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Tag 2 - im Krankenhaus
ОглавлениеSo einen Scheiß hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht geträumt. Ich wachte schlagartig auf und versuchte, Ordnung in das totale Durcheinander zu bringen, was mir im Traum durch den Kopf gegeistert war.
Unglaublich, wie man so ein wirres Zeug träumen konnte, wo doch angeblich Träume die Verarbeitung von aktuellen Tageserlebnissen sein sollen.
Und was geht in meinem Kopf vor? Ich war an Krebs gestorben, hatte Zwillinge auf die Welt gebracht, Sex mit dem Oberarzt gehabt und ein Bein amputiert bekommen!
Himmel - was würde ein Psychologe zu einem solchen Traum sagen? War das eine Folge meiner Kopfverletzung?
Ich hatte nicht allzu viel Zeit, darüber nachzudenken, denn die Tür zu meinem Zimmer ging auf und ein Arzt mit Gefolgte trat ein - und alle redeten gleichzeitig durcheinander.
»Woher soll ich das Geld für die nächste Rate bekommen?«
»Die Kleine war ja so scharf, unglaublich!«
»Hätten wir doch nur ein Kondom benutzt. Hoffentlich habe ich mir nichts geholt!«
»Scheiße, ich hab schon wieder mein Geld zu Hause vergessen. Ob mir Heinz was für die Kantine leiht?«
Was mich aber in einen Zustand des Entsetzens versetzte, war der Umstand, dass noch keiner der Eingetretenen den Mund aufgemacht hatte.
Der Arzt trat mit einer Schreibkladde an mein Bett heran, warf einen Blick darauf und sprach mich an: »Guten Morgen, Herr ... Dahlmann. Nun ... wie fühlen Sie sich denn heute morgen? / vielleicht kann ich Silvia ja in der Mittagspause nochmal treffen.«
Ich sah ihn mit offenen Mund an, war total verwirrt und meine Gedanken rasten. Endlich bemerkte ich, dass er eine Antwort auf seine Frage erwartete - und wenn es nur war, weil ich hörte:
»Ach du Scheiße, hoffentlich hat sein Sprachzentrum keinen abgekriegt. Diese blöde dicke Kuh hätte ihn gestern doch noch zum CT bringen sollen. Wenn der uns verklagt, o Gott.«
»Kopfschmerzen ...«, stammelte ich, »sonst ganz gut. Und keine Angst, ich verklag Sie schon nicht.«
Das hätte ich wohl besser nicht gesagt, denn die Reaktion war durchschlagend.
Der Doktor sah mich erschrocken an, dann fuhr er herum und fuhr seine Begleiter an: »Wer hat hier was von Verklagen gesagt?« Zu mir gewandt sagte er: »Um Gottes willen Herr Dahlmann, es geht Ihnen doch schon wieder gut, oder? / Hab ich etwa laut gedacht oder was?«
Er wirkte fahrig, nervös, panisch und durcheinander. Ich hatte den Halbgott in Weiß so aus der Fassung gebracht, dass er nur noch in der Lage war, ein paar Gemeinplätze zu stammeln und dann mit Gefolge schleunigst den Raum verließ.
Was war hier los? Ich hatte eine Vermutung, einen Verdacht, aber war mir nicht sicher, ob ich mir trauen konnte. Lag ich vielleicht im Koma und halluzinierte munter vor mich hin? War mein Albtraum von letzter Nacht noch gar nicht zu Ende? Wie konnte ich das überprüfen?
Ich entschloss mich, nach einer Schwester zu klingeln. Es dauerte keine zwei Minuten, bis eine sichtlich genervte Schwester auftauchte. »Ja, was ist denn? Brauchen Sie etwas?«
»Entschuldigung Schwester, aber ... wie geht es mir?«
»Was ist denn das für eine bescheuerte Frage? / Na, ich denke ganz gut! Ihre Werte sind in Ordnung, also ... ich meine ... wie fühlen Sie sich denn? / wer soll denn besser wissen, wie es dir geht als du selbst, du Blödmann!«
Ich muss sie selten dumm angeschaut haben, ohne etwas zu sagen, denn das Nächste was ich hörte war: »Ist Ihnen nicht gut? Sie schauen so seltsam. / der muss wohl doch einen Hirnschaden abbekommen haben!«
Ich war der Meinung, genug erfahren zu haben und grinste sie an. Es muss wohl ziemlich dümmlich ausgesehen haben, denn ich hörte, ohne dass sie den Mund bewegte: »Ach du lieber Himmel, der arme Kerl, schon wieder ein Schwachsinniger mehr.«
Mein Grinsen verging und ich beeilte mich zu sagen: »Sie haben Recht. Ich denke, es geht mir schon wieder ganz gut. Das bisschen Kopfschmerzen ist wohl normal.«
Sie nickte nur noch kurz und verließ das Zimmer.
