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Tag 4 - Genesung mit Hindernissen

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Das Erwachen war anders als die vergangenen beiden Male. Weder war ich schweißgebadet, noch wachte ich sehr plötzlich und mit einem Schrei auf. Aber trotzdem war etwas ganz und gar nicht in Ordnung.

Beim Schlafen trug ich für gewöhnlich nur eine Boxershorts. An diesem Morgen war da ein unangenehmes feuchtes Gefühl zwischen meinen Beinen. Mit einem Schlag kam die Erinnerung an das, was ich im Schlaf gesehen hatte - oder müsste es gehört, gefühlt oder erlebt heißen? - und mir wurde klar, was passiert war. Ich hatte im Schlaf ejakuliert und sowohl Hose als auch mein Genitalbereich waren nass und klebrig von meinem Sperma.

Die wiederkehrende Erinnerung führte dazu, dass ich sofort wieder eine Erektion bekam - und die war nicht von schlechten Eltern!

Ich hatte gesehen und gefühlt, wie Fräulein Meyer, die üppige Roothaarige in der Wohnung unter mir, ausgiebigen Sex in allen möglichen Stellungen gehabt hatte.

Aber das konnte nur ein Traum oder eine Sex-Phantasie gewesen sein, denn der Mann, mit dem sie diesen hatte ... war ich gewesen! Einen Moment lang war ich versucht, zu glauben, dass ich diesen Traum gehabt hatte, aber das konnte nicht sein. Ich hatte alles aus ihrer Perspektive erlebt. Ich/Sie hatte auf dem Bett gelegen, die nackten Schenkel gespreizt und sich mit einer Hand die feuchte Muschi gerieben, mit der anderen Hand hatte ich/sie den nackten Mann vor dem Bett herangewinkt. »Komm du geiler Hengst, mach’s mir!« Der nackte Mann war ich, allerdings stimmte zwar das Gesicht, aber der nackte Körper nicht so ganz. Ich war leider nicht ganz so muskulös und ich war auch im Genitalbereich nicht rasiert, so wie sich Fräulein Meyer mich wohl vorstellte. Der erigierte Penis ähnelte meinem, was mich beruhigte und sogar ein wenig stolz machte. Offenbar stimmten meine körperlichen Merkmale recht gut mit den Phantasien zumindest einer Frau überein.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, eine Treppe tiefer zu gehen und auszuprobieren, ob sie auch in wachem Zustand noch Interesse an mir hätte. Sie war mir, wenn wir uns zufällig auf der Treppe begegneten, immer sehr unnahbar erschienen. Ich hatte das als Desinteresse ausgelegt, aber anscheinend war sie nur schüchtern und hatte deshalb immer schnell weggesehen. Allerdings fehlte mir wohl immer noch der Mut und ich verwarf den Gedanken schnell wieder. Aber ich nahm mir vor, mein Glück irgendwann einmal bei ihr zu versuchen - das Erlebnis war zu lebhaft noch in Erinnerung.

Von der Aufgabe des Plans alleine ging meine Erektion allerdings leider nicht zurück. Also begab ich mich ins Bad, zog die eingesaute Boxershorts aus, stellte mich unter die Dusche und verschaffte mir Erleichterung. In einem Anflug von »ich-weiß-nicht-was« schnappte ich mir den Rasierer und rasierte meinen Genitalbereich.

Das war ein seltsames Gefühl und ich jaulte einmal laut auf, als ich mich trotz größter Vorsicht ein wenig schnitt. Als ich fertig war und die kleine Schnittwunde versorgt hatte, betrachtete ich das Ergebnis im Spiegel. Es hätte sehr seltsam ausgesehen, wäre da nicht eine recht große Ähnlichkeit zu dem Wunschbild des Fräulein Meyer gewesen. Alles in allem - nicht schlecht! Warum war ich nicht früher mal auf den Gedanken gekommen?

Während des Frühstücks - altes Brot und die letzten Reste von Wurst und Käse aus dem Kühlschrank - machte ich Pläne für den Tag. Ich hatte nicht vor, untätig in der Wohnung zu sitzen, sondern wollte etwas unternehmen, was mich im Verstehen meiner Fähigkeit weiterbrachte.

