Читать книгу Wunsch Traum Fluch - Frances Hardinge - Страница 11
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Etwa zehn Sekunden lang waren alle drei unglaublich zufrieden mit sich. Dann verblasste das Gefühl.
«Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll», sagte Josh und beantwortete damit die unausgesprochene Frage, die in der Luft hing, «aber ich werde es herausfinden. Ihr zwei bleibt hier und hört euch an, was er so denkt.» Bevor Ryan noch etwas sagen konnte, schlenderte Josh mit den Händen in den Hosentaschen zu dem Mann aus der Teestube. Der fegte sich gerade Zigarettenasche von seinem ausgeleierten orangefarbenen T-Shirt und sah Josh erst kommen, als er fast vor ihm stand.
«… das ist doch einer von den dreien, die vorhin in der Teestube waren.» Chelles geborgte Stimme klang beunruhigt und misstrauisch. «Hoffentlich will der sich keine Kippe schnorren, ich kann doch so schlecht Nein sagen … hat genauso ein Gesicht wie Donny Sparks aus der Schule, für den ich immer Zigaretten kaufen musste, weil ich größer war.» Der Tee-Mann starrte stur auf seine Zigarettenspitze. Er wirkte nervös. Ryan konnte sich gut vorstellen, wie er als Teenager gewesen war – schlaksig, unbeholfen, von einem kleineren Jungen ins Geschäft getrieben, um Zigaretten zu kaufen. Ryan empfand Mitleid für ihn, und er fühlte sich schuldig, weil er in jemandes Privatsphäre eindrang.
Josh schob die Sonnenbrille auf die Stirn, grinste und sagte etwas zu dem Tee-Mann. Chelles Monolog verstummte kurz und setzte dann wieder ein.
«Was meint er damit – welche Maschine mir gehört? Findet er, dass ich wie jemand aussehe, der ein Motorrad besitzt?» Die Stimme klang jetzt überrascht, aber angenehm überrascht. «So ist das also, der Glückspilz. Wenn man einen älteren Bruder mit einer Harley hat … scheint nett zu sein … Vielleicht würde mich sein Bruder mal …»
«Ich schreibe es auf, wenn er etwas Sinnvolles sagt», seufzte Ryan.
«… tut gut, sich mal mit jemandem zu unterhalten, dem so was wichtig ist … intelligenter Bursche … mmmmpfrrrr …»
Ryan schaute auf und sah, dass Chelle sich den nassen Papierball wieder in den Mund gestopft hatte. Eine Politesse stand in der Nähe und machte ein besorgtes Gesicht. Warum konnten nicht alle Politessen so kalt und gefühllos sein, wie man ihnen immer nachsagte, fragte sich Ryan verzweifelt. Er nahm Chelle am Ärmel und zog sie weiter die Straße entlang, wo sie sich an das Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts lehnten.
«… wenn ich mir ’ne Harley-Davidson aussuchen dürfte, würde ich eine Road King Classic nehmen», fuhr Chelle mit gedämpfter, ekstatischer Stimme fort, während sie so taten, als würden sie sich für perlenbesetztes Silberbesteck und rosagesichtige Porzellanfigürchen interessieren. «Andererseits – die Ultra … aber was soll’s? Ich kriege ja doch nie eine. Das bleibt ein Traum. Das ist es: Die Harley ist ein Traum aus Chrom. Wenn du auf einer Harley sitzt, dann ist es, als ob dich der Horizont erwartet, als ob er dir förmlich entgegenfliegen würde … Ich würde alles dafür geben, das zu fühlen …»
Nachdem er sich nach allen Seiten umgeschaut hatte, fing Ryan an, Chelles Bemerkungen auf die Serviette zu schreiben.
«… Ich könnte diesem Jungen von dem Preisausschreiben in der neuesten Ausgabe von Silverwing erzählen», fuhr Chelle fort, «bei dem es eine Ultra als ersten Preis zu gewinnen gibt … nicht, dass ich daran teilnehmen würde. Selbst wenn ich gewinnen würde, würde mir Mutter nie erlauben, ein Motorrad zu haben, schon gar keine Harley …»
In dem Schaufenster waren etliche Drucke von viktorianischen Plakaten fächerförmig angeordnet. Ryan schaute eine Zeit lang auf das vorderste Bild, und ganz plötzlich war ihm, als würde das letzte Teilchen eines Puzzles an seinen Platz gleiten.
Es war die Reproduktion eines alten Stichs und zeigte einen Mann in abgewetzten, altmodischen Kleidern, der sich verzweifelt nach hinten beugte. Er hatte etwas Kleines, Rundes aus seinem Krug gefischt und starrte es entgeistert an. Neben ihm deutete ein breitbrüstiger Soldat mit einem Schnurrbart triumphierend grinsend auf den Gegenstand in der Hand des Mannes.
