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Anthropologie des Wohnens: Von der biologischen Zelle zum Wohngebäude
ОглавлениеIn der Regel versteht man unter einer Wohnung einen gebauten Raum, einen künstlichen Körper, eine zweite Haut. Wohnen eigentlich Tiere? Beispiele von Tieren, die sich Höhlen bauen oder einen festen Wohnsitz haben, legen dies nahe. Bauen sich Vögel ihre Wohnungen in Nestern, Bären in Höhlen, Mäuse oder Füchse in Erdhöhlen? Ist das Haus einer Schnecke nicht auch eine Wohnung? Und könnte man womöglich bereits den Chitinpanzer von Insekten als eine mobile Wohnung verstehen, die das weiche Innere schützt? Der Körper ist mit seiner Haut, seinem Panzer, seinem Gefieder selbst eine mobile Wohnung, mit der das Lebewesen verbunden ist. Diese Wohnung bleibt, aber sie ist wieder durch eine nach außen verlagerte Wohnung, die den Körper schützt, aufgespalten und verdoppelt.
Leben beginnt mit einer Hülle, mit dem Vorhandensein einer im Prinzip kugelförmigen, aber auch zylindrischen oder fadenförmigen selbstständigen Zelle, die sich von der Umwelt durch eine elastische Wand abgrenzt. Diese Membran regelt den Verkehr beziehungsweise den Stoffwechsel oder die Handelsbeziehung zwischen innen und außen und schützt den abgegrenzten inneren Raum des Zytoplasmas sowie der in diesem enthaltenen Teile, die Module oder Mitbewohner sein können. Auch Einzeller stellen kein atomares Leben dar, sind keine einsame Monade, sondern bereits ein »Wir«, eine Gemeinschaft aus einem Nucleotid, dem Zytoplasma, Organellen mit Membranen wie den Ribosomen, die Proteinfabriken, und den Chlorplasten bei Grünalgen und Pflanzen. Oft gibt es Plasmide, die sich unabhängig vom Genstrang der Bakterien reproduzieren und so eigenständig sind, dass sie auch in andere Zellen übertragen werden und dort eindringen können, was dem Einzeller durch die neuen Gene nützt, beispielsweise zum Immunschutz. Flagellen dienen schließlich der Fortbewegung.
In Eukaryoten kommen noch weitere Bewohner hinzu, beispielsweise die Mitochondrien, die neben eigener DNA wiederum Ribosome enthalten und die mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich selbstständige Existenzen als Einzeller bildeten, die vielleicht als Parasiten in andere Zellen eingedrungen waren oder gefressen wurden. Sie gelten als Paradebeispiel für die vor allem von Lynn Margulis entwickelte Endosymbiontenhypothese.1 Weniger aggressiv gedacht, könnten Symbiosen natürlich auch durch Gäste oder Besucher entstanden sein, die nach einem ursprünglich kurzzeitigen Besuch länger dort verblieben waren. Möglicherweise handelt es sich auch bei prokaryotischen Zellen bereits um Wohngemeinschaften von Symbionten, die ihre Eigenständigkeiten noch weiter aufgegeben haben, weil manche Wirte und Zellen vom Zusammengehen profitieren. Nach der Endosymbiontenhypothese für Eukaryoten, die mittlerweile weitgehend akzeptiert wird, haben sich durch die Vergemeinschaftungen evolutionäre Sprünge ergeben. Wichtig festzuhalten wäre jedoch, dass die Voraussetzung für solche Endosymbiosen Fressvorgänge oder parasitäres Eindringen sind. Zudem scheint es einen ausgeprägten Drang auch schon bei den Prokaryoten zur Vergesellschaftung zu geben, also gewissermaßen mehr oder weniger stabile, feste, kollektive Ansiedlungen in unterschiedlichsten Formen zu bilden, die mitunter auch bereits gemeinsam handeln und dafür kommunizieren müssen. Leben, könnte man auch sagen, entsteht durch eine Selbstabgrenzung oder Einstülpung, die ein Zerfließen oder Auflösen einer Wohngemeinschaft verhindert und deren Identität und Singularität schafft.
