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Drei

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Berlin, April

Es war später Nachmittag, als Peter Johnson seinen Golf vor dem kleinen Haus in Lichtenrade parkte. Dörfliches Ambiente im Süden Berlins, eine ruhige Siedlung am Waldrand, keine 500 Meter vom ehemaligen Todesstreifen entfernt. Straßen mit Kopfsteinpflaster, Grundstück an Grundstück, Haus an Haus.

Der Platz war beengt, ein Überbleibsel aus der Zeit der Deutschen Teilung, als West-Berlin hier an seine Grenzen stieß.

Heute bauten die Leute in Mahlow, zwei Kilometer weiter südlich. Auf dem ehemaligen DDR-Gebiet war ausreichend Platz für die Erschließung neuer Grundstücke. In Lichtenrade hatte sich nichts verändert.

Peter war nachdenklich. Von der Havel aus hatte er erst das Revier aufgesucht. Karl hatte sich missmutig auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch gelümmelt. Karl Elster, den alle nur Vogel nannten, war in etwa im gleichen Alter wie Peter, aber fast das Doppelte an Gewicht und Volumen.

Halblange braune Haare, die sich am Hinterkopf lichteten. Immer ein leicht zynisches Grinsen im Gesicht. Johnson und Elster waren im Lauf der Jahre zu Freunden geworden. Soweit man in diesem Job, der einen täglich im Müll anderer wühlen ließ, Freundschaften schließen konnte.

»Kaffee? Du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen…«

»Gern. Was liegt an? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«

Elster reichte ihm einen Becher Kaffee, Milch schon drin. Der Vorteil, wenn man sich so lange kannte.

»Mir gar nicht, aber dir gleich. Der Alte will dich sehen, hat schon zweimal nach dir gefragt.«

Der Alte, das war Kriminalrat Lorenz, Vorgesetzter der beiden und nicht eben als Gutmensch bekannt. Ständig etwas muffelig, korrekt bis zum Geht-nicht-mehr. Immer der Erste beim Kommen und der Letzte beim Gehen. Peter war auf seiner Liste der schwarzen Schafe ganz oben. Zu unkonventionell, zu leichtfertig mit den Dienstvorschriften.

»Worum geht’s?« Peter gab sich locker, aber ein Termin beim Alten kam ihm so gelegen wie ein Besuch beim Zahnarzt. Er fühlte sich schrecklich, warf zwei Paracetamol nach und spülte sie mit dem halbkalten Kaffee hinunter.

»Keine Ahnung. Aber er klang verdammt sauer.«

»Also sein Normalzustand.« Peter trank seinen letzten Schluck der Revierbrühe und machte sich auf den Weg.

»Übrigens, Peter:« Karl Elster grinste sein Lausbubengrinsen. »Du siehst echt scheiße aus.«

Der Alte erschien ihm wieder wie aus dem Ei gepellt. Schwarzer Nadelstreifenanzug, weißes Hemd, passende Fliege. Die Schuhe blankpoliert wie ein Spiegel. Peter dachte an seine eigenen Treter, die Spuren der Havelchaussee gerade auch in Lorenz‘ Büro verteilten und hoffte, sein Chef würde es nicht bemerken. Dessen Schreibtisch war leer bis auf ein Telefon und zwei gerahmte Bilder, seine Frau auf dem einen, seine drei Kinder auf dem anderen. Zwei Jungs, ein Mädchen, in Badesachen am Strand sitzend. Mallorca oder vielleicht Gran Canaria. Die Frau unscheinbar, klein, mit einem offenen Lachen vor dem Eiffelturm. Peter erinnerte sich, dass Lorenz seine Silberhochzeit im letzten Jahr in Paris verbracht hatte. Die Stadt der Liebe, so hieß es doch?

Kein Laptop, keine Akten. Lorenz bat Peter, Platz zu nehmen, setzte seine Nickelbrille auf und betrachtete sein Gegenüber mit einem missbilligenden Blick. Räusperte sich.

»Einen Kaffee, Herr Johnson?« Er sprach den Namen deutsch aus. Peter hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu ärgern. Lorenz‘ Blick sagte: Sie können einen gebrauchen.

