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Tag 1: der Unfall

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Der Tag hatte nicht unbedingt schlecht angefangen. Als ich an diesem Montag um 08:00 Uhr im zwölften Stock des Bürohochhauses ankam, wo die Redaktionsräume des Frankfurter Abendkuriers beheimatet sind, gab es noch nichts Ungewöhnliches zu vermelden.

Ich zählte schon immer mit zu den Ersten, die im Büro erschienen, die meisten kamen eher gegen 09:00 Uhr - manche auch noch wesentlich später. Lediglich meine Kollegin Lisa Schwarz war bereits an ihrem Schreibtisch und eifrig dabei, ihre Tastatur zu bearbeiten.

Unsere Redaktion ist nach dem Vorbild amerikanischer Großraumbüros aufgeteilt in kleine, würfelförmige Arbeitsplätze. Ein Kasten von 1,80 mal 1,80 mit einem Schreibtisch, dem obligatorischen Computer, einem Drehstuhl und einer kleinen Ablage an einer Seite, auf der man Papiere, Unterlagen jedweder Art, Bücher und Mappen ablegen konnte.

Die drei Wände - die Stirnwand mit dem Schreibtisch und zwei Seitenwände - waren nur 1,60 hoch, so dass man im Sitzen seine volle Konzentration auf den Computer richten konnte. Aber es war auch möglich, aufzustehen und über die Wände zu den anderen Arbeitsplätzen zu sehen. So hatte ich schon beim Hereinkommen gesehen, dass Lisa sich an ihrem Arbeitsplatz befand. Mein erster Gang führte mich jedoch wie jeden Morgen zum großen Kaffeeautomaten in der Ecke des Büros, wo ich mich mit einem heißen Pott frisch gebrühten Kaffees versorgte.

Ich musste noch einen Artikel überarbeiten, über den ich mit unserem Chefredakteur am Ende der vergangenen Woche heftigst gestritten hatte. Ich schreibe grundsätzlich am liebsten Artikel über das politische Geschehen - nicht die reißerischen Geschichten über »Hund frisst Herrchen« oder »Dreijähriger stürzt von Balkon im zehnten Stock und überlebt« oder ähnlichen Quatsch. Meine Vorliebe sind eher Beiträge, die einen etwas höheren Anspruch haben, recherchiert werden müssen und zur politischen Meinungsbildung beitragen sollen.

Grundsätzlich würde ich lieber so etwas schreiben! Die Realität hieß leider, dass ich in allen anderen Resorts, in denen jemand ausfällt oder Unterstützung braucht, einspringen musste. So hatte ich für den erkrankten Kollegen vom Sportteil einspringen und einen Artikel über unseren glorreichen Fußballverein Eintracht Frankfurt e.V. schreiben sollen. Im Speziellen ging es um die Finanzlage und den Vorstand, weniger um die sportlichen Erfolge oder den Mangel an solchen.

Leider vertritt unser Chefredakteur Ansichten, die etwas von den Meinen abweichen, und war deshalb mit meinem Artikel mehr als unzufrieden.

Er hatte mich in den Senkel gestellt und geäußert, dass man dieses »linksliberale Gequatsche« so nicht drucken könnte - es grenze an kommunistisches Gedankengut, interessiere so »keine Sau« und würde unsere Leser nur verärgern.

Habe ich schon erwähnt, dass ich Raschke hasse?

Wie gesagt: Ich hasse ihn!

Trotzdem musste ich mich nun an die Überarbeitung des Artikels machen, der heute noch in die Abendausgabe sollte.

Die Arbeit ging halbwegs voran und ich fühlte mich so lange gut, bis Raschke gegen Mittag auftauchte und mich unmissverständlich aufforderte, im die aktuelle Version zuzumailen.

Zehn Minuten später wurde ich in sein Büro zitiert. Ein geräumiges Einzelbüro mit einer über eine Wand reichenden Glasfront, durch welche er unser Großraumbüro ständig im Auge behalten konnte.

»Was haben Sie sich bei diesem Geschmiere gedacht?«, keifte er mich an und warf einen Ausdruck meines Artikels in meine Richtung. Nachdem ich das Papier vom Boden aufgeklaubt hatte, musste ich feststellen, dass aus ehemals »schwarz auf weiß« nun eher »rot über schwarz auf weiß« geworden war.

