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Tag 3 - Erfahrungen

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Es war offenbar eine unangenehme Nebenerscheinung meiner Fähigkeit, dass ich im Schlaf offen für alle starken Gedanken und Emotionen war. In dieser Nacht waren wieder zwei Menschen im Krankenhaus gestorben, einer davon unter großen Schmerzen. Es war ein Kind auf die Welt gekommen und ich wusste nun, welche Schmerzen Frauen unter Umständen bei einer Geburt erleiden mussten. Der Oberarzt hatte eine weitere Nachtschwester beglückt und ich hätte ihr sagen können, dass er sich schon vor einiger Zeit einen Tripper eingefangen hatte und davon wusste.

Kurz bevor ich aufwachte, war ein kleiner Junge - gerade mal 6 Jahre alt - an den Verletzungen eines Unfalles gestorben und er hatte bis zuletzt nicht begriffen, was da eigentlich mit ihm geschah. Aber die Angst, die er zuletzt ohne den Beistand seiner Eltern verspürt hatte, ließ mich fassungslos zurück und ich erlitt einen Weinkrampf, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.

Mein eigenes Leid oder Unglück hatte mich noch nie so traurig gemacht, wie ich es in diesem Moment war.

Zum ersten Mal fragte ich mich kurz, ob meine Fähigkeit nur Segen oder auch Fluch war.

***

Bereits am zweiten Tag meines Krankenhausaufenthaltes hatte ich morgens kurz im Büro angerufen und mich krankgemeldet - ohne Angaben von Gründen oder den Unfall zu erwähnen. Am dritten Tag, also nach der zweiten Horrornacht, wurde ich glücklicherweise entlassen. Man hatte mir noch eine drei weitere Tage andauernde Krankschreibung und die Auflage mitgegeben, mich bei stärker werdenden Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen oder einer Beeinträchtigung des Sehvermögens unmittelbar zu melden.

Ich war froh, diesem Ort des Leides und der Schmerzen zu entkommen und freute mich auf mein ruhiges Zuhause.

Als ich am späten Nachmittag entlassen wurde, trat eine gewisse Nachtschwester gerade ihren Dienst an. Ich erkannte sie sofort, da sie an kaum etwas anderes dachte als den Oberarzt, und sie hatte bereits Phantasien für die kommende Nacht.

Also entschloss ich mich, getreu dem Pfadfinder-Motto »Jeden Tag eine gute Tat«, ihr ein wenig behilflich zu sein.

»Schwester Edelgard, auf ein Wort bitte«, begann ich und bat sie ein wenig abseits, wo uns niemand hören konnte. »Ich will Ihnen ja nicht den Spaß verderben, aber vielleicht sollten Sie wissen, dass Ihr Oberarzt an einer peinlichen Geschlechtskrankheit leidet, und vielleicht sollten Sie ihn besser meiden und sich mal untersuchen lassen.«

In ihren Gedanken machte sich im raschen Wechsel ein Gemisch aus Unglaube, Entsetzen, Misstrauen, Wut und Angst breit. Ich merkte, dass ich es nicht bei dieser Andeutung lassen konnte.

»Ist nur ein guter Rat. Ich habe da so was gehört, wissen Sie?« Dabei schaute ich sie verschwörerisch an und beeilte mich danach zu gehen, bevor sie Fragen stellen konnte. Ich wusste, sie hatte eine Menge.

In meinem Appartement angekommen - ich hatte zur Sicherheit ein Taxi genommen - befand ich mich in himmlischer Ruhe und vertrauter Umgebung. Das gab mir das sichere Gefühl, hier wieder zu mir zu kommen und Pläne schmieden zu können.

Als erstes musste ich aber die unangenehme Pflicht hinter mich bringen und meinen Arbeitgeber informieren. Also rief ich in der Redaktion an und verlangte den Chefredakteur.

Raschke nahm nach dem dritten Klingeln ab.

»Ja, was ist?«

Ich meldete mich und teilte ihm mit, dass ich noch für drei Tage krankgeschrieben sei. »Was haben Sie denn?«, fragte er mit einer gehörigen Portion Misstrauen. Das ging ihn zwar Überhauptnichts an, aber dennoch antwortete ich ihm.

»Ich hatte einen Unfall und habe eine leichte Kopfverletzung davongetragen.«

»Sie sind einfach nur blöd, Sie hirnloser Idiot. Na wenigstens ist kein wichtiges Organ verletzt. Was meinen Sie, was hier los ist? Sogar SIE fehlen hier bei der Arbeit!«

Ich leistete mir den Luxus, einfach wortlos die Verbindung zu trennen. Selten waren mir Raschkes Tiraden gleichgültiger gewesen als an diesem Tag. Aber es gab noch einen weiteren Grund, warum ich kein langes Gespräch führen wollte: ich hatte keinen einzigen Gedanken von ihm wahrnehmen können.

Einen kurzen Moment beschlich mich die Angst, die Fähigkeit wäre schon wieder verschwunden. So plötzlich und unerwartet, wie sie gekommen war. Die Angst verwandelte sich in Panik und ich wurde von Minute zu Minute unruhiger. Ich musste mir Gewissheit verschaffen.

Also machte ich mich kurzerhand auf den Weg, verließ die Wohnung und begab mich drei Stockwerke tiefer zu Maffay, unserem Hausmeister.

