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Einleitung
ОглавлениеEigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.
– Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 1944
Menschen wohnen. Dieses Bedürfnis scheint ein Existenzial zu sein, angemessenes Wohnen wird denn auch als Menschenrecht gehandelt, Obdachlosigkeit hingegen gilt als Fall ins Bodenlose. Bis zur Coronakrise beherrschten die steigenden Kosten des Wohnens und die Angst vor der Wohnungslosigkeit den Diskurs, aber mit den Ausgangssperren und Kontaktverboten wurde plötzlich wieder klar, was Wohnen in aller Ambivalenz bedeutet: Schutz vor Gefahren, ein gesicherter Raum des Intimen und Persönlichen, aber eben auch ein Gefängnis und ein Raum der Vereinsamung. Quarantäne in der eigenen Wohnung heißt nichts anderes, als dass diese zum Gefängnis oder zur Monade wird, was vor allem Singles und Menschen beeinträchtigt, die eng zusammengepfercht wohnen und die Außenwelt als erweiterten Wohnraum benötigen.
Der Aspekt des Schutzes vor dem Außen und des Abstands zum Anderen macht einleuchtend, warum die Unverletzlichkeit der Wohnung von der Verfassung fast so hoch wie die Würde des Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz geschützt ist. Wenn die Wohnung oder das Haus wieder zur Burg wird, die vor Gefahren schützen und für Sicherheit sorgen soll, verwandelt der verordnete Rückzug in die eigenen oder gemieteten vier Wände diese trotz historisch einmaliger medialer Anbindung nicht nur an den Nahraum, sondern praktisch an die ganze Welt zugleich in eine Falle, sobald das freie Pendeln zwischen innen und außen eingeschränkt wird. Wer zudem in kleinen, überfüllten, dunklen Wohnungen leben muss oder dem Hype gefolgt ist und in sogenannten »Tiny Houses« oder Mikroappartements wohnt, erfährt in Zeiten von Quarantäne und Ausgangssperren, dass eine angemessene Größe und Beschaffenheit der Innenräume gewährleistet sein muss, um einen längeren Aufenthalt in diesen nicht zügig als bedrückend zu erleben.
Seltsam ist freilich, dass bislang in der Philosophie das Wohnen nach der radikalen Negation der Kyniker im antiken Griechenland, die sich dem Rückzug in den privaten Raum verweigerten und provokativ ihr Leben im öffentlichen Raum führten, kaum zum Gegenstand wurde. Es blieb ein Nebenthema, kaum erwähnt und durchdacht, obgleich jeder Philosoph wohnt und auch daraus seine Gedanken spinnt. Das Naheliegende und Alltägliche bleibt ausgespart, wird meist nur indirekt thematisiert, vermutlich weil das Wohnen kontextbedingt und zeitlich variabel erscheint, also nicht würdig ist, allgemeines Thema des Daseins zu werden.
Diesem allgemeinen Trend ungeachtet, machten nach dem Zweiten Weltkrieg zwei äußerst unterschiedliche Philosophen das Wohnen zum Thema: Martin Heidegger als Sympathisant der Nationalsozialisten und der Verankerung des menschlichen Daseins in der Heimat und der Jude Vilém Flusser, der vor den Nazis aus Prag flüchten musste und als Vertriebener eine neue Identität, eine Philosophie der Bodenlosigkeit, entwickelte. Für den Kosmopoliten Flusser hatte Wohnen, vor allem in Bezug auf Heimat, eine völlig andere Bedeutung als für den sesshaften Heidegger. Mit Flusser lassen sich Grundzüge einer modernen Philosophie des Wohnens entwerfen, die konsequent den Begriff der Heimat dekonstruiert: »Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen.«
Mit der Reise aus dem Bannkreis der Erde heraus, mit den Flügen zum Mond, hat sich der Blick auch auf die Erde als Raumschiff und als singuläre Wohnung des Menschen noch einmal verstärkt. Der Blick von außen, aus dem Weltall, macht die Menschen zu Gästen und zu Mietern der Erde, die es seitdem nicht mehr zu kolonisieren, sondern zu erhalten gilt. Verwoben damit ist die Erzählung vom Paradies, einem Garten als Wohnstätte und der Abschiebung in die Welt. Das machte die Menschen zu heimatlosen Migranten auf der Suche nach einer Wohnung in der Natur, die wieder zu einem Garten umgebaut werden soll. Den Wurf aus dem Paradies muss man mit der Geburt in Verbindung setzen, die den Menschen aus dem Mutterleib als der ersten Wohnung in die Welt »wirft« oder aus deren schließlich beengendem Gehäuse er flieht. Die Suche und das Einrichten in einer Wohnung ist von der Ambivalenz bestimmt, wieder in das geschützte Reservat, in die Höhle oder das Paradies, zurückzukehren oder dies zu rekonstruieren und vom Drang nach dem Freien, der Suche nach Ausgängen. Das zeigt sich auch in philosophischen Entwürfen von Lebenswelten, beginnend mit Platons Höhlengleichnis.
