Читать книгу Wunsch Traum Fluch - Frances Hardinge - Страница 8

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In dieser Nacht schlief Ryan schlecht. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, war der Unsichtbare wieder da, der sanft gegen seinen Nacken geklopft hatte, als er der Glühbirne beim Sterben zugehört hatte. Im Moment hockte er auf seinem Bett und tippte auf die Haut zwischen den Knöcheln seines verbrannten Handrückens. Seine Hände bewegten sich unwillkürlich, um das Kitzeln wegzuwischen. Die forschenden Fingernägel seiner anderen Hand ertasteten eine Ansammlung von kleinen Erhebungen auf seiner Haut und kratzten darüber, erweckten ein schlafendes Jucken zum Leben.

Es war so heiß. Jedes Mal, wenn er drauf und dran war einzuschlafen, breitete sich das Kitzeln in juckende Flächen aus, die größer als seine Hände waren und pulsierten wie die Glühbirne in der Höhle, ehe sie den Geist aufgab. Der Verband kam ihm mit jedem Pochen enger vor. Irgendwann taumelte er ins Badezimmer und hob eine Ecke davon an.

Die Schwellungen auf seiner Hand waren nicht das Resultat der Verbrennung. Sie waren weiß und spannten wie frische Brennnesselstiche, waren aber so gewölbt und rund wie Tautropfen. In jeder befand sich in der Mitte ein dünner Schlitz wie der erste, kaum wahrnehmbare Spalt in einer Kastanienschale. Die Schlitze waren mit zarten schwarzen Härchen besetzt, die bei jedem Vibrieren leicht flatterten.

Ryan drehte das kalte Wasser auf und hielt seine Hand unter den Strahl. Ich habe das nicht gesehen; es gibt nichts, was so aussieht; ich schlafe; wenn ich sie nicht anschaue, dann sehen sie nicht so aus … Ein Panikpfropfen saß ihm in der Kehle.

Erst als seine Hand so taub vor Kälte war, dass es wehtat, wagte er, sie aus dem Waschbecken zu nehmen. Zwischen seinen Knöcheln saßen fünf weiße, verschrumpelte Warzen. Nichts weiter.

Wusste ich doch, dass sie nicht so aussehen. Ryan ging wieder ins Bett, entschlossen, niemandem davon zu erzählen; dann wurde es nämlich auch nicht wahr. Er legte sich hin und ließ seine Hand in einen Becher mit Wasser hängen. Jemand hatte ihm mal erzählt, dass man ins Bett pinkelt, wenn einem im Schlaf die Hand nass wird. Er hoffte inständig, dass das nicht stimmte.

Am nächsten Tag lauerten ihm seine «Träume» auf.

«Gute Idee!», lobte seine Mutter, als sie ihn von Schulbüchern umringt an seinem Schreibtisch sitzen sah. Er verriet ihr nicht, dass er verzweifelt versuchte, sich mit Mathe abzulenken. Die kalten, glatten Zahlenreihen nahmen immer seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass er an nichts anderes denken konnte.

Aber heute fühlte sich selbst Mathe heiß an. Gerade als er seine Konzentration auf die Aufgaben gelenkt hatte, riss ihn das Klingeln des Telefons wieder heraus. Aber am anderen Ende der Leitung war nichts zu hören außer einem schabenden, knirschenden Geräusch und einem hohen Sirren, das wie ein Käsemesser durch sein Gehirn schnitt.

«Wahrscheinlich irgendein Fax-Gerät», sagte seine Mutter. «Wir hatten heute Morgen schon drei solcher Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.»

Ryan öffnete das Fenster. Die Blätter der Bäume glänzten wie Münzen. Der Unsichtbare war ihm gefolgt und tipp-tipp-tippte auf seine bandagierte Hand.

«Ryan!», rief seine Mutter. «Chelle ist am Telefon!»

Als er den Hörer nahm, schlug ihm eine Wand von unentwirrbaren Worten gegen das Ohr.

«Chelle, Moment mal, mach langsam», unterbrach sie Ryan so freundlich, wie er nur konnte.

«Es ist schon wieder passiert! Aber diesmal war es richtig schlimm, weil Miss Gossamer da war und sie mich so merkwürdig angeschaut hat. Ich bin sicher, sie dachte, ich würde über sie reden … und ich weiß nicht mal, ob’s so war oder nicht!» In ihrem Atem lag ein leichtes Kratzen, und Ryan wusste, dass sie sich wegen irgendetwas so große Sorgen machte, dass wieder ein Asthmaanfall drohte.

«Chelle, was genau ist wieder passiert?»

