Читать книгу Wunsch Traum Fluch - Frances Hardinge - Страница 7

Оглавление

Drei Stunden nach der Sache mit dem Spiegel versuchte Ryan, Josh anzurufen. Aber irgendetwas stimmte mit dessen Anschluss nicht, und daher rief er stattdessen Chelle an.

«Hallo?» Chelles Stimme klang am Telefon noch höher und piepsiger als sonst.

«Hallo, Chelle.» Ihr musste man die Wahrheit immer schonend beibringen. «Chelle, ich habe die Blumensäule zerbrochen. Es ist aber nicht so schlimm, weil ich gleichzeitig umgekippt bin und mir den Kopf angestoßen und die Hand an einem heißen Kaffeetopf verbrannt habe, deshalb war mir niemand wirklich böse.»

Im Gegenteil: Statt Ryan wegen seiner Ungeschicklichkeit auszuschimpfen, war seine Mutter wütend auf sich selbst. Eine ganze Weile hatte sie davon gesprochen, Ryan persönlich in die Notaufnahme zu bringen. Den Leuten von der Zeitung würde sie entweder absagen, oder Ryans Vater sollte ihnen ausrichten, dass sie eine Rabenmutter war, die ihr eigenes Kind bei lebendigem Leib in der Badewanne verbrühte. Aber als Ryan den Ausdruck von Enttäuschung auf dem Gesicht seiner Mutter sah, hatte er sie natürlich davon überzeugt, dass die Brandwunde nicht so schlimm war. Er hatte sich selbst für seine Tapferkeit beinahe bewundert. Schließlich hatte sie nachgegeben und den Interviewtermin nicht abgesagt.

«Hör mal, Chelle», fuhr Ryan fort, «meinst du, ich könnte heute Nachmittag zu dir kommen? Und könntest du Josh bitte auch Bescheid sagen?» Die Sache mit dem Spiegel war etwas, das er von Angesicht zu Angesicht besprechen wollte. Chelle fragte ihre Mutter und kam gleich darauf wieder zum Telefon.

«Sie sagt, ich darf. Sie meint, dann würde ich wenigstens nicht im Weg herumstehen, wenn Miss Gossamer kommt.»

Miss Gossamer war eine Freundin von Chelles Großmutter gewesen. Nachdem Chelles Großmutter still und in aller Ruhe aus dem Leben getreten war, war Miss Gossamer still und in aller Ruhe in Chelles Familie eingetreten. Ryan fand, dass Chelles Eltern sich sehr großherzig verhielten, aber irgendwie kam es ihm merkwürdig vor, wie in einem dieser Träume, wo ein vertrautes Gesicht von einem unbekannten Antlitz ersetzt wird, ohne jede Erklärung. Und obwohl Chelle nie ein Wort darüber verlor, war sich Ryan sicher, dass sie genauso empfand.

Ryans Mutter fühlte sich immer noch schuldig wegen des Kaffee-Unfalls, sodass sie ihn zu Chelle fuhr, anstatt ihn durch den Park laufen zu lassen.

Chelle wohnte in einem Reihenhaus – einem von vielen – mit hohen, schmalen Fenstern und breiten, tiefen Fensterbänken, die sich wunderbar als Katzenbalkone eigneten. Wie viele ältere Häuser hatte auch dieses ein Souterrain. Von einem kleinen Vorplatz vor dem Haus führten zwei Stufen zur Haustür hinauf und ein halbes Dutzend zum Tiefparterre hinunter.

Die beiden untersten Fenster gehörten zum Souterrain und lagen unterhalb des Straßenniveaus. An einem sah Ryan Chelles Gesicht. Sie lächelte und winkte ihm zu. Gleichzeitig öffnete sich die Haustür.

«Hallo Ryan», sagte Chelles Mutter, ohne ihn wirklich zu beachten. Stattdessen schaute sie zum Auto seiner Mutter. «Kommt deine Mutter nicht auf ein Tässchen Tee herein?»