Eine Stunde später stand ich an der Straßenbahnhaltestelle und wartete auf die nächste Bahn. Neben mir standen eine ältere Frau und ein Junge. Die Dame beschäftigte sich hauptsächlich mit der Abholung ihrer Rente und der Junge versuchte verzweifelt, sich an die Hausaufgabe zu erinnern, die er heute in der Schule hätte abliefern müssen. Insgesamt wenig aufregend und auch gut zu ertragen.

Die Bahn kam und wir stiegen ein.

Sofort überfielen mich eine Flut von Gedanken und Bildern, angenehme und unangenehme. Ich versuchte, das zu tun, was ich in einem Raum mit vielen sich unterhaltenden Menschen auch getan hätte - ich konzentrierte mich auf eine angenehme Stimme. In diesem Fall auf angenehme und sympathische Gedanken.

Es war eine junge Frau, die voller Glücksgefühle an den innigen Kuss dachte, den ihr ein junger Mann gestern Abend vor der Tür ihrer Wohnung gegeben hatte. Ihre Gedanken drehten sich immer wieder um ihn, seine nette und höfliche Art, die Aussicht vielleicht bald mit ihm Sex zu haben, seine zärtlichen Hände und seine lieben Augen.

Ich bemerkte auf einmal, dass all die anderen Stimmen (Gedanken) zu einem undeutlichen Raunen geworden waren, wenn ich mich nur genug auf diese eine Frau konzentrierte. Sowie ich allerdings dem Raunen wieder mehr lauschte, stieg es an, wurde lauter und ich hörte wieder unterschiedlichste Gedanken durcheinander. Schnell konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau und die Stimmen wurden wieder leiser und verschwammen wie in einem Nebel zu einem undeutlichen Raunen ohne deutlich erkennbaren Inhalt. Die Konzentration auf eine einzige Quelle gelang immer besser.

Wir waren schon drei oder vier Stationen gefahren und es waren Leute ein- und ausgestiegen. Ich wagte den nächsten Versuch. Das Raunen wurde lauter und ich vernahm wieder einzelne Worte, Inhalte und Bilder. Diesmal konzentrierte ich mich auf einen Studenten, der in Gedanken versuchte, ein mathematisches Problem zu lösen. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn und sein Problem, so dass alle anderen Gedanken wieder zu dem verschwommenen Raunen wurden. Es ging immer besser und ich war froh, zu wissen, dass ich in der Lage war, unangenehme Gedanken quasi auszublenden. Ich folgte den Grübeleien des Studenten und stellte mit Erstaunen fest, dass ich alles was er von der komplizierten Formel verstand, auch verstand. Mir wurden Dinge klar, von denen ich nie eine Ahnung gehabt hatte. Aber alles, was ihm noch rätselhaft war, blieb es für mich genauso.

Jäh wurde ich aus dem Lösungsversuch mathematischer Gleichungen gerissen, als sich ein Gedanke aus dem allgemeinen Raunen ungefragt herausschälte.

»Der merkt nie, dass es nur eine Schreckschusspistole ist. Und wenn er doch Zicken macht, zieh ich ihm den Schlagstock über!« Verbunden waren diese Gedanken mit den Bildern eines alten, weißhaarigen Mannes hinter einer Theke mit Schmuck und Uhren. Zusätzlich sah ich Bilder des Juweliergeschäftes Kröner in der Klapperfeldstraße, einer Seitenstraße der Zeil. Dann kamen wieder Bilder, wie der weißhaarige Mann mit blutender Kopfwunde hinter dem Tresen lag, die Auslage eingeschlagen wurde und mit behandschuhten Händen Schmuck und Uhren zusammengerafft wurden.

»Noch drei Stationen, komm reiß dich zusammen, du brauchst die Kohle dringend.«

Der Mann in dem beigefarbenen Trenchcoat saß direkt neben der Tür und starrte vor sich hin. Er wirkte ungepflegt, mit einem dichten, zerzausten Bart, wirren dunklen Haaren und ich schätzte ihn auf Mitte 30.