Zum Leben gehört neben der Abgrenzung und dem Einschluss in eine Festung auch das Prinzip der Selbstreproduktion oder der Vermehrung durch Zellteilung, also durch eine Vervielfältigung des behausten Einzellers. Notwendig ist für Wachstum, Selbsterhaltung und Selbstvermehrung ein »Gedächtnis« in Form des Genoms, das die dreidimensionale Zelle in ihrer Identität erhält und mitunter auch repariert sowie eben durch Teilung reproduziert. Gleichzeitig sorgt das Gedächtnis, das bei Prokaryoten ein in sich geschlossenes Molekül (»Nucleotid«) und bei Eukaryoten selbst wieder als »Zellkern« durch eine Doppelmembran abgetrennt und geschützt ist, durch Fehler nicht nur für Katastrophen, sondern auch für Innovationen, durch die sich die Zellen an eine stets in Veränderung begriffene Umwelt »anpassen« können. Die Teilung wird vom genetischen Apparat der aus Tausenden von Nucleotiden bestehenden RNA oder DNA angetrieben, einem komplizierten Gedächtnis-Apparat, der über die Fähigkeit zur Selbstreplikation verfügt. Wahrscheinlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Aufrechterhaltung eines Lebewesens als Gated Community oder als Blase und der Möglichkeit der Selbstvermehrung, die sowohl durch Zellteilung als auch später durch sexuelle Reproduktion in der »Wohnung« der umhüllten Vielzeller geschieht. Bakterien tauschen überdies Gene aus, sodass sich die Bakteriengemeinschaft als eine riesige Tauschbörse verstehen lässt, um permanent die Wohnungen umzubauen, zu ergänzen, zu modernisieren und schlichtweg zu erkunden, was nach einem Tausch passiert. Zudem schleusen Viren ihre Gene in die Zellen ein, übernehmen die Genproduktion zur Reproduktion. Meist stirbt die Wirtszelle, es können aber auch Gene zurückbleiben und sich mit dem Genom fortpflanzen.
Zudem ist eine Zelle nicht nur von der Außenwelt abgegrenzt und reproduktionsfähig, sie ist als Einzeller auch mobil und bewegt sich nomadisch in einem flüssigen Medium. Ob schon prokaryotische Zellen der Bakterien und Archaeen durch Symbiosen entstanden sind, ist unbekannt. Sie enthalten zumindest keine Organellen, die ihre eigene genetische Information enthalten, eine Symbiose oder Aufnahme hätte hier zur gänzlichen Verschmelzung geführt. Metaphorisch könnte man selbst bei Prokaryoten bereits nicht nur vom Leben in einer »Wohnung«, sondern auch in einem Leib sprechen. Bakterien sind nicht nur ein Leib, das Nukleoid als »Kernbewohner« hat auch einen Körper. Mit dem Beginn der Eukaryoten beginnt spätestens die Phase des Zusammenwohnens, der Kommune.
Neben dem Leben, das mit der sich von der Umgebung abspaltenden und sich teilenden Zelle entsteht, kommt es nicht nur zum Fressen anderer, kleinerer Zellen, sondern vermutlich auch zur Entstehung von Parasiten, also nomadischen Eindringlingen, die ihr Genom in die Einzeller als Wirte einschleusen, um sich listig mit deren Hilfe und auf deren Kosten zu replizieren. Ohne Zellen können sich Viren nicht vermehren. Auch sie haben in der Regel eine Umwandung ihres Inneren, eine Proteinhülle, die ihre DNA oder RNA umschließt, aber keinen eigenen Stoffwechsel. Unbekannt ist, ob Viren aus Teilen von Zellen entstanden sind oder ob sie sich als Minimalleben schlicht aufgrund des Vorhandenseins von Zellen als möglichen Wirten entwickelt haben.
Die Abgrenzung nach außen durch eine elastische Membran erzeugt die kompakte Gestalt der Zelle, die aber innen in wiederum durch Membrane aufgeteilte Kompartimente differenziert ist. Man könnte bildlich von Zimmern sprechen, die unterschiedliche Funktionen eines Lebewesens beherbergen. So sind auch Wohnungen geschnitten oder in Zimmer aufgeteilt – in Bereiche des Schlafes und des Beischlafes, in Bereiche, in denen gekocht und gegessen wird, in denen sich Kinder aufhalten, man Gäste begrüßt, sich wäscht und seine Notdurft verrichtet, aber auch arbeitet oder sich erholt und unterhält, in denen schließlich die Dinge gesammelt und verwahrt werden, die man sein Eigen nennt.