«Sie hat eine Verabredung … ähm, irgendwo …. ähm, dringend.» Seine Mutter winkte vom Wagen aus mit dem strahlenden, breiten Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie sich unbehaglich fühlte – bei Leuten wie Chelles Mutter, die sie zu gerne ins Haus gelockt und mit ihr über die berühmten Leute getratscht hätte, die sie kannte.

«Wie schade!», sagte Chelles Mutter und warf dann einen geistesabwesenden Blick auf Ryan, als ob sie prüfen wollte, ob der Postbote auch das richtige Paket abgeliefert hatte.

Chelles Mutter hieß Michelle. Als Kind hatte man sie «Chelle» genannt, und das hatte ihr so gut gefallen, dass sie ihre dritte Tochter auf diesen Namen hatte taufen lassen. Er stand auf ihrer Geburtsurkunde. Ryan fand, dass Chelles Mutter genau der Typ war, der so etwas für eine gute Idee hielt.

Sie hatte große, zaudernde Augen und ein breites, zauderndes Lächeln, und sie war immer irgendwie beschäftigt, so wie eine Motte beschäftigt ist, wenn sie gegen einen Lampenschirm prallt. Als sie hörte, dass Chelles Schulkameraden sie «Schneckengehirn» nannten, meinte sie bloß: «Kinder sind schon witzig, nicht wahr?»

Ryan folgte Chelles Mutter durch die Diele, wo ihn der Griff von Miss Gossamers Regenschirm, der im Schirmständer stand, mit seinem Papageienschnabel in die Hand zwickte, wie üblich.

Bei Chelle zu Hause war immer so viel Lärm, dass Ryan sich fragte, wie es die Leute hier überhaupt schafften, miteinander zu reden. In der Küche lief das Radio, im Wohnzimmer der Fernseher; oben wurde gestritten, und alle paar Minuten rannte irgendjemand die Treppe hoch oder runter.

Chelle erwartete ihn in der Küche. Ihre Begrüßung ging in dem Geschrei unter, mit dem der Streit im Obergeschoss eskalierte. Dann herrschte plötzlich Ruhe, ehe Celeste, Chelles älteste Schwester, mit ihrem Fahrradhelm auf dem Kopf zur Haustür donnerte. Jemand anderes, vermutlich Chelles zweite Schwester Caroline, reagierte darauf mit heftigem Türenknallen.

Ryan und Chelle besorgten sich etwas zu trinken und stiegen dann die enge Treppe zur Höhle hinunter.

«… hast du dir schlimm die Hand verbrannt?» Chelles nervöses, unentwegtes Geplapper wurde erst wieder vernehmlich, als sich die Zimmertür hinter ihnen schloss. «Oh, aber nicht den Verband abmachen! Ich will’s gar nicht sehen. Ich hasse Narben und so etwas, dann habe ich immer das Gefühl, als ob sich mein Magen schält …»

Keine von Chelles Schwestern hatte ins Tiefparterre ziehen wollen. Die Fenster ließen kaum Licht ein, und die Lampe gab ein nervtötendes Pick-pick-pick von sich. Auf der Decke breiteten sich gelbliche Feuchtigkeitsflecken aus, die nach und nach eine Art Landkarte bildeten. Und so hatte Chelle den ganzen riesigen, nasskalten, kerkerähnlichen Raum für sich, und sie liebte ihn mit einer Leidenschaft, die ihre Schwestern vor Neid hätte erblassen lassen, wenn sie davon gewusst hätten.

Die Höhle war ideal für geheime Treffen. Ryan fand es toll, nach oben aus dem Fenster zu schauen und die Füße der vorbeigehenden Menschen zu betrachten, die keine Ahnung hatten, dass sie beobachtet wurden.