Was sollte ich nun tun? Konnte ich das einfach so geschehen lassen? Auf keinen Fall würde ich ihn ansprechen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Seine Gedanken strahlten so viel Aggressivität und Brutalität aus, dass mir das sicher schlecht bekommen wäre.

Konnte ich die Polizei informieren? Sicher ... aber was wollte ich ihnen sagen? Ich habe gerade die Gedanken eines potentiellen Räubers belauscht, der gleich einen Juwelier überfallen wird? Wenn sie meiner habhaft werden könnten, würde ich in der nächsten Klapsmühle landen.

Noch zwei Stationen!

Wenn ich sie von meinem Handy aus anrufen würde, könnten sie den Anruf zurückverfolgen, selbst wenn ich die Übertragung meiner Nummer unterdrücken würde - soviel hatte ich als Journalist eines Revolverblattes inzwischen auch gelernt. Öffentliche Fernsprecher gab es in Frankfurt so gut wie keine mehr, denn die Ära der Handys hatte diese veralteten Kommunikationsstellen verwaisen lassen.

Noch eine Station!

Könnte ich einen Passanten um sein Handy bitten und dann mit diesem anrufen? Das wäre eine Möglichkeit, wobei mich dann der Passant vielleicht der Polizei beschreiben könnte. Aber das war eine Möglichkeit, die zumindest weniger gefährlich für mich wäre. Mir kam eine Idee.

Letzte Station - Zeil!

Die Türen der Straßenbahn öffneten sich und der Mann verließ den Wagon. Ich beeilte mich, noch schnell ebenfalls hinter ihm das Verkehrsmittel zu verlassen. Der Mann ging zielstrebig von der Haltestelle in Richtung der Straße, in der Juwelier Kröner beheimatet war. Ungefähr 100 Meter vor dem Juweliergeschäft blieb er stehen und beäugte es vorsichtig von einer Straßenecke aus. Seinen Gedanken konnte ich entnehmen, dass er auf einen Moment wartete, wo er sicher sein konnte, dass keine Kunden in dem Geschäft waren. Die Uhr zeigte kurz vor 10:00 Uhr und auch in den Seitenstraßen der Zeil, der Hauptgeschäftsstraße Frankfurts, herrschte bereits lebhafter Kundenverkehr.

Ein junges Pärchen kreuzte meinen Weg und es entsprach genau den Vorstellungen meines Plans.

Nach dem Kleidungsstil, dem äußeren Erscheinungsbild und aus ihren Gedanken zu schließen, waren es italienische Touristen, ein junges Paar, Anfang 20, beide sehr gut aussehend und entsprechend selbstbewusst.

Hatte ich schon erwähnt, dass mein zweitliebstes Fach in der Schule nach Deutsch das Fach Englisch war? Nun, jetzt war es an der Zeit, dass meine vielen Besuche von London und der südenglischen Küste mal zu etwas gut waren. Mit 1,70, schlank, mittelblonden kurzgeschnittenen Haaren und ohne Bart, war ich der durchschnittliche Mitteleuropäer, der von überall zwischen Norditalien und Skandinavien hätte stammen können. Also entschied ich mich, meine beste Engländerimitation zu bieten.

»Excuse me, do you speak englisch? (Entschuldigen Sie, sprechen Sie englisch?)«

»Yes, a little«, war die zögerliche Antwort des jungen Mannes, wobei die Frau ebenfalls den Eindruck machte, dass sie mich verstand.

»I’m so sorry to bother you, but I’m from england and my cellphone was stolen and I need to call the german police. Could you possibly help me? (Es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber mein Handy wurde gestohlen und ich muss die deutsche Polizei verständigen. Könnten sie mir vielleicht helfen?)«

Mitleid, das Überlegenheitsgefühl der Jugend in allen Situation und die Verbundenheit von Tourist zu Tourist obsiegten. Die junge Frau schaltete sich erstmals ein: »No problemo, Signore. Here take mine! (Kein Problem, mein Herr. Hier, nehmen sie meins!)«

Sie hielt mir ihr Handy entgegen, nachdem sie es entsperrt hatte. Jetzt gab es nur noch ein kleines mögliches Problem, von dem mein weiteres Verhalten abhängen würde.

