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Wie ich wurde, wer ich bin

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In der Schule war es übrigens ebenfalls mein Freund Erich gewesen, der für mich einen Spitznamen geprägt hatte. Man schrieb das Jahr 1983 und gerade war der dritte Star Wars - Film in die Kinos gekommen. Die meisten von uns hatten es geschafft, sich den Film trotz der Altersbegrenzung anzusehen, indem sie sich durch den Notausgang ins Kino schlichen, oder sie hatten ihn bei Patrick zu Hause gesehen. Sein Vater war Firmenchef von irgendetwas und stinkereich. Die Familie besaß zu Hause eines dieser neuen Videogeräte, einen Betamax-Rekorder und auch Abspielgerät. Da Patricks Vater selbst ein Fan der Filme war, hatte er die Kassetten der ersten zwei Filme und wir konnten sie uns heimlich ansehen.

Der Preis war allerdings, dass wir Patricks Hausaufgaben machen durften - jeder den Bereich, in dem er am besten war.

Also kannten wir die Filme und selbstverständlich die Hauptpersonen wie Luke Skywalker, Prinzessin Lea, aber vor allem den Meister Yoda. Und da sich Yoda sprach, als würde es mit einem J am Anfang geschrieben und mein Name - Joachim Dahlmann - mit Jo und Da anfing, war es vorprogrammiert. So dauerte es nicht lange, bis Erich auf den Dreh kam, mich Joda zu rufen. Auch hier hätte ich zu gerne gewusst, wie er es meinte.

War er auf den Spitznamen gekommen, weil er meinte, ich habe die gleichen überragenden geistigen Fähigkeiten wie Meister Yoda? Ich hatte immer den Verdacht, dass er mich eher als den hässlichen grünen Zwerg mit den zu großen Ohren sah. Das leugnete er selbstverständlich immer, sonst hätten wir keine Kumpels bleiben können, aber so ganz sicher war ich mir nie. Wie gerne hätte ich damals seine Gedanken gelesen.

In der Pubertät hatte ich so manchen Angriff auf das weibliche Geschlecht geflogen - oder zumindest wenigsten versucht, mich mit der einen oder anderen Mitschülerin zu verabreden. Zu gerne hätte ich im Voraus gewusst, was sie über mich dachten und es nicht erst durch ein abfälliges »Träum weiter, du Hirni!« erfahren.

Aber das gab mir immerhin Zeit, mich mehr auf meine schulische Karriere zu konzentrieren, während die bei den Mädels Erfolgreichen eine Fünf nach der anderen schrieben.

Damals war ich noch unsicher, was mir lieber gewesen wäre: Erfolg bei den Mädels oder Erfolg in der Schule?

Aufgrund meiner Unfähigkeit, frühzeitig eine Freundin abzubekommen, habe ich dann tatsächlich das Abitur geschafft.

Das Studium entwickelte sich ähnlich. Aufgrund meiner blühenden Phantasie und meiner Vorliebe für das Fach Deutsch, entschied ich mich für ein Journalistik-Studium. Das Studium lief gut, da ich nicht durch etwaige Liebschaften oder Beziehungen abgelenkt wurde. Nicht, dass es freiwillig so verlief, aber wenigstens entschädigte es mich für die vielen Stunden, die ich mit mir alleine verbringen musste.

Immer dann, wenn ein Professor eine meiner Arbeiten als »Na ja, zumindest interessant ... irgendwie« kommentierte, vermisste ich schmerzlich die Fähigkeit, hinter seine Stirn blicken zu können.

Dennoch schrieb ich einige Kurzgeschichten, arbeitete für die Uni-Zeitung und lieferte so lange meine Seminararbeiten ab, bis ich schließlich das abgeschlossene Studium der Journalistik in der Tasche hatte.