Die Bildunterschrift in kantigen Lettern lautete: «So schob man ihm des Königs Schilling unter: Die Freiheit verloren für den Preis eines Biers.» Man hatte den Mann dazu verführt, einen Krug in die Hand zu nehmen, an dessen Grund des Königs Schilling versteckt worden war. Damit hatte er sich zum Militärdienst verpflichtet, ob er wollte oder nicht. Und jetzt schleppte man ihn fort, in den Krieg … Ryan rührte sich nicht, als ob jede Bewegung automatisch seine Gedanken durcheinanderbringen würde.
«… tja, das war’s mit der Zigarette», sagte Chelle widerstrebend. «Ich sollte wohl besser wieder reingehen … Moment mal, ist das der Bruder von dem Jungen, der da aus der Kneipe kommt?»
Ryan wirbelte herum. Vier Männer in dicker Lederkluft waren vor die Kneipentür getreten und gingen auf die Motorräder zu. Einer von ihnen griff nach dem Lenker der rotschwarzen Harley und setzte den Helm auf. Oh nein, Josh, dachte Ryan, du hast ihm doch wohl nicht erzählt, dass du einen Bruder hast, der eine Harley fährt, oder?
Josh schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase, vermutlich, um sein Gesicht zu verstecken. Er streckte sich ausgiebig, indem er die Arme genüsslich nach oben reckte und dann die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Diese Geste ließ ihn stets entspannt wirken, bedeutete aber tatsächlich, dass er fieberhaft nachdachte. Dann setzte er ein Grinsen auf, sagte etwas und schlenderte zu den Bikern hinüber.
Der Mann auf der Harley zog gerade seine Handschuhe über, als Josh zu ihm trat. Ein paar Augenblicke standen sie da und unterhielten sich, dann schwang der Harley-Mann langsam sein Bein über die Maschine, stellte sich neben sie und hievte sie wieder auf den Ständer. Danach trat er zurück und legte eine Hand auf den Tank, um das Motorrad im Gleichgewicht zu halten, während Josh – mit einigen Schwierigkeiten – auf den Sozius kletterte. Josh winkte dem Tee-Mann zu, der aus der Ferne zuschaute. Er winkte zurück und ging dann wieder in die Teestube zurück.
«… Idiot, Idiot, Idiot, ich bin so ein Idiot …», murmelte Chelle vor sich hin. «Ich würde mich ja zum Deppen machen, wenn ich mit denen reden würde, was weiß ich denn schon über Motorräder außer dem, was ich gelesen habe, ich habe ja noch nie auf einem gesessen …»
Ryan betrachtete Josh mit offenem Mund. In kürzester Zeit schien Josh das Maskottchen der Biker geworden zu sein. Sie setzten ihm einen Sturzhelm auf und lachten, als er ihm übers Kinn nach unten rutschte und auf seinem Kopf hin und her baumelte. Schließlich kletterte Josh wieder von der Harley herunter und kam seelenruhig zu Ryan und Chelle zurück. Einer der Biker startete seine Maschine, und der Motor stieß ein reißendes Rak-ak-ak-ak aus, als ob die Luft von schnellen Hammerschlägen platt geklopft werden würde. Ein zweiter Motor ließ seine Stimme ertönen, dann ein dritter und ein vierter. Daraufhin kurvten alle vier Motorräder elegant auf die Hauptstraße, wo sie zu brüllenden Farbstreifen wurden und schließlich verschwanden.
«Habt ihr all seine Gedanken aufgeschnappt?», fragte Josh, als er sich wieder zu Ryan und Chelle gesellte.
«Das meiste davon», antwortete Ryan.
«… da fehlt Senf auf dem Tisch, ich könnte schwören, dass jeder, der hier reinkommt, einen Beutel mitnimmt, nur damit ich mehr Arbeit habe …», plauderte Chelle gleich hinterher.
Josh hob die Augen zum Himmel.
«Gehen wir. Wir müssen irgendwohin, wo wir normal miteinander reden können. Wo wir alle normal reden können», fügte er mit erhobenen Augenbrauen hinzu.
Ein paar Straßen von der Teestube entfernt hatte Chelle plötzlich «keinen Empfang» mehr. Eben noch hatte sie lautstark den Ärger des Tee-Mannes über eine Fliege am Fenster verkündet, und im nächsten Moment besaß sie wieder die Kontrolle über ihr Sprechorgan – zumindest soweit man das überhaupt von ihr sagen konnte. Zwanzig Minuten danach lagen die drei Freunde auf dem Rasen in einem Park und spielten Jenga mit Pommes Frites.
«Du hast ihm tatsächlich gesagt, du wärst mit deinem Bruder hier und er hätte eine Harley?» Ryan lag auf dem Bauch und zupfte an einem Pommes-Stäbchen in dem wackeligen Jenga-Turm. Gewöhnlich war er derjenige, der dieses Spiel gewann, weil er eine geradezu übermenschliche Geduld an den Tag legte, die den anderen beiden völlig abging.