Die Wohnung, das Haus, ist im digitalen Zeitalter alles andere als der Rückzugsort der Menschen, der Raum des Privaten, durch Mauern, Türen und Fenster getrennt vom Öffentlichen. Mit den sogenannten »Smart Homes« holen wir Maschinen als vermeintliche Diener in den privaten Raum, die uns überwachen und unser Verhalten kontrollieren oder steuern. Über Künstliche Intelligenz könnten sich »Smart Cities« und »Smart Homes« auch verselbstständigen, als Bewohner würden wir dann zu Gefangenen – und richten uns mit Theorien über die Simulation in den digitalen Gefängnissen nach dem Vorbild des platonischen Höhlengleichnisses auch ein.
Im Gegensatz zu früher ist das digitale Gefängnis nicht mehr Anlass, einen Weg hinaus zu finden, sondern um sich noch besser einzuschließen, was dem Verlangen nach »Gated Communities« und »Gated Nations«, also nach kontrollierten Grenzen, möglichst mit Mauern, entspricht – einem Leben in Festungen, die mit Hightech nach außen und nach innen gesichert sind. Hier kommt auch der Krieg ins Spiel, der Festungen, Bunker und Häuser zerstört und Vertriebene hervorbringt. Es ist eine besondere Weise des Entwohnens, die auch im Alltag permanent durch Abriss, Neubau und Gentrifizierung vonstattengeht und manchen in die Obdachlosigkeit stürzt.
Im Zweiten Weltkrieg kulminierte der Luftkrieg in der Vernichtung ganzer Städte. Nachdem man aus dem Ersten Weltkrieg gelernt hatte, richtete man in Deutschland ein System von genormten Schutzbauten in Häusern ein und veränderte Stadtbaubilder, die von der verdichteten Stadt – nach Le Corbusier »Wucherungen« – in die funktional aufgeteilte, »gegliederte und aufgelockerte« Stadt mit den neuen Wohnsiedlungen wechselten. Sie sollte bei den Nazis als Schutz vor Luftangriffen dienen, die nur noch einzelne Häuser zerstören konnten, aber nicht mehr ganze Stadtviertel. Ebenso wurde darauf geachtet, möglichst nur feuerfeste Materialien zu verwenden, die auch heute noch in unseren Gebäuden zur Anwendung kommen. Mit der Vorstellung, sich durch Schutzräume sichern zu können, räumten allerdings die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gründlich auf. In den 1960er Jahren stellte der deutsche Staat die letzten Programme zum Bau von Schutzräumen ein, der Regierungsbunker wurde hingegen erst in den 1990er Jahren stillgelegt. Jetzt bereiten sich sogenannte »Prepper«, die Kriege oder Katastrophen erwarten, privat durch Bunker und andere Schutzmaßnahmen vor, während das Heiligste der digitalen Gesellschaften, die Serverfarmen und Rechenzentren, zu den am besten geschützten Orten werden, zu den Festungen der digitalen Gesellschaften.
