Читать книгу Quergefönt - Franco Bollo - Страница 15
ОглавлениеÜbergangsbinde
Es dämmert schon, als wir schweigend zurückfahren. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach.
Längst glaubte ich, über Ayse hinweg zu sein. Zumindest wollte ich das so, bis ich sie vor ein paar Tagen im dm-Markt an der Kasse traf. Wir plauderten süß daher, als ich entsetzt bemerkte, dass sie eine große Packung Kondome mit Fruchtgeschmack und ein Döschen Kieselsäuretabletten auf das Band legte. Ab da war es mit der Träumerei aus und vorbei, vergessen und verloren. Ich brachte keinen einzigen Ton mehr heraus und knallte stumm den Trennstab hinter ihre Lustartikel. Desillusioniert griff ich nach einem Karton Slipeinlagen aus dem Sonderangebot und packte ihn zu meinem Nasenhaarschneider, der Zahnseide und der Anti-Grau-Tönung. Ohne auf mein Wechselgeld zu warten, verließ ich den Ort der trügerischen Eitelkeiten.
Aber jetzt huscht mir Ayse doch wieder durch den Sinn. Tausend kleine schillernde Momente fallen mir ein. Wie ihre dunklen Augen funkeln, ihr Lachen strahlt oder sie ihre langen Haare zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelt. Ich denke an die winzigen Grübchen auf ihren Wangen, wenn sie lacht. Die Luft flimmert zart und ihre Nasenflügel vibrieren ganz sanft, wenn sie spricht.
Ich schaue zu Murat und muss husten. Er raucht schon die dritte steuerfreie Tabakfackel, die er stangenweise von Renzo kauft. Das Zeug qualmt wie ein isländischer Vulkan, die Sicht ist schlecht.
Mit hohem Tempo taucht auf einmal dicht vor uns ein riesiger Tiefkühlwagen aus dem Nebel auf. Wild hupend reißt Murat das Lenkrad herum, prügelt den zweiten Gang rein, ohne zu kuppeln und treibt unsere Droschke auf der linken Spur Zentimeter um Zentimeter an den rasenden Eiswürfel heran. Ich blicke empört in seine dunklen Innereien und erkenne den Bofrostmann, der abgelenkt an seinem Navi herumfummelt. Hinter uns bildet sich ein Rückstau von drei Kilometern Länge und das Radio berichtet über eine Vollsperrung.
Murat gestikuliert wie ein betrogener, arabischer Kamelhändler und rauscht schließlich an unserer Ausfahrt vorbei.
Orientierungs- und hoffnungslos fahren wir nun schon seit Stunden über eine schier endlose Landstraße. Es ist mittlerweile stockdunkel, selbst die Scheinwerferkegel des Rapids werden nach etwa zwei Metern unbarmherzig wie von einem riesigen, schwarzen Maul verschluckt. Die Tankanzeige ist bereits im zweiten Untergeschoss angekommen und blinkt flackernd. Fieberhaft taste ich unter meinem Sitz nach dem Reservekanister, um festzustellen, dass ich ihn im Heizungskeller vergessen habe. Die Chance, lebend gefunden zu werden, wenn uns jetzt und hier der Sprit ausginge, gleicht dem Wirkstoffgehalt einer homöopathischen Hochpotenz. Angespannt hält Murat auf einer kleinen Anhöhe an, schaltet den Motor aus und dreht das Radio stumm. Ohne zu wissen, warum, gehe ich nach hinten, setze mich auf die Laderaumkante und lausche mit spitzen Ohren in die Finsternis. Das Ticken des Warnblinkers und das Zirpen der Grillen auf den Feldern sind die einzigen Geräusche, die durch die Stille schleichen. Doch plötzlich wabert dumpfes, schweres Grollen zu uns herüber, als habe jemand eine Tür geöffnet. Irritiert erkenne ich darin eine Melodie: Es ist Smoke on the water von Deep Purple!
Zaghaft wie beim Blinde-Kuh-Spiel lässt Murat den Wagen in Richtung der Musik den Hügel hinunterrollen. Nach ewigen Minuten, die langsam wie Adventssonntage im Nieselregen verrinnen, biegen wir auf einen Schotterparkplatz ein und stellen das Auto ab. An einem heruntergekommenen Gebäude flackert im staubigen Fenster ein grell-buntes Open-Schild, Fetzen von Child of vision dröhnen aus den Backsteinmauern.
Mit vereinten Kräften stemmen wir die Tür auf und betreten einen zum Bersten gefüllten Wirtsraum, dichte Rauchschwaden schlagen uns entgegen. Wir schieben uns durch das Menschengetümmel, quetschen uns nahe der Theke zwischen tumb dreinblickende Treckerköpfe und schauen uns stumm um. Die, die noch Frittenfett im Tank ihres Strich-8er hatten, scheinen in Windeseile in die Stadt geflohen zu sein. Alle anderen sind heute Abend hier: der hornbebrillte Bürgermeister in Cordhose, der blasse Vorsitzende der Taubenzüchter, der pralle Schatzmeister vom Kaninchenzuchtverein Deutsche Riesen, die Bewegungssportgruppe mit der Abteilung Ausdruckstanz und die aktive Frauengemeinschaft von den Weight Watchers.