»Oh, thank you very much, how lucky, that I speak a little german, do you too? (Oh, vielen Dank, wie gut, dass ich ein bisschen Deutsch spreche, sie auch?)«

»No sorry, not a word, except - ein Bier bitte! (Leider nein, kein Wort außer - ein Bier bitte!)«, war die lachende Antwort und beide schüttelten den Kopf. Optimal!

Ich wählte die 110 und wartete, bis sich die Notrufzentrale der Polizei meldete. Die Worte hatte ich mir im Voraus bereits genau zurechtgelegt:

»Hallo, ich möchte einen gerade stattfindenden Überfall auf das Juweliergeschäft Kröner in der Klapperfeldstraße melden. Ein Mann, ca. 40, ungepflegte dunkle Haare, beigefarbener Trenchcoat. Er hat eine Schreckschusspistole und einen Schlagstock dabei. Beeilen Sie sich, dann können Sie ihn noch erwischen!«

Ich gab dem Beamten keine Zeit mir Fragen zu stellen und legte sofort nach dem letzten Wort auf.

Dem über mein fließendes Deutsch etwas verduzten italienischen Pärchen gab ich das Handy zurück.

»Mille gracie, they will meet me in a few minutes in a nearby Café, thank you very much indeed. (Tausend Dank, sie treffen mich in wenigen Minuten in einem Café in der Nähe, nochmals vielen Dank.)«

Ich ließ die beiden stehen und näherte mich, durch die zahlreichen Passanten hindurchschlängelnd, etwas mehr dem Juweliergeschäft. Meine Angaben der Polizei gegenüber waren natürlich gelogen gewesen, denn der werdende Räuber stand noch immer etwa 50 Meter von dem Geschäft entfernt auf der anderen Straßenseite und beobachtete. Als eine ältere in einen Pelzmantel gekleidete Frau den Laden verließ, näherte sich vorsichtig und spähte durch die Schaufenster, ob nicht etwa ein anderer Kunde seinen Raubzug behindern würde.

Es dauerte gerade mal zwei Minuten, bis er sich schließlich zur Tat entschloss, sich noch einmal nach beiden Seiten unauffällig absicherte und dann das Geschäft betrat.

Nur wenige Sekunden später bog ein Streifenwagen ohne Blaulicht und Sirene um die Ecke, stoppte direkt vor dem Geschäft und zwei Beamte verließen das Fahrzeug. Nicht hektisch oder übereifrig, aber schnellen Schrittes näherten sie sich dem Juwelierladen, zogen kurz vor der Tür ihre Dienstwaffen und ging dann ohne zu zögern hinein.

Ich selbst traute mich nun auch noch etwas näher heran, weil ich neugierig war, was sich dort abspielen würde. Durch die sich noch langsam schließende Ladentür vernahm ich den lauten Ruf: »Polizei! Die Waffe fallen lassen und Hände hoch! LASS ... DIE ... WAFFE ... FALLEN ... SOFORT!«

Dann konnte ich nichts mehr hören, da die Tür sich vollständig geschlossen hatte.

Aber ich musste nicht lange warten, dann öffnete sie sich wieder und ein Uniformierter schob den Mann mit dem Trenchcoat mit auf den Rücken mit Handschellen gefesselten Händen vor sich her in Richtung Streifenwagen. Dahinter kamen gemächlich der andere Beamte und der weißhaarige Juwelier hinaus auf die Straße. Der Beamte hielt in einer Hand eine durchsichtige Plastiktüte mit einer Pistole, in der anderen Hand eine gleichartige Tüte mit einem Schlagstock. Im Vorbeigehen hörte ich noch, wie der Juwelier kopfschüttelnd sagte: » ... aber das kann nicht sein. Der Kerl hatte gerade die Waffe gezogen und gesagt: Her mit dem Schmuck, oder ... und dann sind Sie auch schon die Tür reingekommen.«

»Wenn ich’s Ihnen doch sage, der Anruf kam vor über fünf Minuten. Sind sie doch froh, dass wir so schnell hier waren!«

»Ja ... aber ...«, der Juwelier schüttelte weiter unentwegt mit dem Kopf, »vor fünf Minuten hatte ich noch eine andere Kundin im ...«

»Kommen Sie doch einfach aufs Revier, dann können wir das in Ruhe klären.«

Der Beamte war offensichtlich genervt, dass der Mann, dem sie gerade seinen Schmuck und vielleicht auch das Leben gerettet hatten, nicht einfach nur dankbar und zufrieden sein konnte, sondern stattdessen auf irgendeinem zeitlichen Problem rumhackte.