Natürlich stand fest, wo ich eine Anstellung als Journalist erhalten würde: beim SPIEGEL oder wenigstens bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Ich schrieb eine Bewerbung, erhielt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch und setzte mich in den nächsten Zug nach Hamburg. Als ich vor dem SPIEGEL-Gebäude stand und an der Außenfassade hochschaute, hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl: Hier gehörst du hin!

Ich betrat das Gebäude und ging zu dem Empfangsmenschen, der hinter einem Schreibtisch mit vielen Telefonen hervorlugte. Er sah in seiner Uniform eher wie ein ältlicher Gefängniswärter als eine Sicherheitskraft oder ein Empfangschef aus.

»Bitte?«, erkundigte er sich, als ich vor den Tisch trat.

»Mein Name ist Dahlmann und ich habe einen Termin mit Herrn Augstein!«

Dabei warf ich ihm lässig meine Einladung auf den Tisch. Er fasste das Papier mit spitzen Fingern an, als hätte ich die Krätze und er Angst, sich anzustecken. Nachdem er es vorsichtig aufgefaltet hatte, las er kurz darin - und lachte dann schallend los. Als er sich beruhigt hatte, erklärte er - immer noch ab und zu prustend: »Ich glaube nicht, dass der Chef sich mit einem wie Ihnen unterhält!« Er maß mich mit seinen Blicken von oben bis unten.

»Und außerdem steht hier, dass Sie einen Vorstellungstermin bei der Personalabteilung haben.«

Er warf mir das Papier entgegen und es gelang mir gerade noch es fangen, was allerdings zu einer starken Zerknüllung und Zerknitterung führte.

»Linker Fahrstuhl, sechster Stock, Zimmer Sechshundertzehn.«

Er widmete sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch und würdigte mich keines weiteren Blickes mehr.

Vor dem besagten Büro angekommen, klopfte ich zaghaft an und wartete, bis ein lautes »Herein« erklang. Es hatte für mich eher den Klang von »Wer stört denn jetzt schon wieder?«. Ich war durch den Empfang in der Lobby ein wenig eingeschüchtert. Trotzdem trat ich vorsichtig ein und sah mich einem Mittfünfziger im Nadelstreifenanzug gegenüber, der mich von seinem Schreibtisch aus ansah. Bei meinem Eintreten hatten sich seine Augenbrauen zusammengezogen und auf der Stirn eine steile Falte gebildet.

»Bitte?«

Mir schien, als sei das die Standardfrage beim SPIEGEL und ich konnte mich gerade noch bremsen, »Danke!« zu sagen.

»Ich habe ein Vorstellungsgespräch«, antwortete ich stattdessen und die Augenbrauen wanderten von der Mitte nach oben, zum Ausdruck grenzenlosen Erstaunens.

Er nahm den zerknitterten Zettel aus meiner Hand, bot mir KEINEN Platz an und strich das Papier auf seinem Schreibtisch glatt. Er las - unterbrach und sah mich an - las weiter - und begann schallend zu lachen. Dabei klopfte er sich auf die Schenkel und rang nach Luft.

»Mann, Sie sind gut. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt!«

Erst dann schien er meinen Blick voller Unverständnis und die ganzen Fragezeichen in meinem Gesicht zu bemerken.

Jetzt blickte er erstaunt. »Ach du lieber Gott, Sie meinen das ernst.«

Nun war es an der Zeit, beleidigt zu sein, was sich bei mir seit meiner Kindheit dadurch äußerte, dass ich die Unterlippe nach vorne schob und den Kopf senkte.

Er sah mich entgeistert an und suchte nach Worten - die er dann leider fand: »Junge ... ich bitte Sie. Hätten Sie vielleicht noch ein Foto bei der Bewerbung mitgeschickt, hätten Sie sich den Weg nach Hamburg sparen können.«

Das war wieder einer der Momente, in denen ich gerne gewusst hätte, was er bei dieser Bemerkung dachte.

Mir war völlig unklar, was es an meinem Äußeren auszusetzen gab. Kein Mensch an der Uni hatte je etwas Negatives zu meinem Erscheinungsbild gesagt.