«Du weißt doch – ich … ich habe dir gestern davon erzählt …»

Mit einem sich rasch ausbreitenden Schuldgefühl erkannte Ryan, dass Chelle ihm irgendwann am gestrigen Tag etwas Wichtiges anvertraut hatte und dass er keine Ahnung hatte, was es war.

«Ähm … na, dann erzähle mir doch, was diesmal passiert ist», bat er mit sanfter Stimme.

«Ach, es war genauso wie gestern, nur dass wir diesmal einkaufen waren, und plötzlich kamen diese ganzen groben Worte aus meinem Mund über irgendjemanden, der in der Schlange steht und drängelt, und über jemand anderen mit einem fetten Hintern …»

Andererseits, selbst wenn ich ihr zugehört hätte, hätten ihre Worte nicht viel Sinn ergeben.

«… und ich habe versucht, Josh anzurufen, aber wenn jemand ans Telefon geht, dann gibt es dieses komische Geräusch, als ob man neben einem Schaufelbagger steht, und ich konnte nichts hören, nur irgendwie eine Stimme, ganz schwach, und ich glaube, es war Josh. Und ich glaube, er sagte, dass wir irgendetwas tun müssten, bevor uns noch mehr Köpfe wachsen würden, aber irgendwann gab er es auf und sagte einfach nur noch ‹Merrybells›, wieder und wieder, als ob er ganz sicher sein wollte, dass ich es auch höre.»

«Er hat immer noch Tanten-Dienst.»

«Ryan …», sagte Chelle zitternd, «was, glaubst du, hat er damit gemeint?»

«Wir müssen mit ihm reden.» Ryan zögerte. «Es ist Zeit für eine Mission. Wir müssen nach Merrybells. Versuchen wir mal, ob der Wasseruhren-Plan funktioniert.»

Ehe er aufbrach, überprüfte Ryan insgeheim noch einmal den Anrufbeantworter und sah, dass eine weitere Nachricht eingegangen war. Auch diese war wegen des statischen Rauschens und ohrenzerfetzenden Surrens kaum verständlich, aber da war tatsächlich eine Stimme, die in dem grauen Lärm ertrank.

«… das ist nicht mehr lustig …» Das klang nach Josh, aber ohne Joshs übliche Selbstsicherheit.

Eine Stunde später kletterten Chelle und Ryan vorsichtig an einer riesigen Uhr hinauf.

Joshs Familie residierte in einem Garten, den alle nur «die Oase» nannten. An einem Ende des Grundstücks stand das prächtige Haus seiner Eltern und am anderen Merrybells, das kleine, reetgedeckte Cottage seiner Tanten. Die Oase war eher ein Park als ein Garten, fand Ryan. In Gärten verbrachte man seine Freizeit. Durch Parks wurde man geführt. Gärten hatten kleine Stellen: eine Stelle, wo die Sonne schien und die Blumen ganz platt gedrückt waren, weil man sich dort hinlegte, um braun zu werden, und eine schattige Stelle, wo der Rasen rillenförmig eingedrückt war, weil dort immer die Gartenliege stand. Parks hatten keine Stellen. Sie hatten Sehenswürdigkeiten.

Eine solche Sehenswürdigkeit der Oase war die Wasseruhr, die einem berühmten Vorbild auf einem Platz in München nachempfunden war. Man konnte das Innenleben sehen, wo Ströme aus schimmerndem Wasser über eine Reihe von winzigen Stufen von einem hoch gelegenen Behälter bis zu einem großen Bassin am Grund strömten. Die Uhr bestand aus Bronze, mit einer Patina aus Grünspan besetzt. Ryan wusste, dass Grünspan der Belag war, den altes Metall annahm, wenn es jahrelang der Luft und Feuchtigkeit ausgesetzt war. Es war ein hübsches Wort für einen hübsch aussehenden Überzug, der eigentlich nichts anderes war als eine Art modriger Rost. Künstliche «Grünspan-Patina» wie die auf der Uhr war nicht billig zu haben, und Mr. Lattimer Stone, Joshs Vater, war sehr stolz darauf. Ein großer Stab in der Mitte pumpte auf und ab, als ob er Milch zu Butter schlagen würde, und seine Bewegung trieb Zahnräder an, die große, gefurchte Zylinder drehten, die wiederum von Zeit zu Zeit kleine Glöckchen läuten oder kleine Metallfiguren im Kreis tanzen ließen.

«Wenn ich jemals eine Bank ausraube und zu zehn Jahren Merrybells verurteilt werde», hatte Josh einmal gesagt, «dann besorgt ihr beiden ein Fluchtauto und parkt es dort, wo die Wasseruhr in die Mauer eingelassen ist. Dann klettert ihr daran hoch und werft mir eine Kalaschnikow zu oder etwas Ähnliches. Aber gebt mir erst ein Signal mit einem Spiegel, damit ich weiß, dass ihr kommt.»