»Kleinkarierte Krämerseele«, vernahm ich deutlich die verächtlichen Gedanken des Polizisten, der sich als nächstes hauptsächlich Gedanken darüber machte, wer wohl den ganzen Papierkram übernehmen würde. Wahrscheinlich würde wieder alles an ihm hängenbleiben.

Zufrieden mit der Entwicklung ging ich einfach weiter und spazierte noch eine Weile die Geschäftsstraßen von Frankfurt entlang. Das war entschieden besser gelaufen, als ich zu hoffen gewagt hatte. Als ich gegen Mittag zu Hause ankam, fühlte ich mich glücklich aber erschöpft. Vielleicht hatte ich mir für den ersten Tag doch ein wenig zu viel zugemutet und meinen Genesungsgrad ein wenig überschätzt.

Ich legte mich auf meine kleine Ledercouch und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen.

***

Geweckt wurde ich durch das Klingeln des Telefons. Erfreut stellte ich fest, dass in meinen Schlaf diesmal keine fremden Gedanken eingedrungen waren. Vermutlich war zu dieser Tageszeit fast niemand im Haus und somit alle störenden Einflüsse außer Reichweite.

Das immer weiter klingelnde Telefon riss mich aus diesen Überlegungen und ich nahm den Anruf an. »Dahlmann?«

»Na altes Haus, wie geht’s? Ich hab in der Redaktion angerufen und die haben mir gesagt, du hättest so ne Art Unfall gehabt. Aber du lebst ja anscheinend doch noch, ha ha!«

»Hallo Erich. Ja ich lebe noch. Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.«

Ich war erfreut, dass Erich sich nach meinem Gesundheitszustand erkundigte. Es geht doch nichts über alte Jugendfreunde. Von meiner Familie hatte sich noch keiner nach mir erkundigt - und das nach vier Tagen, in denen niemand etwas von mir gehört hatte. Vermutlich würde ich zwei Wochen lang tot in meiner Wohnung liegen, bevor jemand von denen nach mir suchte - es sei denn, ich hätte eines der heiligen Familienfeste versäumt. Aber Erich hatte an mich gedacht.

»Und, Alter, wie geht’s dir denn wirklich? Machst du ein paar Tage blau oder bist du wirklich krank?«

Die Vorstellung, er hielte mich für fähig, blau zu machen, erheiterte mich. Ich hatte im ganzen Leben noch keinen Tag blau gemacht. Selbst krank war ich nur sehr selten, dank einer guten Gesundheit.

»Nein«, erwiderte ich lachend, »ich bin wirklich krank - oder eigentlich nur ein wenig verletzt. Aber es geht mir schon wieder recht gut. Ich war heute Morgen sogar ein bisschen Spazieren.«

»Na Klasse, ich wollte dich nämlich fragen, ob du heute Abend nicht Lust hättest, dich auf ein Bier bei Willi mit mir zu treffen.«

Freudig stimmte ich zu, und der Gedanke auf andere Gedanken zu kommen (lustiges Wortspiel - oder?) ließ mich den Abend herbeisehnen. Verstärkt wurde das durch die Neugierde, was ich wohl alles aus Erichs Kopf erfahren würde.

Hätte ich in diesem Moment geahnt, wie sich der Abend bei Willi entwickeln würde - ich hätte die Kneipe gemieden wie der Teufel das Weihwasser.

***

Willis Kneipe war nicht nur seine, sondern hieß tatsächlich auch so. Es war eine typische Eckkneipe, wie man sie in Frankfurt noch oft vorfindet, sehr gemütlich, voller Rauch und Bierdunst und mit vielen Stammgästen.