Nun ja, wenn ich ehrlich bin, hat eigentlich nie irgendjemand viel zu mir gesagt. Meist waren es Kurz-Sätze aus einem oder maximal zwei Worten. Wie »Nein!«, »verpiss dich!«, »hau ab!«, »du nervst!« oder »Niemals!«.

Eine der längsten Ansprachen hatte ich von einem Mitstudenten bekommen, den ich gefragt hatte, ob wir mal was zusammen machen sollten: »Nicht in diesem Leben!« Immerhin vier Worte.

Was der nun gar nicht nette Herr vom SPIEGEL auszusetzen hatte, war mir nicht klar. Ich hatte die Haare entsprechend der Mode etwa schulterlang, vielleicht ein wenig dünn und strähnig, aber das lag ja nur daran, dass ich sie zuletzt vor drei Tagen gewaschen hatte. Ich trug eine ganz normale Nietenjeans, ausgelatschte Sneakers, ein T-Shirt mit fast keinen Löchern und einen schweren orangefarbenen Schal - mein Tribut an den Bhagwan und die ganze HareKrishna Truppe. Ich war also ein typisches Kind der 70er - na und?

Nach einigen - na gut, zahlreichen - Absagen fand ich dann doch noch eine Anstellung als Journalist. Das Blatt war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber immerhin. Job ist Job!

Ich arbeite heute für den Frankfurter Abendkurier. Vornehm ausgedrückt handelt es sich dabei um ein anspruchreduziertes tägliches Mitteilungsblatt im Niedrigpreissegment, also auf gut Deutsch um ein billiges Revolverblatt. Aber immerhin, ab und zu bekomme ich die Chance, einen Artikel über ein Thema zu schreiben, dass mal nichts mit Mord und Totschlag zu tun hat. Unser Blatt schreibt am liebsten über die Größen der Frankfurter Unterwelt oder Missgeschicke des täglichen Lebens, wie »Frau beim Putzen von Staubsauger erwürgt!«

Bei den Kollegen gibt es welche, mit denen habe ich wenig zu tun und andere, mit denen habe ich gar nichts zu tun.

Es gibt einige Kollegen, die ich nicht so mag. Na ja, eigentlich mag ich alle Kollegen und Kolleginnen nicht - außer einer: Lisa Schwarz

Sie ist eine der wenigen, die sich nicht bei jeder Gelegenheit über mich lustig macht, sie ist nett, sie sieht gut aus - alles in allem also auf keinen Fall eine Frau für mich. Blond, blauäugig, gute Figur und zwei Jahre jünger als ich, also 41. Lisa ist ein sehr ruhiger Mensch, manchmal traurig oder sogar melancholisch, was so gar nicht zu ihrem Aufgabengebiet passt: sie schreibt für den Gesellschaftsteil der Zeitung, also den Bereich mit Klatsch und Tratsch. Ich mag sie, unterhalte mich gerne mit ihr und himmle sie heimlich an.

Das genaue Gegenteil ist unser Chefredakteur, Thorsten Raschke. Müsste ich ihn mit wenigen Worten beschreiben, kämen mir nur die Eigenschaftsworte »bösartig«, »klein«, »dick« und »unsympathisch« in den Sinn.

Meine Mutter hat mir als Kind immer den Spruch mit auf den Weg gegeben: »Hüte dich vor kleinen Menschen!«

Das war zu einer Zeit, als sie noch dachte, ich würde mal größer werden als die einssiebzig, die ich heute leider nur bin. Dennoch hat sie sicher Recht gehabt, denn kleine Menschen - vor allem Männer - neigen zu dem sogenannten Cäsaren-Komplex. Das bedeutet, dass sie herrschsüchtig sind und ihre Körpergröße durch besonders aggressives Auftreten kompensieren.