Bitterer Nachgeschmack an den entfesselten Mob auf der Messe kommt in mir hoch.
Auf den verharzten Tischen verhüllen Tropfkerzen Weinflaschen mit grotesken Mänteln, klebrige Kunstblumen lassen die Köpfe hängen und einst bunte Häkeldeckchen erstrahlen in nikotingelb. Graue Greise gehen hüftsteif die steilen Stufen in die kalte Keramikausstellung hinab und kommen als windelnasse Jungspunde wieder herauf. Vorne auf einer kleinen Bühne spielt eine Band guten, alten Rock. Und wir mittendrin.
»Was trinkt ihr?«, fragt uns eine blondierte Zapfhenne hinter dem Tresen, die nach Tosca riecht.
»Ein Guinness«, schreie ich durch den Bassdschungel.
»Was ist das denn? Das kenne ich nicht!«
»Dann bring mir ein Pils. Habt ihr das?«
Sie nickt und ich rechne schon damit, ein Wicküler zu bekommen und in DM bezahlen zu können. Etwas später stellt sie mir einen Glashumpen auf den Tisch und für Murat ein Wasser, er muss ja noch fahren. Sie macht ein X und ein U auf den Karton.
»Gibt es auch was zu essen?«, will ich von ihr wissen.
»Da musst du zur Terrasse raus, da wird gegrillt!«
Draußen ist nicht viel los, eine Frau in weißer Kittelschürze hinter einer wackligen Biergartengarnitur dreht in sich gekehrt unterarmlange Würstchen und riesige Fleischlaken um.
»Aus eigener Hausschlachtung«, wie sie extra betont.
Mit einem wagenradgroßen Teller, an dem sich alle Hunde aus dem Tierasyl sattessen könnten, gehe ich wieder hinein. Murat ist fest eingeschlafen, die Band spielt Dr. House is dead und ich frage mich, ob er an der Menge gestorben ist oder ob er hier vor Ort erschossen wurde, weil er nicht aufaß? Ich nehme nachdenklich den letzten Schluck von meiner obergärigen Kaltschale, als mir Tosca auch schon ein weiteres Einmachglas vor die Nase setzt und mich angrinst.
Am nächsten Mittag bricht die Sonne grell durch die Ritzen der Jalousien und zeichnet Streifenmuster auf die vergilbte Blumentapete der Wirtsschänke. Ich schäle mein schmerzendes Knautschgesicht von der klebrigen Tischplatte und blicke auf. Anscheinend hat die Party gestern noch lange getobt. Überall liegen umgeworfene Stühle herum, leere Flaschen rollen über den Boden. Im Humpen vor mir ist eine Pferdebremse ertrunken, auf meinem Pappkreis stehen jetzt fünf X und ein U. Durch die offene Tür sehe ich die Metzgersgattin auf der Terrasse den Grill schrubben.
Ich stoße Murat an, der mit einem Ohr im Kartoffelsalat auf meinem Teller liegt. »He«, rufe ich entrüstet, »wer soll das denn noch essen?«
Die Fleischersfrau schaut misstrauisch herüber, schnappt sich einen Reisigbesen und marschiert beharrlich auf uns zu. Ich schiebe Murat listig den durchweichten Bierdeckel rüber. »Du bist dran zu zahlen, ich warte am Auto auf dich!«
Draußen vorm Eingang leiste ich notdürftig einer vertrockneten Konifere erste Hilfe, als er herausstürmt. Seine linke Hand umklammert eine verstaubte Flasche Chivas Regal, die eben noch über der Theke stand, und die rechte einen original Atika-Aschenbecher, mit dem er den ganzen Abend geliebäugelt hat. Meine Augen leuchten.
Schweren Schrittes trommelt die geprellte Kittelschürze hinter ihm her, sie keucht wie Hui Buh in Ketten.
»Mach hinne«, ruft er, »der Bus fährt ab!«
Mühsam verstaue ich mein Gemächt, wische mir die Finger an der öligen Hose ab und springe auf den Beifahrersitz. Schon donnert der Feudel der alten Wurstschlampe gegen die Hecktür. Der Motor heult auf, der Donnerbesen faucht, wirbelnde Kiesel prasseln an die steinerne Fassade des Saloons, dann schwänzelt der Rapid vom Hof.
»Gib mir fünf«, sagt Murat.
Und die kriegt er, als nach 100 Metern auch der letzte Tropfen Diesel aufgebraucht ist.
Was wäre, wenn der Bofrostmann zur Weihnachtszeit heißen Glühwein bringen würde?