Meine jahrelangen Bemühungen, Willi dazu zu überreden, das grammatikalisch falsche Schild über der Eingangstür zu ersetzen, waren immer wieder kläglich an seiner Sturheit gescheitert. Also prangte noch immer über dem Eingang das bei Dunkelheit beleuchtete Schild mit der Aufschrift »Willi’s Kneipe«.

Auch mein wiederholter Hinweis, dass ein Genitiv-s (wessen Kneipe? Willis Kneipe!) nicht durch ein Apostroph abgetrennt würde und man diesen Missgriff auch »das Deppenapostroph« nannte, hatten nichts genutzt.

»Ach Joda, außer dir weiß das kein einziger meiner Gäste. Und wenn ich das jetzt ändern würde - was ich auf keinen Fall tun werde - würden die ja meine Kneipe nicht mehr finden.«

So viel zu meinen vergeblichen Versuchen, dem einfachen Volke die Finessen der deutschen Sprache wieder ein wenig näher zu bringen.

Als ich die Kneipe betrat, schlugen mir der Bierdunst, ein wenig Zigarettenqualm und ein mittleres Stimmengewirr entgegen. Es war noch früh am Abend und nur - für Willis Kneipe nicht viel - etwa ein Dutzend Leute anwesend. Die meisten davon kannte ich und ich sah auch Erich an der Theke sitzen, ein bereits halb geleertes Glas Bier vor sich stehend. Gleichzeitig überfiel mich aber auch eine Flut von Gedanken, Bildern und Gefühlen mit einer Macht, die fast wehtat. Ich versuchte sofort, die freundlichsten und positivsten Gedanken zu finden und mich auf sie zu konzentrieren. Zu meiner Freude war es Willi, der gutgelaunt hinter der Theke stand und mich anstrahlte. »Oh wie schön, es geht ihm ja anscheinend wieder gut. Also war der Unfall wohl doch nicht so schlimm. Das hätte mir aber auch leid getan. Der arme Joda, der hat ja nicht so viel Freude im Leben.«

Also hatte Erich bereits geplappert und Willi von meiner Verletzung erzählt.

»Hallo Joda, wie geht’s? Erzähl, was ist passiert?«, fragte Willi laut und zapfte bereits ein Pils für mich.

ich setzte mich direkt neben Erich, der mich kurz ansah und ein halbherziges »Guude« murmelte aber zunächst wollte Ich mich erst einmal auf Willi zu konzentrieren. Mit Erich konnte ich mich gleich noch unterhalten, aber. Willi erzählte ich den öffentlich und vor allem gefahrlos erzählbaren Teil meines Unfalles und des Krankenhausaufenthaltes und stellte fest, dass er voller Mitgefühl und Anteilnahme war. Der gute Willi. Er war einfach eine Seele von Mensch, obwohl man ihm das nach seiner äußeren Erscheinung nicht zugetraut hätte. Mit seinen 55 Jahren war er immer noch eine imposante Erscheinung: 1,90 groß, kräftig und muskulös gebaut. Die durch sein regelmäßiges Gewichtestemmen stark ausgebauten Oberarme quollen aus seinem weißen T-Shirt mit dem Aufdruck »Willi’s Kneipe - wo du dich wohlfühlst«. Der blonde Schnauzbart und das streng zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmte Haar ließen ihn wie einen alternden Zuhälter oder Türsteher aussehen. Aber sein freundliches Lächeln und die makellosen weißen Zähne, die dank seiner lebensbejahenden frohen Art sehr oft zu sehen waren, sprachen eine ganz andere Sprache. Hätten die anderen Besucher noch seine positiven Gedanken vernehmen können, er hätte die nächste Wahl zum Oberbürgermeister trotz seines Aussehens mit Glanz und Gloria gewonnen.

Jetzt allerdings drängten sich andere Gedanken auf, die so gar nicht zu ihm passten.

»Hoffentlich fällt er nicht schon wieder auf diesen widerlichen Schmarotzer rein.« Verbunden waren diese Gedanken mit einem Bild von ... Erich!?

Erstmals wandte ich meine Aufmerksamkeit dem neben mir sitzenden Freund zu, der seine schlaksige Gestalt mir zugewandt hatte und mich prüfend ansah.