Eine These wäre, dass Leben, beginnend mit den Einzellern, aus der Abgrenzung und räumlichen Verdichtung hervorgeht, dass der Einschluss des individualisierten Lebewesens aus der Entkopplung und damit der Aufteilung von innen und außen durch das Gehäuse hervorgeht. Diese Trennung, die den Raum aufspannt und Entfernungen erzeugt, scheint mit dem Leben verbunden zu sein. Leben entsteht, wo ein Wohnraum und damit eine Grenze geschaffen wird, die eine Außenwelt konstituiert. Eine Umgebung gibt es nur mit diesem Einschnitt, dieser Einfaltung, dieser Furchung im Raum. Beides entsteht gleichzeitig als »Unter-Scheidung«. Daraus leiten sich wahrscheinlich viele, wenn nicht alle Dichotomien ab, die noch die Existenz des Menschen als geistiges Wesen bestimmen.
Die Philosophen des Deutschen Idealismus haben die logischen Konsequenzen dieser Furche, aus der Leben als räumliche Unterscheidung und damit als Stoffwechsel und Replikation quillt, in Form der Unterscheidung zwischen »Ich« und »Nicht-Ich« nachvollzogen. Ein Einzeller hat zwar kein Selbstbewusstsein, aber ist selbstbezogen, auf Überleben und Reproduktion ausgerichtet, hat eine von anderen Einzellern differenzierte Identität und bewegt sich in einer Welt, von der er sich unterscheidet und auf welche er reagiert. Ganz entscheidend ist, dass die räumliche Grenzziehung, mit der das Innere eines Lebewesens sich vom Außen abtrennt, eben eine Membran ist, die ein Medium der Kommunikation und der wechselseitigen Einverleibung ist. Schon von Beginn des Lebens an haben sich nicht nur Jäger entwickelt, die sich anderes Leben einverleiben und auf dessen Kosten leben, sondern auch Parasiten oder Einbrecher, die in die Wohnungen eindringen und versuchen, sich dort breitzumachen, um mit geringeren Kosten als Untermieter oder Ausbeuter leben zu können.
Schon vor der Entstehung von vielzelligen Lebewesen waren die Einzeller nicht nur Wohngemeinschaften mit (teils unerwünschten) Gästen. Sie gruppierten sich auch gerne im Raum, bildeten Konglomerationen und kooperierten. Bakterienfilme lassen sich als erste mobile Städte verstehen, zudem als erste Tauschgemeinschaften, die sich auch mit artfremden Bakterien zusammenfanden und Gene austauschten. Auf der Oberfläche ihrer Zellwände befinden sich Filamente oder Pili, mit denen sich die Zellen an einem Untergrund, aber auch anderen Bakterien festhalten können. Der Molekularbiologe Thierry de Duve leitet daraus den sexuellen Kontakt ab. Pili dienen dem sogenannten horizontalen Gentransfer. Sie verbinden Zellen und bauen eine Plasmidbrücke auf, über die DNA in Form von ringförmigen Plasmiden ausgetauscht werden kann. So koppeln sich Lebewesen in ihren Gehäusen, Zellwand an Zellwand, aneinander, wobei die Zelle mit den Sexualpili, die einen molekularen Penis bilden, an eine »weibliche« Zelle andocken. Mit dieser Sexualität oder diesem Tausch beginnt letztlich das, was einmal Kultur werden wird: das »Lernen« oder Übernehmen gespeicherter Information jenseits des evolutionären Zufalls der Mutationen.
Leben ist Wohnen – zunächst in einem Körper mit einem Wall, einer Mauer, einem Bauwerk, in dem sich ein Innen geschützt und konzentriert aufspannen kann. Das heißt, ein Körper eines vielzelligen Lebewesens ist immer auch eine Wohnung für viele Mitbewohner, die eine ausdifferenzierte Gemeinschaft von Zellen bilden, die wiederum aus Räumen und Mitbewohnern besteht. Und ein Körper ist auch eine Wohnung für viele weitere Gäste und Eindringlinge. Die Wohnung bildet eine Abgrenzung, die weitere Abgrenzungen hervorbringt oder impliziert. Niemand wohnt alleine, es gibt keinen Single, selbst eine Festung muss mit der Außenwelt verbunden und damit gegenüber Mitbewohnern und Immunsystemen offen sein. Der vollkommene Einschluss, die absolute Sicherheit, bedeutet gleichzeitig den Tod und die Unfruchtbarkeit.