Mein Vater hat immer irgendeinen toten König oder sowas zitiert und gesagt: »Lass dicke Männer um mich sein!« Der Grund sei angeblich, dass Dicke gemütlich und gutherzig seien. Ich vermute, der Grund für seinen Lieblingsspruch war eher, dass er selbst schon immer eine riesige Wampe vor sich herschob.

Auf jeden Fall kann man alles über unseren Herrn Chefredakteur sagen, nur nicht, dass er gemütlich oder gar gutherzig sei. Wenn er uns »Sklaven«, wie er seine Mitarbeiter gerne nennt, mit dieser schrillen, keifenden Stimme in sein Büro zitiert, dann folgt in der Regel kein erfreuliches Gespräch.

So war das auch an dem Tag gewesen, als mein Unfall passierte.

***

Meine Familie habe ich ja schon erwähnt, aber ich glaube, es wird Zeit, dass ich wenig ausführlicher auf sie eingehe. Mein Vater, Detlev Dahlmann ist pensionierter Beamter des mittleren Dienstes und hat seine Zeit bei der Stadtverwaltung Frankfurt abgeleistet - oder vielleicht besser: abgesessen?

Ich habe nichts gegen Beamte, aber mein Vater ist das Paradebeispiel für alle Klischees, die man über Beamte in der breiten Öffentlichkeit verbreitet.

Er strotzte zeit seines Lebens vor Faulheit, sowohl zu Hause als auch im Dienst. Was nicht in seiner Aufgabenbeschreibung stand, ging ihn nichts an. Wozu er nicht explizit beauftragt oder aufgefordert wurde, tat er nicht. Wenn etwas nicht zu seinem Vorteil war, existierte es für ihn nicht. Alle Vorgesetzten waren »unfähige Trottel« und alle Untergebenen - wenn es denn solche überhaupt gab - angeblich noch fauler als er.

Ich hatte stets den Eindruck, dass sein am häufigsten benutztes Wort, das Wort »nicht« war:

»Mach ich nicht, muss ich mir nicht antun, will ich nicht, geht mich nichts an, bin ich nicht für zuständig.«

Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Beamte wohl Leute sein müssen, die von menschenverachtenden Vorgesetzten ständig zu etwas gezwungen werden, das man eigentlich nicht von ihnen verlangen kann. Aber dann wurde ich vierzehn und habe langsam angefangen, das Leben zu verstehen.

Meine Mutter, Erika, war stets Hausfrau gewesen. Heute sehe ich das auch als Beruf an, aber mein Vater hat versucht mich zu lehren, dass die Küche der angestammte Lebensraum von Ehefrauen und Müttern sei. Er war auch stets der Meinung, dass das Führen eines Haushaltes keine wirkliche Arbeit sei. Heute habe ich mehr Verständnis für meine Mutter, die eine herzensgute Frau ist, intelligent, lustig, lebensbejahend und meistens fröhlich. Es ist kaum zu glauben, wie sie es geschafft hat, uns drei Kinder großzuziehen.

Wobei wir beim nächsten Thema sind: meinen Geschwistern!

Ich habe eine sechs Jahre ältere Schwester, Sigrid, und einen drei Jahre jüngeren Bruder, Udo. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass drei Geschwister so unterschiedlich sein könnten. Nun ... die Realität hat mich eingeholt. Meine Schwester ist eine erfolgreiche Unternehmensberaterin, die es trotz Karriere geschafft hat, meinen Schwager Eduard zu heiraten. Er ist Inhaber eines mittelständischen Betriebes und trägt nicht unerheblich zum Einkommen der Familie bei. Sigrid hat ihm als Spätgebärende mit über vierzig noch zwei Kinder geschenkt. Zwei widerliche, verwöhnte Gören ohne jegliche Erziehung, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden und niemals die kleinbürgerliche Familie ihrer Großeltern und ihres Onkels kennenlernen durften. Meine Schwester Sigrid lässt mich bei jedem Zusammentreffen spüren, was sie von meinem beruflichen Werdegang hält. Sie nennt mich weder Joachim oder Jo, noch nicht einmal Joda. Ihr Standardname für mich ist - »Loser«. Sie ließ niemals einen Zweifel daran, dass sie mich wirklich für einen Verlierer in jeder Hinsicht hält.