»Nun, mein Freund«, sprach ich ihn unbedarft an, »wie geht es dir denn? Gibt es einen besonderen Grund, dass wir uns heute Abend treffen sollten?«.

»Na erstmal bin ich froh, dass dir nichts Schlimmes passiert ist. / Was für ein Glück für mich, sonst wär ich aufgeschmissen gewesen.«

Irgendetwas wollte er von mir, aber was?

»Und zweitens? Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Na super, gleich zur Sache, dann brauch ich mir nicht wieder stundenlang sein blödes Gewäsch anhören. / Toll, dass du es ansprichst, Joda, du könntest wirklich etwas für mich tun. Du hast mir doch mal erzählt, dass du ein paar Ersparnisse hast, oder? Ich hätte da einen tollen Anlagetipp für dich. Wenn du Lust hättest, auf die Schnelle ordentlich dein Geld zu vermehren, könnte ich was für dich tun!«

Seine Gedanken sprachen eine völlig andere Sprache, denn ich sah Bilder von Wettscheinen, Pferderennen, Verlusten und von einem Geldeintreiber, der ihm mehr als nur Schläge angedroht hatte.

Die sich auf meiner Stirn bildende Falte veranlasste Erich, schnell zu versichern: »Natürlich mache ich das nicht ganz selbstlos - selbstverständlich würde ich auch ein wenig daran verdienen. / nun stell dich nicht so an, du Idiot, du fällst doch sonst auch auf jeden Schmus herein.«

»Was hast du vor? Was willst du mit dem Geld machen?«, fragte ich und starrte ihn fassungslos an, was er offensichtlich völlig falsch deutete.

»Ach, das ist Finanzkram, das ist wirklich schwer zu erklären und würde zu lange dauern. Ich hab auch schon zwei Bier getrunken. Vertrau mir einfach. Du weißt doch, dass ich dir nie schaden würde. / außer es geht um dein Geld, deine Weiber oder dass du mir mal wieder ein falsches Alibi gibst!«

Ich war so geschockt, dass ich sprachlos da saß und einfach nicht mehr weiterwusste. Ich sah Willi an und bestellte ein weiteres Bier und einen Korn. Willi betrachtete mich und ich hörte seine Gedanken: »Tu es nicht Joda, der Sack will dich nur wieder über den Tisch ziehen, wie schon so oft!«

Ich wusste selbst nicht mehr, was ich denken sollte, denn gerade begann eine Welt in mir zusammenzustürzen.

Erich interpretierte mein Verhalten wiederum falsch.

»Lass dir ruhig Zeit und überlege in Ruhe. Ich gebe noch ne Runde aus und lass dich nachdenken. / Scheiße, jetzt muss ich auch noch Geld in das Sackgesicht investieren. Außerdem hab ich keine Lust, noch länger hier bei dem Loser herumzusitzen. Mach hinne, Mann!«

Ich stürzte den Korn hinunter und trank direkt danach das Bier in einem Zug aus. Inzwischen hatte Willi ein weiteres Bier und noch einen Korn eingeschüttet und die beiden Getränke vor mir auf den Tresen gestellt.

»Mensch, Junge, tu das nicht. Schütt dich nicht voll, dann kannst du nicht mehr klar denken und fällst wieder auf das Arschloch rein.«

Was meinte Willi? War da noch so viel mehr, von dem ich nichts wusste?

Ich trank den zweiten Korn und schüttete das Bier direkt hinterher.

»Hör mal«, schaltete Erich sich wieder ein, »ich will dich ja nicht drängeln und auch nicht belehren, aber es geht ja immerhin um Geld, also solltest du einen klaren Kopf behalten. / Was dir bei deiner Hohlbirne ja sowieso schwerfällt, zu meinem Glück.«

Gleichzeitig drangen Bilder in meinen Kopf, die ich lieber nicht gesehen hätte. Bilder von Erich mit einer meiner Exfreundinnen, Bilder, als er mich in betrunkenem Zustand nach Hause gebracht hat - und sich dort nicht nur an meinem Kühlschrank bedient hatte. Ein Bild von mir in Willis Kneipe, wo ich mit dem Kopf betrunken auf der Theke schlafe und Erich mir die Geldbörse aus der Jacke zieht und hundert Euro herausnimmt.