Und da waren sie nun, hoch oben auf der Mauer.

«Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?», fragte Chelle, aber sie wartete nicht auf eine Antwort. Zweifellos dachte sie, dass Josh schon wusste, was zu tun war, und dieser Gedanke genügte ihr, um sich in ein Gewirr aus Clematis-Ranken zu kauern und einen kleinen Handspiegel in Richtung Merrybells zu halten. «Woher soll ich denn wissen, ob er überhaupt aufs Haus scheint? Ich drehe ihn einfach in alle Richtungen, nur für alle Fälle … oh, da ist er ja schon …»

Josh kam angelaufen. Er trug Gummistiefel und auf seinen Armen klebten Grashalme wie Tarnflecken – offensichtlich das Ergebnis intensiver Gartenarbeit. Seine Augen waren hinter den getönten Brillengläsern versteckt.

Er warf einen kurzen Blick hinter sich. Als er wieder hochschaute, war seine Miene entschlossen und ruhig.

«Es ist echt schlimm. Da muss irgendwas im Brunnen gewesen sein. Ich weiß nicht was, aber ich vermute mal, sie haben da radioaktiven Müll abgeladen, und jetzt mache ich … schaut euch das mal an.» Er löste die Schnalle seiner Armbanduhr und zog sie ab. «Seht ihr das? Tot.» Er wedelte mit der Armbanduhr hin und her, obwohl sie zu weit oben waren, um das winzige digitale Zifferblatt zu erkennen. Er warf die Uhr in das Wasserbecken, wo sie mit einem mürrischen Plop auf der Oberfläche auftraf und dann sank.

«So ist es die ganze Zeit, seit der Sache mit dem Brunnen … ich habe irgendeine Art von … Strahlung … die Lampen gehen aus, und der Fernsehbildschirm ist auf einer Seite rosa und auf der anderen grün. Und mittlerweile denken alle, ich mache das absichtlich

«Dann sagen wir das wohl besser …», setzte Ryan an.

«Nein!» Josh schnitt ihm das Wort ab. «Wir sagen niemandem etwas. Ich habe einen Entschluss gefasst. Wenn wir irgendetwas sagen, dürfen wir nie wieder zusammen sein. Wir müssen uns selbst um die Sache kümmern. Milch ist gut gegen Radioaktivität. Wir müssen viel Milch trinken. Und oft duschen. Und ruft mich an, okay?»

Aus dem Wasserbecken stieg eine Blase empor, als ob Joshs Armbanduhr die Luft angehalten und schließlich doch aufgegeben hätte. Ryan glaubte, das winzige, geisterhafte Gesicht unter der Oberfläche zucken zu sehen, aber über das Wasser huschten so viele Lichter, dass er sich nicht sicher war.

Ryan blinzelte. Plötzlich war ihm übel. Der Wasserbogen, der aus der Öffnung neben seinem Kopf spritzte, schimmerte wie ein Stück Metall. Die Tropfen, die aus den Zacken der Zahnräder sprangen, wirkten bleischwer, und er erwartete, dass sie im Niederfallen klirren und klappern würden. Er senkte die Augenlider, und seine Wimpern verwandelten die Welt in sanfte goldene Scheiben, die – geisterhaften Münzen gleich – um Josh schwebten. Josh thronte in der Mitte, wie in einer Schatzhöhle, mit gelb gefärbten Pennys auf seinen Augen.

Josh, dachte er, mach, dass du wegkommst

«Josh!» Chelle kreischte auf. «Geh weg da!»

Der Stab im Herzen der Uhr fing an zu beben und zu rucken. Die Zahnräder im Zentrum des Uhrwerks sprangen mitfühlend in die Höhe und landeten wieder knirschend auf ihrer Position, wobei sie allerdings die Verbindung zueinander verloren. Eine Schraube zwängte sich mit einem Pock aus der Verankerung, und Josh machte einen Satz rückwärts, als ein großer Metallkolben auf ihn niederstürzte und ein Stück vor ihm auf dem Gras aufprallte. Aus einem Rohr zischte es, und Wasser sprühte nach allen Seiten.

«Wir waren’s nicht!», schrie Chelle.

«Ich hab’s nicht angefasst!», rief Josh gleichzeitig.

Während sie sich eilig zurück in die Clematis-Ranken schoben, hörte Ryan, wie Josh hastig davonlief und dabei dieses schlürfende Platschen von sich gab, das Gummistiefel auf nassem Gras manchmal machen. Chelle und Ryan sprangen zu Boden und entfernten sich im Laufschritt, damit niemand auf die Idee kam, sie könnten etwas mit dem Getöse zu tun haben, das die untergehende Wasseruhr hinter ihnen von sich gab.

Wunsch Traum Fluch

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