«Klar. Ich musste ihn doch zum Reden bringen; alles, was er sagt, kann uns weiterhelfen.» Josh grinste. «Könnte vielleicht sogar stimmen. Wer weiß? Vielleicht habe ich wirklich einen Bruder mit einer Harley-Davidson.» Ryan wusste nie genau, warum Josh immer grinste, wenn er Anspielungen auf die Tatsache machte, dass er adoptiert war. Aber vielleicht wollte Josh die Leute damit nur verunsichern, wie üblich.
«Und er hat dich drauf sitzen lassen», hauchte Chelle, immer noch tief beeindruckt.
«Ja.» Joshs Grinsen wurde noch breiter.
«Der arme Tee-Mann. Er war so was von neidisch», sagte Chelle. «Seine Gedanken fühlten sich immer ganz anders an, wenn er an die Harley dachte, so weich und sanft, nicht mehr spitz und stachelig.»
«Ich habe übrigens auch seinen Namen rausgekriegt, als wir in der Teestube waren», sagte Ryan. «Er heißt Will Wruthers. Das stand auf einem Namensschild auf seinem Kittel.»
«Beeil dich mal, Ryan. Wenn du in dem Tempo weitermachst, fangen die Pommes wieder an zu leben, und dann spielen sie womöglich Jenga mit uns!»
Ryan zog sein Pommes-Stäbchen heraus und hielt es triumphierend in die Luft, damit alle es sehen konnten. Dann aß er es feierlich auf.
Josh war als Nächster dran. Er entdeckte ein Pommes-Stäbchen, das aus dem Turm herausragte, zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde und riss es dann mit einer ruckartigen Bewegung heraus. Der Pommes-Turm stürzte in sich zusammen, und die fettigen Stäbchen fielen in Chelles leeren Pappbecher.
«Mist, die kleben immer so aneinander, wenn sie kalt werden.» Als Verlierer musste Josh die anderen aufräumen lassen. Das taten sie, indem sie den «Trümmerhaufen» eifrig in ihren Mündern verschwinden ließen. Josh beobachtete Ryan aufmerksam. «Du hast schon wieder so eine komische Stimme, so beiläufig und flach. Du hast noch was herausgefunden, stimmt’s? Oh ja, das hast du», setzte er mit einem merkwürdigen Anflug von Stolz hinzu.
«Mag sein. Ja, ich glaube, ich habe tatsächlich etwas. Aber … ich bin nicht sicher, ob es euch gefällt.»
Josh und Chelle schauten ihn erwartungsvoll an.
«Also gut. Ich glaube, es ist wie mit dem Schilling des Königs.» Ryan warf den anderen einen kurzen Blick zu und traf nur auf verständnislose Mienen. «Ihr wisst schon, früher gab man den Leuten, die in die Armee eintreten sollten, einen Schilling, und wenn sie ihn annahmen, dann war das ein Versprechen, dem König zu dienen, und aus diesem Pakt kamen sie nicht mehr heraus. Es spielte keine Rolle, ob sie den Schilling zufällig nahmen, ohne zu wissen, was sie taten – sie mussten trotzdem in den Krieg ziehen. Sie konnten ihn nicht einfach zurückgeben. Es war ja nicht die Münze, die zählte, sondern das, wofür sie stand. Und … na ja, ich glaube, wir haben etwas ganz Ähnliches getan.»
«Und was wäre das?», fragte Josh ruhig. Der Spott war aus seinem Gesicht verschwunden.
Ryan holte tief Atem und streckte die Arme aus, die Handflächen nach innen gerichtet, als wollte er den Raum zwischen seinen Händen festhalten. Diese Geste half ihm oft, seine Gedanken in gerade, verständliche Bahnen zu lenken.
«Okay, es geht um einen Wunschbrunnen. Die Leute gehen dorthin, werfen eine Münze hinein und wünschen sich etwas. Dazu sind Wunschbrunnen da. Und hier … na ja, hier gibt es also dieses Ding im Brunnen, diesen Brunnengeist, die Wasserfrau, und sie bekommt diese Münzen, an denen Wünsche kleben, und vielleicht ist es ihre Aufgabe, als Gegenleistung die Wünsche zu erfüllen. Und dann kommen wir und nehmen die Münzen weg …» Ryan verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Grinsen sein sollte. «Dieses Wort, das die Wasserfrau immer wieder gesagt hat und das sich irgendwie wie ein Niesen angehört hat – mit viel Rotz dazwischen –, das … na ja, ich glaube fast, das sollte ‹Wünsche› heißen.»
Josh stöhnte auf, als hätte er mit Verdauungsstörungen zu kämpfen, und krümmte sich, sodass seine Stirn auf dem Rasen ruhte. Er ahnte, was Ryan jetzt sagen würde.
«Ich glaube …», fuhr Ryan zögernd fort. «Ich glaube, dass die Wasserfrau das Versprechen leistet, die Wünsche zu erfüllen, wenn sie die Münzen annimmt, die in den Brunnen geworfen werden. Und weil wir die Münzen genommen haben, bedeutet das wohl … dass jetzt wir sie erfüllen müssen.»