«… es ist blöd, weil sie mir immer das Gefühl gibt, na ja, du weißt schon, wie wenn dich jemand beobachtet und du merkst, dass dir trockenes Laub hinten in den Pulli gefallen ist …»

Ryan hatte keine Ahnung, wovon Chelle gerade redete. Aber das Gute daran war, dass Chelle gar nicht erwartete, dass ihr jemand zuhörte. Wenn man sich an sie gewöhnt hatte, konnte man ihrem Mundwerk einfach freien Lauf lassen und hatte gleichzeitig die Gelegenheit, lange und gründlich darüber nachzudenken, was man selbst als Nächstes sagen wollte.

Ryan und Chelle fühlten sich immer etwas merkwürdig, wenn sie nur zu zweit waren, ohne Josh. Auf gewisse Art war es unbekümmerter, denn Josh war wie eine Rakete, und man wusste nie genau, in welche Richtung er explodieren würde. Wenn er nicht da war, dann sprachen sie offener miteinander und merkten häufig, dass sie einer Meinung waren. Irgendwie wurden beide dann ein bisschen größer und lauter, um die Lücke zu füllen, die Joshs Abwesenheit hinterließ. Aber es war beängstigend, diesen Abgrund auszustopfen. Früher oder später stellte einer von ihnen die Frage, was Josh davon halten würde, und dann fingen sie fröhlich an, über ihn zu reden, was dazu führte, dass der abwesende Josh so mächtig anschwoll, dass er die Lücke selbst füllte.

Ryan wusste, dass es auch heute nicht lange dauern würde, bis er Joshs Namen erwähnte, aber erst wollte er Chelles Meinung hören, nicht das, was Chelle für Joshs Meinung hielt.

«… und anfangs dachte ich, es sei das Radio, aber dann stellte sich heraus, dass ich es war, und ich weiß immer noch nicht, wovon ich da geredet habe.» Chelle zog eine Grimasse, und Ryan sprang in ihr momentanes Schweigen.

«Chelle, da … da ist etwas, das ich dir sagen wollte. Es geht um den Grund, warum ich in die Badewanne gefallen bin.»

Chelle wartete darauf, dass er weitersprechen würde, ihre eigene Geschichte völlig vergessend.

«Meine Eltern denken, dass es daran lag, dass ich nichts sehen konnte und der Boden feucht war vor Dampf, aber das war es nicht. Chelle … ich habe etwas gesehen, und ich wich zurück, um von diesem Etwas wegzukommen. Es ist passiert, als ich meine Kontaktlinsen einsetzen wollte. Klar, mir tränten die Augen und ich hatte keine Brille auf und außerdem war überall Kaffeedampf, aber trotzdem konnte ich mein Gesicht im Spiegel erkennen. Nur dass es das nicht war.»

«Es war was nicht?»

«Es war nicht mein Gesicht.»

Die Glühbirne füllte die Stille mit ihrem Pick-pick-pick an, während Chelle auf der Luft herumkaute und dann schluckte.

«Es sah zwar aus wie ich», fuhr Ryan fort und merkte, wie seine Stimme schrill wurde, «meine Haare und meine Augenlider und alles, aber wieso konnte ich meine Augenlider sehen? Meine Augen waren doch offen! Und als mein Spiegelbild die Augen öffnete, begann Wasser herauszuströmen. Nicht nur Tränen, sondern ganze Wasserfälle. Und das Wasser hatte eine falsche Farbe. Ich meine, jede Farbe ist falsch für Tränen.»

«Das ist echt unheimlich», sagte Chelle piepsend. Sie versuchte ihm nicht einzureden, dass er sich das alles nur eingebildet hätte. Ryan fühlte eine Welle der Erleichterung. «Ich wünschte, Josh wäre hier», fügte sie hinzu.

«Kommt er nicht?»

