine Meinung darüber.“
Ihre Meinung? Über ein Weingut? Olivia fühlte sich geschmeichelt, doch zugleich überkam sie auch Panik. Aus welcher Perspektive? Was hatte sie hinsichtlich fachlicher Expertise schon zu bieten?
Sie war froh, dass sie zuhause diesen starken Kaffee getrunken hatte. Zumindest war sie nun hellwach, und ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren, während das Auto die schmale, mit Zedern gesäumte Teerstraße in Richtung der strada principale – der Hauptstraße auf dem Weg nach Pisa – entlangfuhr.
Doch bevor sie diese erreichten, bog Marcello rechts ab und beschleunigte auf einer gewundenen Straße, die sich die Berge hinaufwand, jede Kurve eine neue, bezaubernde Aussicht enthüllend.
Olivia erblickte einen dunklen, geheimnisvollen Wald versteckt in einem tiefen, schattigen Tal. Auf einem grünen Hügel stand ein riesiges Schloss mit einem mäandernden Fluss, der einen behelfsmäßigen Schlossgraben rundherum bildete, und Fahnen, die auf den Zinnen wehten.
Olivia hatte gedacht, ihr würde es schwerfallen, eine unangenehm höfliche Konversation während er Fahrt aufrechtzuerhalten, doch die Opernmusik erfüllte sowohl das Auto als auch ihr Herz, und sie konnte die Landschaft atemlos bestaunen, ohne sich verlegen zu fühlen.
Bevor sie sich versah, bremste Marcello das Auto auch schon ab und bog auf eine sandige Straße ab. Eine Meile später fuhr der SUV durch eine schmale Lücke in einem Drahtzaun.
An dem rechten Holzpfahl hing ein Schild. Was stand da? Olivia reckte ihren Hals, aber die Farbe war bereits so verblichen, dass sie die Aufschrift nicht entziffern konnte.
Dies hier war um so vieles anders als alle Weinfarmen, die sie bisher besucht hatte. Hielten sie vorher erst noch woanders an, oder was passierte hier?, fragte sie sich rätselnd.
Die Zufahrt war von Büschen und Grünzeug überwachsen, doch leuchtend bunt von Wildblumen und Schmetterlingen. Am Ende befand sich eine Lichtung, gerade mal groß genug für zwei Fahrzeuge. Ein schlichter, älterer Truck in ausgebleichtem Blau parkte bereits dort.
Jenseits der Lichtung stand ein kleines Steingebäude.
„Salve, Franco!“, rief Marcello, als er aus dem Auto stieg.
„Salve!“
Ein schlanker, grauhaariger Mann trat aus der Tür.
„Willkommen, willkommen“, begrüßte er sie und breitete dabei seine Arme aus.
Er und Marcello umarmten sich herzlich.
Dann nahm er Olivias Hand und beugte sich zu ihrem Erstaunen und Entzücken hinunter, um sie zu küssen.
„Willkommen, signorina“, begrüßte er auch sie schwärmerisch, und seine dunklen Augen leuchteten in seinem zerfurchten, gebräunten Gesicht.
Marcello hob die Kühlbox mit dem Wein aus dem Auto, und sie traten gemeinsam durch die verwitterte Eingangstür.
Olivia folgte Franco hinein und schnappte begeistert nach Luft.
Das Innere des Hauses war kein bisschen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie fühlte sich, als beträte sie eine andere Welt.
Es war überhaupt kein Haus. Innen sah man, dass das Gebäude, das von draußen so klein wirkte, viel größer war als erwartet – geräumig und mit hohem Dach.
Es war eine rustikale, aber produktive Weinherstellungsanlage.
Im Inneren brummte es vor Betriebsamkeit. Zwei Arbeiter hievten gerade ein langes Rohr in eines der Eichenfässer, die die hintere Wand säumten. Auf der anderen Seite gab es drei große Kessel. Es waren keine glänzenden, brandneuen wie die auf La Leggenda. Diese wirkten älter, abgenutzter, aber gut gepflegt und einsatzbereit.
Olivia sog das Aroma ein, das ihr mittlerweile so vertraut war, den anregenden Duft von gereiftem Holz und gärendem Wein. Dieser Geruch verschaffte ihr jedes Mal aufs Neue einen aufregenden Nervenkitzel.
„Kommt, kommt“, forderte Franco sie auf. „Hier entlang.“
Der Boden war schlichter, abgelaufener Putz mit gelegentlichen Unebenheiten, als wäre er in Schichten gegossen und per Hand geglättet worden. Olivia fragte sich, ob dieser Betrieb einst aus Francos eigener, leidenschaftlicher Handarbeit entstanden war.
Hier gab es keine dramatisch großen Türen oder breite, helle Fenster wie auf La Leggenda, aber als Olivia durch eines der bescheidenen, schmalen Fenster sah, erblickte sie Reihen von Reben, die sich über den Hügel und hinunter ins Tal erstreckten.
„Unser Verkostungsraum entspricht nicht eurem Standard“, entschuldigte sich Franco, als sie ihm in ein kleines Nebengebäude folgten, das an das Haupthaus grenzte. Hier stand ein großer Eichentisch mit vier Stühlen, eine altmodische Anrichte und eine Vitrine mit polierten Gläsern.
„Lasst mich euch unsere Kinder vorstellen!“, verkündete Franco.
Olivia war nicht sonderlich überrascht, als er die Tür in der Anrichte öffnete und andächtig einige Weinflaschen hervorholte. Sie hatte bereits erahnt, dass diese Farm Francos Leidenschaft und Herzblut war.