Es kam in diesem Moment alles zusammen: Der Alkohol, von dem ich eh nicht viel vertrug, die Enttäuschung über den Verrat durch meinem vermeintlichen Freund, die Wut über meine eigene Dummheit, so lange auf ihn hereingefallen zu sein.

Als Erich dann mit einem vorwurfsvollen Blick sagte: »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich in irgendeine dubiose Sache reinziehe, oder? Du weißt doch, dass ich nie etwas tun würde, dass dir schaden könnte«, und ich weitere Bilder von Erich und mir sah, in denen er mich betrogen, belogen, bestohlen und hintergangen hatte, setzte etwas in mir aus.

Ich dachte nicht nach, ich überlegte keine Konsequenzen und ich handelte wie in einem Traum. Ich tat etwas, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie getan hatte, da ich Gewalt grundsätzlich verabscheute.

Ohne Ankündigung oder Vorwarnung holte ich aus und schlug Erich, der mich gerade erwartungsvoll ansah, die Faust mit voller Kraft auf die Nase. Es gab ein lautes Knirschen und Erich flog nach hinten von dem Hocker. Er landete unsanft auf dem Rücken und sein Kopf schlug mit einem knallenden Geräusch auf den Dielenboden.

Erich heulte auf wie ein getretener Hund und hielt sich beide Hände vor die Nase. Zwischen den Fingern quoll Blut heraus und er fing schreiend an, sich zu winden.

»Waa haa du gemaach ... Ooooh ... tuu daa weeh!« jaulte er, als habe er gerade eine Nasenscheidewandoperation hinter sich und die ganze Nase noch mit zehn Metern Mullbinde gefüllt. »Waa haa ich diie gedaaah?«

Ich stieg bedächtig von dem Hocker und ging neben seinem Kopf in die Hocke. Ich war versucht, ihn an den Ohren zu packen und seinen Kopf bei jedem meiner Worte mit Schmackes auf den Boden zu schlagen. »Du ... linke ... Sau! Wie konntest du das tun?«

»Waaa?«

»Mich betrügen, belügen und bestehlen, du Schwein. Und ich Trottel habe gedacht, du wärst mein Freund.«

»Wohee weiss duu?«, brachte er unter Stöhnen hervor.

Ich beugte mich noch ein wenig näher an seinen Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: »Das habe ich in deinen Gedanken gelesen, du Wicht. Ich kann hören, was du denkst. Also wage es nicht, mich nochmal anzulügen.«

Nicht dass er noch jemals die Chance dazu bekommen würde. Ich war sowas von mit ihm durch und hoffte, ihn niemals mehr wiedersehen zu müssen.

Erich versuchte, sich aufzurappeln, wobei ich ihm nicht helfend zur Hand ging. Als er sich auf der Theke abstützen wollte und Willi flehentlich ansah, wagte ich mich einen Schritt weiter vor.

»Ich denke mal, du solltest so schnell wie möglich verschwinden und dich am besten nie mehr hier blicken lassen.« Ich blickte Willi fragend an.

Viel mehr als sein bestätigendes Nicken und die zur Tür weisende Hand berührten mich allerdings Willis Gedanken.

»Alle Achtung, ich will nicht mehr Winzigmann heißen, wenn der Kleine sich nicht endlich berappelt hat. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren. Ich würde es ihm wünschen. Bin ich froh, dass er die falsche Schlange endlich durchschaut hat - wenn ich auch noch nicht weiß, wie.«

Konnte das sein? Hieß Willi mit Nachnamen tatsächlich Winzigmann? Wieso hatte ich das noch nicht gewusst und ... wusste das überhaupt jemand? Gleichzeitig berührten mich seine Fürsorglichkeit und die Gedanken, die er sich um mich gemacht hatte.

Ich blieb nicht mehr lange, denn wenn ich ehrlich sein sollte - meine Hand tat mir extrem weh. So eine Nase ist - selbst wenn sie bricht - wesentlich härter, als die meisten denken. Also verabschiedete ich mich beizeiten und ging nach Hause.

Gedankenstürme

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