Maffay war kein Typ, den man gerne besuchte. Anfang sechzig, griesgrämig, groß und behaart wie ein Bär. Lediglich auf dem Kopf ließ sein Haarwuchs zu wünschen übrig, was er aber durch das ständige Tragen einer Schlägermütze verdeckte. Sein dichter Vollbart reichte bis auf die Brust und war sowohl von silbernen Fäden als auch Speiseresten zu gleichen Teilen durchsetzt. Ich klingelte und hörte kurz darauf die schweren, tapsigen Schritte sich der Wohnungstür nähern.

»Was?«, blaffte er mich an, nachdem er die Tür aufgerissen hatte. »O Gott, schon wieder der Typ, der nicht mal ne Glühbirne allein reingedreht bekommt!« Gleichzeitig sah ich vor meinem inneren Auge, wie ich auf einem Stuhl stand, versuchte, eine Birne in die Lampenfassung zu drehen und auf einmal wie in einem Zeichentrickfilm zu glühen und zu zappeln begann und dann zu einem Häufchen Asche wurde.

Dieses Arschloch! Das also wünschte er sich für mich. Gleichzeitig war ich aber so erleichtert, dass meine Fähigkeit noch da war, dass ich ihn glücklich anstrahlte.

»Hallo Herr Maffay, ich wollte nur mal vorbeischauen und sagen, wie zufrieden ich mit Ihrer Arbeit bin. Schönen Tag noch.«

Der Gedanke »Der hat sie ja wohl nicht mehr alle auf der Latte. Ob der besoffen war?« verfolgte mich noch bis zum nächsten Treppenabsatz, dann herrschte wieder Stille.

Was hatte ich gelernt? Offensichtlich war die Fähigkeit räumlich begrenzt, und zwar auf Personen in meiner unmittelbaren Umgebung. Lediglich besonders starke Emotionen, wie zum Beispiel im Krankenhaus, ließen sich auch aus etwas größerer Entfernung wahrnehmen. Und das vielleicht sogar nur, wenn ich schlief. Hier gab es noch Einiges auszutesten. Aber ich hatte ja noch einige Tage Zeit, bis ich mich wieder in die Höhle des Löwen wagen musste - in die Redaktion. Ich hatte mir vorgenommen, bis zu diesem Tag mehr zu wissen und vielleicht besser mit der Fähigkeit umgehen zu können.

Kaum war ich wieder in der Wohnung, klingelte das Telefon.

»Dahlmann?«, beantwortete ich den Anruf fragend.

»Hallo Jo, ich bin’s, Lisa«, hörte ich die vertraute Stimme. Der Erklärung hätte es nicht bedurft, denn sie war die einzige, die mich Jo nannte und ihre Stimme erkannte ich natürlich sofort.

»Ich habe gehört, du hättest einen Unfall gehabt. Was ist passiert - und vor allem wie geht es dir?«

Die Besorgnis in ihrer Stimme ließ mein Herz ein paar Schläge schneller schlagen. Ich war aber froh, dass ich zunächst nur über Telefon mit ihr sprach. Solange konnte ich mir immer noch vorstellen, dass ich ihr nicht grundsätzlich egal war und sie mich vielleicht sogar mochte. Spätestens bei unserem ersten persönlichen Zusammentreffen würde ich die unter Umständen weniger schöne Wahrheit erfahren.

So aber genoss ich ihre Besorgnis und ihr Mitgefühl und schilderte ihr den Unfall mit der Straßenbahn, meine Kopfverletzung und Teile meines Krankenhausaufenthaltes. Ich vermied selbstverständlich jeden Hinweis darauf, dass sich bei mir etwas verändert hatte. Auch von dem Telefonat mit Raschke und seiner Bemerkung erzählte ich - und dass ich das Gespräch wortlos unterbrochen hatte.

»Gut so«, lobte sie mich mit einem Ton der Befriedigung, »ich bin stolz auf dich.«

Das tat gut!

Vielleicht war es wirklich an der Zeit, etwas selbstbewusster aufzutreten. Die Zeit des Duckmäusertums war vorbei.

Wir wechselten noch ein paar Worte über die Arbeit, sie fragte, ob sie irgendetwas für mich tun könne - was ich dankbar verneinte - und wir verabschiedeten uns.

Zufrieden mit dem Verlauf des bisherigen Tages machte ich mir ein paar belegte Brote, schaltete den Fernseher ein und ließ mich berieseln. Ich bekam nicht viel von dem TV-Programm mit, denn gedanklich zog ich noch einmal ein Resümee meiner bisherigen Erkenntnisse.

Ich hatte die Abhängigkeit von Entfernung entdeckt, wusste aber noch nicht genau, wie weit es ging und wovon das abhing. Was mir im Moment noch Sorgen machte, war die Horror-Erfahrung im Aufenthaltsraum der Station im Krankenhaus . Ich konnte nicht ewig die Ansammlung mehrerer Menschen meiden. Die Straßenbahn, der Supermarkt, beim Arzt im Wartezimmer und letztendlich auch das Büro, in dem zu manchen Zeiten bis zu zehn Leuten gleichzeitig arbeiteten.

Als ich die Brote gegessen hatte, merkte ich wie müde ich war. Ich ging zu Bett und hoffte auf die erste ruhige Nacht seit drei Tagen.

Gedankenstürme

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