Streichungen, Kommentare, neuer Text und noch mehr Streichungen.

»Wenn ich Ihre Arbeit machen muss, dann kann ich Sie auch gleich feuern, oder?«

Ich dachte, er erwarte keine Antwort und gab demzufolge auch keine.

»Ist das alles was Sie dazu zu sagen haben? Nichts?«, keifte er weiter. »Also gut, schreiben Sie es nach meinen Vorgaben nochmal und mailen Sie es mir dann zu, verstanden?«

Ich nickte und verließ fluchtartig und ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben das Büro.

Leise vor mich hin fluchend setzte ich mich an meinen Arbeitsplatz und begann mit der Überarbeitung. Ich konnte es nicht fassen, mit welcher Selbstverachtung ich Raschkes Anmerkungen und Ergänzungen in einem derart primitiven Schreibstil einfach umsetzte, nur um meine Ruhe zu haben.

Irgendwann tauchte Lisas Kopf über der Seitenwand meines Arbeitswürfels auf und sie fragte mich besorgt: »Probleme?«

Ohne aufzublicken, erwiderte ich lediglich: »Raschke!«

Ich konnte ihrer Stimme das Mitleid anhören, als sie versuchte, mich ein wenig aufzuheitern. »Nimm es dir nicht zu Herzen. Wir wissen doch alle, dass er ein Schwachkopf ist. Irgendwann wird es auch mal wieder besser.«

»Ja sicher. Danke, dass du mir Mut machen willst, aber manchmal zweifle ich daran, dass ich das noch lange durchhalte.«

»Aber um Gottes willen, was sollen wir den ohne dich hier machen?«, wandte sie besorgt ein.

Ich blickte dankbar zu ihr hoch und lächelte sie an.

»Danke dir, ich beruhige mich schon wieder. Ich habe nur gerade eine solche Wut im Bauch, dass ich mir ein bisschen Luft machen musste.«

Sie nickte verstehend und ging wieder an ihren Arbeitsplatz zurück.

Irgendwann schloss ich die Bearbeitung ab und mailte die endgültige Version an Raschke. Da ich in der folgenden Stunde nichts mehr von ihm hörte, nahm ich an, dass er diese Version nun an die Drucklegung weitergeleitet hatte.

Es muss so gegen 17:00 Uhr gewesen sein, als ich mich entschloss, nach Hause zu gehen. Ich besitze kein Auto und mit der Straßenbahn sind es nur fünf Stationen bis zu meinem Appartement.

Habe ich schon erwähnt, dass ich das Gegenteil eines Glückskindes bin? Nun - wie meistens war mir die Straßenbahn vor der Nase weggefahren und ich musste zehn Minuten auf die nächste Bahn warten. Das wäre grundsätzlich nicht schlimm gewesen, wenn es nicht angefangen hätte, in Strömen zu regnen und ich hatte natürlich keinen Schirm dabei. Als die Bahn endlich kam und ich durch den sintflutartigen Niederschlag vom Wartehäuschen in die Bahn stürzte, war ich klitschnass.

Ich hatte ausnahmsweise Mal Glück und bekam einen Platz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Ich bevorzugte diese Plätze, weil sie angeblich sicherer sein sollen. Wenn die Straßenbahn auf ein Hindernis führe, würde ich mit Rücken und Kopf gegen die Lehne geschleudert und die Gefahr von Verletzungen war wesentlich geringer.

Mir gegenüber saß ein älterer Herr in abgetragener Kleidung, der mich seltsam ansah und studierte. Vermutlich hatte er noch nie jemanden gesehen, der so nass in einer Straßenbahn saß.

Mir gingen gerade andere Gedanken durch den Kopf. Zum Beispiel, wie Raschke mich abgekanzelt hatte, wie ich mal wieder das getan hatte, was er von mir verlangte, warum ich wohl nicht in der Lage war, ihm die Stirn zu bieten und vieles mehr. Der gesamte Tag spulte sich vor meinem geistigen Auge nochmals ab, und ich war nicht begeistert über seinen Verlauf.

Ich schreckte auf, als der alte Mann mir gegenüber ein verächtliches »Weichei!« vor sich hin knurrte. Ich war versucht, ihn zur Rede zu stellen, ob er etwa mich meinte. Natürlich habe ich es nicht getan.