Der Blick nach vorne in die neue »Un-Heim-lichkeit« des Wohnens führt in Exkursionen, wie in der Geschichte des Menschen gewohnt wurde. Dabei findet häufig der Umstand Erwähnung, dass Wohnen mit frühen Erfahrungen des Lebens im geschützten Uterus und dem Sturz in die Welt verbunden ist – Erfahrungen, die vermutlich Erwartungen an das Wohnen geprägt haben. Wie haben frühe Menschen gewohnt, wann haben sie begonnen zu wohnen, wie hat sich das geschützte Wohnen, möglich geworden durch Werkzeuggebrauch und Feuermachen, auf die Entwicklung des Menschen ausgewirkt? Und was ist mit der letzten Wohnung eines Menschen, dem Grab?
Wohnen ist mit dem Verhalten zum Gast verwoben. Die Menschen sind Gast auf der Erde, aber sie haben ihre Wohnungen mit vehementen Mitteln, vor allem ab dem 19. Jahrhundert, gegen unerwünschte Gäste verteidigt. Die Hygienisierung der Wohnverhältnisse, das große Reinemachen, geht im Bürgertum auch einher mit dem Verschwinden der Dienerschaft. Man lebt autark, die Familien schrumpfen bis hin zu Single-Existenzen, die Untermietverhältnisse auch. Obgleich das Leben vermutlich mit einem zufälligen oder erzwungenen Zusammenleben angefangen hat – (endo)symbiotisch. Mittlerweile schlägt die Desinfizierung auch auf die Gärten und das Land jenseits des umbauten und geschützten Raums durch. Der realisierte Paradiesgarten wird entvölkert, die Häuser sind aseptisch, nähern sich den lebensabweisenden Rein- und »Reinsträumen« an, in denen man Halbleiter produziert und Serverfarmen unterbringt.
In den Smart Homes und Smart Cities ziehen sich die Menschen nicht mehr aus der Natur und von den Mitmenschen in Gebäude zurück, die ersten künstlichen Umwelten, die geschaffen worden sind. Hier sind sie im Prinzip direkt an die Welt angeschlossen, die Wohnung gerät zu einem globalisierten Element, das von überall aus gesteuert, eingesehen und gehackt werden kann. Gleichzeitig ist der Bewohner in die gesamte Welt, in die globale Datensphäre integriert und öffentlicher als im immer lokalen öffentlichen Raum, auch wenn er weiterhin von Mauern oder materiellen Abgrenzungen wie Fenstern umgeben ist. Die Menschen gehen nicht in den Cyberspace, sie werden mitsamt ihrer materiellen Lebenswelt von ihm eingesponnen. Ein paradoxes Dasein zwischen Transparenz und Privatheit, bislang vom umbauten Raum bestimmt und gesetzlich durch die Unverletzlichkeit der Wohnung gesichert.
Wohnungen und Häuser waren einst Bastionen des Privaten. Das ist längst vorbei, da sich das Wohnen gerade mit den Smart Homes grundlegend verändert. Mit dem Einzug in die intelligenten Behausungen ist endgültig Schluss mit der Illusion von Privatheit, nicht aber mit der Abwehr gegenüber der Nahumgebung. In Zeiten der Pandemie gewinnt die Kontrolle über den Eingang nochmals an Wichtigkeit. Das Leben findet zwar nicht notwendig in der Öffentlichkeit statt, aber das Heim wird mehr oder weniger zu einem Subjekt, das auf die Bewohner reagiert und deren Verhalten beeinflusst. Zuhause ist man seit dem Telefon, welches das erste Loch in die Gemäuer geschlagen hat, nicht mehr alleine. Der Bewohner wird selbst zum Gast, der neben den vielfältigen Interaktionen mit seinem häuslichen Internet der Dinge und dem Dialog mit dem »Homeserver«, dem neuen sprechenden und verstehenden Diener, direkt an der Weltöffentlichkeit teilnimmt und in der virtuellen Weltmetropole lebt. Heute sind nicht mehr alte Schlösser, Burgen oder zerfallende Gebäude unheimlich, sondern die kalten, sauberen, perfekten Gehäuse, die von Computern gesteuert werden – und die neue Gäste in Form von Viren oder Trojanern in die Wohnungen schleusen.