«Doch, aber später. Er muss wieder seinen Dienst ableisten, hast du das nicht gewusst? Weil er doch ganz schlammig und grün vom Brunnen war, als er heimkam, und nicht sagen wollte, wo er gewesen war.» Joshs Eltern hielten es für eine sinnvolle pädagogische Maßnahme, ihn jedes Mal, wenn er etwas angestellt hatte, zu nützlichen Diensten zu verdonnern, die aus ihm einen besseren Menschen machen sollten. Meistens musste er in dieser Zeit bei seinen ältlichen Tanten wohnen, die seine Mutter verabscheute, musste für sie Gartenarbeit verrichten oder die Schuppen ausfegen. Statt ihn mit Hausarrest zu bestrafen und ihm zu verbieten, das Haus zu verlassen, verboten ihm seine Eltern, sein Heim zu betreten. Er musste seinen Hausschlüssel abgeben und hatte keinerlei Zugang zu den Dingen, die ihm gehörten, bis er seine Strafe abgebüßt hatte.

«Und alles nur, um mich loszuwerden», hatte Josh einmal gesagt. «Sie würden mich am liebsten zurückschicken, wenn sie die Quittung finden könnten.»

Ryan konnte sich nicht vorstellen, wie er sich fühlen würde, wenn ihn seine Eltern in diese Art von Exil verbannen würden. Josh, der die meisten Strafen mit einem grimmigen Humor hinnahm, reagierte auf das Arbeitslager in Merrybells – so hieß das Haus seiner Tanten – mit einer merkwürdigen fiebrigen Stimmung, die an Wahnsinn grenzte und so ganz anders war als all seine anderen Launen. Seinen Tanten, die er nicht leiden konnte, gehorchte er mit einer dumpfen, bedrohlichen Verschlossenheit – entweder das, oder seine Strafe wurde verlängert –, aber für alle anderen wurde der Umgang mit Josh zu einem Spaziergang über ein Minenfeld.

Irgendwo klingelte ein Telefon, und dann näherten sich Schritte der Tür zur Höhle. Chelles Schwester Caroline öffnete mit dem Telefon in der Hand die Tür.

«Es ist Josh. Fünf Minuten, klar? Ich erwarte einen Anruf.»

Chelle wartete, bis Caroline die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, bevor sie den Hörer ans Ohr legte.

«Hallo Josh, wir haben uns schon gefragt, wo du … oh nein, aber Ryan hatte so ein komisches Erlebnis … nein, er ist hier.»

Mit einem unguten Gefühl im Bauch nahm Ryan das Telefon im Empfang. Wenn Josh Chelle nicht ausreden ließ, war er in einer sehr schlechten Stimmung.

«Es geht schneller, wenn ich’s dir sage», begann Josh ohne Umschweife. In seiner Stimme lag ein scharfer, knöcherner Unterton, gedämpft durch ein schwaches Surren im Hintergrund, wie von einer schleudernden Waschmaschine. «Ich bin bei den Tanten. Ich kann nicht in die Höhle kommen. Wenn es etwas Wichtiges zu sagen gibt, sag’s mir jetzt, bevor sie wiederkommen.»

Ryan versuchte Josh zu sagen, was er Chelle erzählt hatte, aber schnell, damit Josh nicht ungeduldig wurde.

«Die Geschichte wäre noch besser, wenn eins der Augen aus der Höhle fallen und an einem Stück Schnur hängen würde», sagte Josh gänzlich unbeeindruckt. «Mist, die Tanten sind wieder da.»

Ryan merkte plötzlich, dass es nicht Joshs Launenhaftigkeit war, die ihn unruhig machte. Etwas störte ihn, irgendetwas; es war wie das sanfte Klopfen von Fingerspitzen auf seinem Nacken. Es dauerte eine ganze Weile, bis er erkannte, dass das vertraute Pick-pick-pick der Glühbirne sich beschleunigte.

«Ich muss los. Wenn du Angst vor deinem eigenen Gesicht hast, halte dich von Spiegeln fern.»

«Josh …»

Pick.

Pick.

Pick.

Pick. Pick. Pick. Pick-pick-pick-pickpickpickpickpickpick

Als Josh auflegte, flammte der Glühfaden, der mit jedem leisen Klicken leicht geflackert hatte, blendend weiß auf. Eine kleine Weile leuchtete der Draht noch nach, wie ein winziges rotes Glühwürmchen in der Dunkelheit. Dann erstarb er.

Wunsch Traum Fluch

Подняться наверх