Außerdem wurde in diesem Augenblick meine Aufmerksamkeit auf etwas gezogen, das außerhalb der Straßenbahn passierte. Über das Prasseln des Regens hinweg war ein infernalisches Quietschen zu hören, eine Hupe ertönte und dann krachte es. Bevor ich oder die anderen Passagiere herausfinden konnten, was da passiert war, fuhr die Straßenbahn in die zwei Fahrzeuge hinein, die genau auf den Schienen ineinander gekracht waren.

Es bewahrheitete sich scheinbar, dass mein Platz zu den sicheren gehörte, denn ich wurde mit Rücken und Kopf gegen die Rückenlehne geschleudert. Was die Begründer der These vom sicheren Platz offensichtlich vergessen hatten, war, dass mir auch jemand gegenübersitzen könnte. Genau das war aber der Fall und der alte Mann hatte nichts vor sich, was seinen Körper in irgendeiner Weise hätte bremsen können. Bevor er auch nur einen überraschten Laut von sich geben konnte, war er auf dem Flugweg in meine Richtung. Wie in Zeitlupe sah ich seinen ungläubigen Gesichtsausdruck, die offenen Augen und einen immer größer werdenden Kopf auf mein Gesicht zukommen. Ich könnte heute nicht mehr mit Sicherheit behaupten, dass ich den Einschlag gehört oder bemerkt hätte, es wurde einfach schlagartig dunkel.

Irgendwann wurde es wieder hell und es war ein unangenehmes hell. Über mir leuchtete kaltes Neonlicht, als ich zögernd langsam die Augen öffnete. Überdies bedrängte mich eine unangenehme Stimme, die mich vermutlich aus dem Schlaf geweckt hatte: »Hallo, hallo, hören Sie mich? Können sie mich verstehen?«

Was soll ich denn verstehen, wenn du nichts anderes als »hallo, hallo« sagst?, fragte ich mich im Stillen. Mein Kopf dröhnte wie eine Glocke und ich hörte die Stimme wie durch Watte. Nun sah ich auch das Gesicht einer hässlichen, dicken Schwester direkt vor meinen Augen.

»Aua, mein Kopf!«, stöhnte ich mühsam. Die Reaktion überraschte mich ein wenig.

»Du Weichei!« und »Das wird schon wieder, Herr Dahlmann. Sie haben nur eine kleine Platzwunde an der Stirn und eventuell eine leichte Gehirnerschütterung.«

»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte ich mühsam in dem Versuch, meine fünf Sinne wieder zusammenzubekommen.

»Woher wohl, du Hirni!« und gleich darauf »Wir haben Ihren Ausweis in ihrer Jacke gefunden. Wissen Sie noch, was passiert ist?«

Ihre sehr direkte Art verwirrte mich zunehmend. Auch der wechselnde Gebrauch von »du« und »sie« machte es nicht einfacher. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.

»Ach ja ... die Straßenbahn ... der Unfall ... mein Kopf.«

»Genau, Sie hatten einen Unfall.«

Ich erinnerte mich an den Mann, der auf mich zugeflogen kam. »Wissen Sie, was mit dem Mann passiert ist, der auf mich gestürzt ist?«, fragte ich besorgt. Vielleicht hatte der Mann ja nicht so einen robusten Schädel wie ich.

»Woher soll ich das denn wissen, du Depp.« und »Nein, ich habe keine Ahnung. Aber wenn er verletzt ist, wird er vermutlich hier irgendwo behandelt. Meines Wissens gab es aber bei dem Unfall weder Tote noch Schwerverletzte / obwohl du ruhig ein wenig länger hättest bewusstlos bleiben können. Wegen dir verpasse ich noch mein Schichtende!«

Ich war nun nicht nur verunsichert, sondern auch langsam ziemlich wütend. Es war wahrscheinlich der bohrende Kopfschmerz, der mich veranlasste, mich gehen zu lassen, wie es sonst nicht meine Art war: »Na dann geh doch heim, du blöde Kuh!«

Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen fassungslos an, drehte sich auf dem Absatz um und verließ fluchtartig den Raum.

So wörtlich wollte ich eigentlich nicht genommen werden, aber egal, Hauptsache ich hatte endlich meine Ruhe. Ich fiel unmittelbar nach dieser merkwürdigen Episode in einen unruhigen Schlaf.

Gedankenstürme

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