Alleine im Zimmer ging ich meinen Überlegungen nach. Ich hatte keine Ahnung, was und wie es passiert war, aber offensichtlich hing es mit dem Unfall zusammen. In einem Punkt war ich mir aber sicher: mein größter Wunsch seit meiner Kindheit war in Erfüllung gegangen! Ich konnte die Gedanken fremder Menschen hören!
Ich glaube, das Glücksgefühl in diesem Moment hätte nicht größer sein können, wenn ich gerade zehn Millionen Euro im Lotto gewonnen hätte.
* * *
Den restlichen Tag verbrachte ich damit, Erfahrungen mit dieser phantastischen Fähigkeit zu sammeln. Der Begriff »Gedankenlesen« ist völliger Quatsch. Es ist schwer zu beschreiben, aber es müsste eher »Gedanken hören und sehen« heißen. Zum Anfang fiel es schwer, das gesprochene Wort von dem »gehörten Gedanken« zu unterscheiden.
Ein Mann ging zum Beispiel im Korridor vor den Krankenzimmern hinter mir und ich hörte »Mach Platz, du Spast!«. Unwillkürlich sprang ich zur Seite, um Platz zu machen. Das veranlasste den Kerl, überrascht stehen zu bleiben, was mich vermuten ließ, dass er es nur gedacht und nicht gesagt hatte.
Wie ich aber schon erwähnt habe, müsste es auch »Gedanken sehen« heißen, denn die Worte waren immer mit Bildern verbunden, die ich gleichzeitig zu den Gedanken »sah«. Das machte es im Laufe der Zeit einfacher, Gedanken von gesprochenen Worten zu unterscheiden.
Wesentlich problematischer gestaltete es sich, wenn ich in einem Raum mit mehreren Personen gleichzeitig war. Ich hatte mich versuchsweise in den Aufenthaltsraum der Station begeben, da dort mit Sicherheit einige Menschen anzutreffen waren und ich meine Fähigkeiten unbedingt ausprobieren wollte.
Ich hielt es genau drei Minuten dort aus, dann verließ ich fluchtartig den Raum.
Ganz abgesehen davon, dass ich tierische Kopfschmerzen bekam, hatte ich Dinge gehört und gesehen, die ich lieber nicht erfahren hätte. Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, es Ihnen zu beschreiben, aber ich will es versuchen:
Stellen Sie sich vor, Sie kommen in einen Raum, in dem sich fünf Menschen lautstark unterhalten. Aber mit dem Unterschied, dass alle gleichzeitig reden, und was noch viel schlimmer ist, dass es bei Jedem um ein anderes Thema geht. Unterhalten sich zwei Leute, haben ihre Gedanken in der Regel mit dem Gespräch zu tun. Wenn eine Anzahl Leute sich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigten, dann geht es um die gleiche Anzahl unterschiedlicher Themen. Darunter sind nicht nur angenehme Gedanken, sondern auch extrem unangenehme.
Ich hatte noch nicht einmal platzgenommen, als mich die Worte und Bilder überfielen:
»Ich hau der blöden Kuh die Fresse platt, sowie ich hier rauskomme!«
»Woher kriege ich die Tabletten? Ob es wehtut, sich zu vergiften?«
»Warum hab ich nicht aufgepasst? Ich hätte den Ball auf die Straße rollen sehen müssen! Das arme Kind.«
»Wenn der Typ nachher zum Röntgen muss, kann ich mir endlich mal wieder in Ruhe einen runterholen.«
All diese Gedanken durcheinander waren alleine schon schlimm genug, aber als viel schlimmer erwiesen die damit verbundenen Bilder:
- eine Faust, die in das Gesicht einer schwarzhaarigen Frau einschlug, Blut, das aus der Nase der Frau schoss,
- eine Hand voller weißer Tabletten und die andere Hand mit einer Flasche Wodka, dann ein sich in unsäglichen Schmerzen windender Frauenkörper,
- ein Kind, das über eine Motorhaube eines Fahrzeuges flog und mit dem Kopf auf der Frontscheibe einschlug,
- unzählige nackter Frauen mit riesigen Brüsten, die einen mickrigen Mann gierig und sabbernd anhimmelten.