Ihre beiden Töchter, Sina und Sara, sind inzwischen acht und neun Jahre alt, also nur ein Jahr auseinander und ich verwechsle sie ständig, weshalb ich sie - wenn überhaupt - meist mit dem falschen Namen anspreche. In ihrer unnachahmlichen Art hat Sigrid mir eine Eselsbrücke gebaut, damit ich mir die Namen merken könnte:

»Pass auf, du Loser, du kannst dir die Namen ganz einfach merken, wenn du die Eigenschaften, die dir fehlen, dem jeweiligen Namen zuordnest: Sina, mit »i« für »Intelligenz« und Sara mit »a« für »Anmut«.«

Die Eselsbrücke hat geholfen. Ich weiß nun, dass meine Schwester mich weder für intelligent noch für anmutig hält. Das ist aber auch schon Alles. Die beiden Mädchen verwechsle ich trotzdem andauernd.

Mein Bruder Udo ist ein Abziehbild unseres Vaters. Dick, träge, faul und - wie sollte es anders sein - Beamter bei der Stadtverwaltung. Er selbst hält sich für einen der wichtigsten Mitarbeiter der Stadt Frankfurt. Auf meine Frage, was so wichtig an der Verwaltung und Ausgabe von verstaubten Akten sei, gab er mir die lapidare Antwort: »Eigentlich nichts, aber irgendjemand muss es ja tun, also muss es auch wichtig sein.«

Bevor er diesen Job hatte, war er im Bereich der Reisekostenabrechnung - er war dort dafür verantwortlich, dass Mitglieder der Stadtverwaltung nach Dienstreisen ihr Geld bekamen. Einmal hat er mir voller Stolz von einer Regelung im Reisekostenrecht berichtet: »Verstirbt ein Dienstreisender während der Dienstreise, so gilt die Dienstreise damit als beendet!« Er habe diese Vorschrift erfolgreich angewendet und von der Witwe des Kollegen die bereits vor der Dienstreise geleistete Vorschusszahlung zurückgefordert.

Man kann sich vorstellen, wie beliebt er war, und warum er irgendwann in die Aktenverwaltung zwangsversetzt wurde.

Auch mein Bruder ist verheiratet. Seine Frau, Monika, ist eine kleine graue Maus, die nichts zu sagen hat und ihn anhimmelt, als sei er ein Nobelpreisträger. Ihr gemeinsamer Sohn, Jan-Niklas, ist erst drei, aber bereits ein weiteres Abziehbild seines Vaters und seines Großvaters. Der Junge hat mir nichts getan, aber er nennt mich, seit er halbwegs sprechen kann, nur »Onkel Luuuser«, was ihm vermutlich meine Schwester beigebracht hat.

Die ganze Familie findet das lustig und lacht herzlich, was den Kleinen nur anspornt, es immer öfter zu sagen.

Zu meinem Unglück lebt meine ganze Familie in Frankfurt, weshalb ich die Sippschaft wesentlich öfter sehen muss, als mir lieb ist. Ich bin offensichtlich nicht der Typ, der anderen Mal ordentlich die Meinung sagt oder sich wenigstens vor den zahlreichen Familienfeiern durch erfinderische Ausreden drückt. Also treffe ich die ganze Bagage mindestens zwölf Mal pro Jahr - man rechne zusammen: zwei Mal Eltern, zwei Mal Geschwister, zwei Mal Schwager/Schwägerin, drei Mal Kinder ergibt: neun Mal Terrorfeste zu Geburtstagen. Dazu kommen noch die obligatorischen Feiertage wie Weihnachten und Ostern und noch diverse Jahrestage, wie Hochzeitstage und ähnlicher Schwachsinn.