„Unser Daily Chianti“, verkündete er, zog den Korken aus der Flasche und griff nach drei Gläsern. „Er braucht einen besseren Namen, ich weiß.“
Es war schon eine Weile her, dass Olivia an der Empfängerseite einer Weinverkostung gesessen hatte. Sie war es gewohnt auszuschenken, nicht das Glas zu halten, den Wein zu schwenken und das Bouquet einzuatmen, bevor sie einen Schluck nahm.
Welch ein Genuss!
„Er ist wunderbar“, rief sie und hoffte, dass sie mit ihrem Ausspruch nicht zu vorschnell gewesen war. Hätte sie warten sollen, bis der ältere Mann ihnen den Wein erklärt hatte oder bis Marcello seine Meinung als Erster anbot?
Aber Marcello lächelte und nickte zustimmend, als Franco freudig in die Hände klatschte.
„Weiter!“, forderte Marcello sie auf.
„Er ist weich und hat einen ausgeglichenen Geschmack. Es ist die Art von Wein –“ Olivia suchte nach den richtigen Worten. „Mit dem man sich leicht identifizieren kann. Man muss kein Experte sein, um ihn genießen zu können. Ich könnte ihn all meinen Freunden anbieten, und alle würden ihn lieben, auch wenn sie normalerweise keine Weintrinker sind.“
„Genau!“ Franco strahlte. „Das war unsere Absicht bei diesem Wein. Und jetzt, unsere Daily Melange.“
Olivia probierte auch diesen Wein und genoss ihn genauso sehr wie den ersten. Sie war sich der Geschmacksnoten, die sie herausschmecken konnte, beinahe sicher und war stolz über den Fortschritt, den sie gemacht hatte, seit sie angefangen hatte, auf La Leggenda zu arbeiten. Aber sie war zu nervös, vor Marcello einen Fehler zu machen. Zum Glück übernahm er diesmal die Führung.
„Ein temperamentvoller Geschmack von reifen Beeren“, beglückwünschte er Franco. „Ein Hauch von Pflaume und Kirsche. Ich vermute, deine Mischung beinhaltet einen Teil qualitativ hochwertigen Merlots.“
„Du hast natürlich recht.“ Franco grinste. „Und jetzt unser Trebbiano“, sagte er stolz.
Er schüttete den Weißwein in die drei Gläser.
Olivia nahm einen Schluck.
„Oh, wow, das ist noch so ein Wein, zu dem man leicht Bezug findet. Trocken, aber voller Frucht und Geschmack. Ich kann mir vorstellen, dass der einfach zu jedem Essen passt“, schwärmte sie.
Marcello nickte zustimmend. „Genau. Der Trebbiano ist leicht zu trinken und einer der beliebtesten Weine, die man in Italien begleitend zum Essen trinkt. Es gibt kein Restaurant, auf dessen Weinkarte man keinen Trebbiano findet, und deine sind auf einigen davon, nicht wahr, Franco?“
Franco winkte nur bescheiden ab.
„Wir hatten das Glück, dass drei örtliche Restaurants unsere Weine in ihre Karte aufgenommen haben“, sagte er.
Olivia konnte nicht anders. Sie nahm unauffällig noch einen weiteren Schluck dieses großartigen Weins, was Franco noch breiter grinsen ließ. Welch ein Wein! Er schrie förmlich danach, mit Freunden und Familie zum Essen genossen zu werden.
Einen Augenblick lang fand Olivia es schade, dass sie keine Kampagne für diese Weine führen konnte. Sie wünschte, sie hätte die Chance gehabt, diesen Wein in Chicago zu vermarkten anstatt dem Abflussreiniger von Valley Wines, für den sie zuständig gewesen war. Wie schön wäre es, dabei zu helfen, dem Endverbraucher eine solch angenehme Serie aus Weinen voller Persönlichkeit näherzubringen.
Marcello stand auf.
„Ich habe das Vergnügen bekanntzugeben, dass wir im Geschäft sind“, sagte er.
Olivia schaute überrascht zu, wie er und Franco sich umarmten und sich dann energisch die Hände schüttelten.
Was meinte er mit Geschäft? Was passierte hier – würden sie zusammen einen Wein herstellen? Wenn ja, was für einen? Olivia war sich nicht sicher, wie die Weine von La Leggenda mit diesen Weinen harmonisierten, da sie sich in Stil und Geschmack sehr unterschieden. Sie befürchtete, dass sie einfach nicht genug von der Weinherstellung verstand, und dass ihre Kenntnis zu karg war, um zu sehen, wie sich die Produkte von zwei Weinkellereien verbinden ließen.
Sie schätzte, dass das der Hauptgrund für Marcellos Trip nach Pisa gewesen war. Er wirkte zufrieden, und beide Männer lachten aufgeregt, als Franco einen Stapel Papiere aus dem Regal über dem Tresen hob.
Olivia spürte, dass das ein verheißungsvoller Moment war, aber obwohl sie versuchte, einen Blick auf die Papiere zu werfen, konnte sie sich keinen Reim darauf machen, da sie auf Italienisch verfasst waren. Zudem in italienischem Kleindruck. Wenn es auf eine Reklametafel gedruckt wäre, hätte sie sicherlich einige verständliche Worte herauspicken können.
Mit aller Geduld, die sie zusammenbringen konnte, hockte sie also erwartungsvoll auf dem Stuhl und hoffte, dass Marcello ihr bald den Zweck ihres Besuchs auf diesem bescheidenen, aber hervorragenden Weingut offenbaren würde.