Ich stürzte aus dem Raum und musste auf dem Gang mehrmals tief durchatmen, um den Drang, mich zu übergeben, abzuwenden. Als es mir etwas besser ging, begab ich mich wieder in die Ruhe meines Zimmers - nur um dort festzustellen, dass ich nicht mehr alleine dort wohnte.
Ein weiteres Bett stand in dem Raum und darin lag ein Mann mit einem eingegipsten Bein, das durch ein Gestell am Bettfuß mit Schnüren hochgehalten wurde. Offensichtlich war er in meiner Abwesenheit mitsamt dem Bett hereingefahren worden.
»Oh«, entfuhr es mir, »ich hatte gar nicht gewusst, dass ich Gesellschaft bekomme.«
»Hallo«, war die knappe Antwort, begleitet von einem »Was ist das denn für eine Wurst?«
Der Kerl war mir natürlich direkt sympathisch. Na gut, man kann sich im Krankenhaus seine Bettnachbarn nicht aussuchen. Aber ich wollte die Flinte nicht gleich ins Korn werfen, manche Menschen müssen erst mit einem warm werden.
»Unfall?«, fragte ich mit Blick auf sein eingegipstes Bein.
»Arbeitsunfall!«, war die knappe Antwort. Keine sehr geist- oder wortreiche Unterhaltung - wären da nicht noch die Bilder gewesen, die sich ungefragt in meinen Kopf schlichen:
Eine nackte Blondine auf einem Bett, schnell zusammengeraffte Kleidungsstücke und ein Sprung aus einem Fenster im ersten Stock. Der stechende Schmerz bei der Landung mit einem Bein auf einem Stein im Garten.
Unwillkürlich musste ich grinsen. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen:
»Na ja, Hauptsache Ihre Frau glaubt es!«
Die Reaktion war phänomenal, obwohl ich den Gedanken kaum folgen konnte. Während er mich mit offenem Mund ansah, gingen in rascher Folge dutzende von Fragen durch seinen Kopf:
»Wer ist das? Weiß er was? Woher kann er das wissen? Kennt er mich? Hat Irene ihn beauftragt? Weiß Irene von Karin? Ist er ein Privatdetektiv?« - und weitere Abwandlungen der gleichen Grundfragen in verschiedenen Ausführungen.
Ich wusste mittlerweile, dass er Günther Alsmann hieß, ging an sein Bett und streckte ihm die rechte Hand hin.
»Ich denke, wir werden uns gut verstehen, Günther. Ich bin übrigens Joachim.«
In einem Anflug von Übermut setzte ich noch dazu: »Meine Freunde dürfen mich Joda nennen - wie Meister Yoda aus »Krieg der Sterne«!«
Heureka! Er kannte die »Krieg der Sterne« - Filme und die Yedi-Ritter, und als er mir zaghaft seine Rechte entgegenstreckte, zitterte sie merklich.
Das war das erste Mal in meinem ganzen Leben, dass jemand richtig Angst vor mir hatte - eine tiefe kreatürliche Angst, wie sie vielleicht eine kleine Feldmaus vor einer riesigen Katze verspüren musste.
Und ich? Ich hatte den Spaß meines Lebens und ein Gefühl der Macht durchströmte mich. Was für ein tolles Gefühl, Macht über jemanden zu haben. Ich legte mich auf mein Bett und schloss zufrieden die Augen.
Günther fackelte nicht lange und klingelte nach der Schwester.
Stotternd und mit kurzen, angsterfüllten Blicken in meine Richtung schilderte er ihr seine Entscheidung: Er habe es sich noch mal überlegt, das mit dem Einzelzimmer, erklärte er ihr. Er schnarche doch so stark und das wolle er niemandem zumuten und Scheiß auf die paar Kröten, und ob man nicht doch noch was machen könne und er würde sich auch erkenntlich zeigen und es sei ja für einen guten Zweck und - an dieser Stelle musste ich mich beherrschen, um nicht laut loszulachen - Meister Yoda bräuchte doch sicher seine Ruhe und überhaupt!
Die Schwester sah ihn an wie einen Wahnsinnigen, aber fünfzehn Minuten später wurde sein Bett aus dem Zimmer gefahren.
Ich hatte endlich wieder meine Ruhe.
Nun konnte ich mir Gedanken machen, was ich mit dieser neu erworbenen phantastischen Fähigkeit würde anfangen können. Hunderte von Möglichkeiten gingen mir durch den Kopf: legale, halblegale, illegale, ehrenhafte, verwerfliche, unanständige, einfach alles Mögliche.
Ich fiel in einen unruhigen Schlaf - und erwachte am nächsten Morgen mit einem Schrei und schweißgebadet.