Hätte ich nur den Mut, ihnen endlich so richtig die Meinung zu sagen - und vor allem, was sie mich alle mal könnten.

Dieser Mut hat mir allerdings stets gefehlt - bis zu meinem Unfall.

***

Nun... wie sieht mein Privatleben aus? Also ... Freunde habe ich so ungefähr ... gegen Null. Einer der Wenigen, mit dem ich mich ab und zu treffe, ist Erich - mein und Wutzi-Lutzis Spitznamengeber - der inzwischen als Werbetexter für eine Medienfirma in Frankfurt arbeitet. Er ist wie ich unverheiratet, allerdings mit dem Zusatz »zur Zeit«! Er ist inzwischen schon drei Mal geschieden, weil er die Finger - oder besser gesagt, andere Körperteile - nicht von Frauen lassen kann, die gerade nicht seine sind.

Wir treffen uns so etwa zwei bis drei Mal im Monat auf ein Bier in unserer Stammkneipe bei Willi.

Willi ist grundsätzlich mein engster Vertrauter. Ihm habe ich vermutlich schon alle Probleme meines Lebens erzählt - meistens im Suff. Habe ich schon gesagt, dass ich Willi liebe? Er ist ein hervorragender Zuhörer und ich kann ihm alles erzählen, Kummer und Sorgen (meistens), freudige Momente (selten) und von meinem Sexleben (fast nie).

Das mit dem Sex ist so eine Sache. Natürlich habe ich Bedürfnisse und auch jede Menge Sex, aber nicht die Sorte, bei der zwei Personen ihn gemeinsam haben. Das kommt eher selten vor. Warum, weiß ich selbst nicht genau.

Meiner Familie erzähle ich zu diesem Thema, dass ich eben sehr wählerisch bin und noch nicht die Richtige gefunden habe. Die Eine, die meine Vorliebe für tragische Filme teilt und mit der ich gemeinsam eine Packung Kleenex-Tücher vollheulen würde bei einem traurigen Rosamunde-Pilcher-Film. Soweit erzähle ich eigentlich die Wahrheit. Was ich meiner Familie natürlich nicht auf die Nase binde, ist der Umstand, dass meine wenigen kurzen Beziehungen meistens am Sex scheitern.

Ich bin jetzt mal so ehrlich, wie sonst nur zu Willi. Ich bin einfach unbeholfen beim Sex. Ich fühle mich nicht wohl, weil ich mir die ganze Zeit Gedanken darüber mache, was die Frau gerade so denkt.

Grundsätzlich sollte man meinen, dass mein ausgiebiges Studium von Pornofilmen mir den handwerklichen Teil irgendwie vermittelt haben müsste. Aber augenscheinlich stehen die meisten Frauen gar nicht auf Bettgeflüster wie: »Booaa, hast du geile Möpse!« oder »Komm, ich hämmere dir die Seele aus dem Leib!«

Bis heute habe ich den Trick noch nicht raus, wie man einen BH mit einer Hand öffnet - in den meisten Fällen habe ich es nicht mal mit zwei Händen geschafft.

Dabei wären die Rahmenbedingungen gar nicht so schlecht: Ich habe ein nettes 2-Zimmer-Appartement unweit des Stadtzentrums, also die ideale Junggesellenbude. Trotzdem haben in den letzten zehn Jahren nur vier Frauen meine Wohnung von innen gesehen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Sorte Frauen, mit denen ich zusammen mein Bett erreichte, nicht unbedingt die sind, mit denen ich mich gut unterhalten kann. Ich bin sicher, dass keine meiner bisherigen Bettgenossinnen den Unterschied zwischen Konspiration und Transpiration kannte oder zum richtigen Gebrauch von effektiv und effizient in der Lage waren.

Aber die intellektuellen Frauen, mit denen man sich auch über schwierige Themen unterhalten konnte, waren niemals an mir interessiert.

So war das eben - bis zu meinem Unfall.

Gedankenstürme

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