»Danke, immer. Nur Milch, keinen Zucker.«

Lorenz stutzte einen Moment, schob ihm dann fahrig die Milchtüte über den Schreibtisch. »Sie wissen selbst am besten, wie viel…«.

Peter fragte sich, ob der Job den Mann so steif hatte werden lassen oder ob gerade diese Steifheit erst zu dieser Position geführt hatte. Ob, das Fehlen von menschlichen Emotionen, besonders im Umgang mit seinen Mitarbeitern, eine Grundvoraussetzung darstellte, um führen zu können. Er dachte an Liebrich und verwarf den Gedanken wieder.

»Worum geht es, Herr Kriminalrat?«

Lorenz räusperte sich erneut, ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dann fixierte er Peter.

»Haben Sie im Moment viel zu tun?« Er bemühte sich, beiläufig zu klingen. Peter war auf der Hut.

»Es geht so. Drei offene Fälle, darunter die Russensache.« Ein Fall, bei dem organisierte Kriminalität vermutet wurde, Erpressung von Schutzgeldern, Repressalien, Brandstiftung. Die Russenmafia.

»Nun, damit müssten Sie eigentlich ausgelastet sein. Oder möchten Sie ein wenig mehr Beschäftigung?«

Das war absurd. Peter hatte eine starke Ahnung, wohin das hier führen würde.

»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht so ganz, worauf Sie hinauswollen«, sagte er trotzdem und trank einen Schluck Kaffee. Um Längen besser als der vor ein paar Minuten. Definitiv aus dem Privatbesitz des Alten.

»Herr Kriminalrat«, fügte er hinzu. Die deutsche Amtssprache treibt manchmal seltsame Blüten, dachte er. Im Englischen war es ein kurzes und knappes Sir, ohne ellenlange Titel dranhängen zu müssen.

»Sie verstehen mich sehr wohl.« Lorenz machte eine dramatische Pause.

»Kerner.«, sagte er dann. »Sie haben ein unangemessenes persönliches Interesse an ihm. Ich werde verdammt noch mal nicht zulassen, dass Sie den Mann in irgendeiner Form belästigen. Haben wir uns verstanden?«

Peter hatte es geahnt, wollte es aber nicht reaktionslos hinnehmen. »Darf ich fragen, bei allem Respekt, welches persönliche Interesse Sie an ihm haben?«

»Nein, das dürfen Sie nicht!« Der Alte knallte zur Betonung seiner Worte mit der flachen Hand auf den Tisch, das Gesicht jetzt vor unterdrückter Wut gerötet. Das Bild seiner Frau fiel dabei um. Wunden Punkt erwischt, dachte Peter. Er setzte nach.

»Von wem stammt diese Anweisung? Von ganz oben?«

Peter wusste nur zu gut um die hervorragenden Verbindungen, die Kerner hatte. Langsam stieg auch in ihm eine kalte Wut hoch.

»Nehmen Sie es einfach zur Kenntnis! Wenn Sie den Mann nicht in Ruhe lassen, werde ich Sie mit Arbeit zuschmeißen, dass Sie Ihren eigenen Arsch nicht mehr finden!«

»Also von ganz oben«, sagte Peter lakonisch. So ein Ausbruch von Lorenz war eine Reaktion, die er noch nicht kannte. Normalerweise hatte sich der Mann immer unter Kontrolle.

»Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, Johnson!« Das Herr war also auch schon verschwunden, dachte Peter und fragte sich, was den Alten so dermaßen die Contenance verlieren ließ.

»Und jetzt raus!«, brüllte Lorenz. »Seien Sie versichert, dass ich Sie im Auge behalten werde!«, gab ihm der Alte noch auf den Weg. »Und im Übrigen sehen Sie schrecklich aus.« Das Letzte mehr gemurmelt, aber Peter hatte es trotzdem verstanden. Beim Rausgehen sah er aus dem Augenwinkel, wie der Alte das Bild wieder aufrichtete. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen.

Peter hatte sich kurz mit Karl abgesprochen. Er brauchte jetzt Rückendeckung, wenn der Alte seine Drohung, ihn zu kontrollieren, wahr machte. Dann war er in seine Wohnung gefahren und hatte sich einen mit Wasser verdünnten Whisky gegönnt. Katerbekämpfung. Pink Floyds »Wish You Were Here« in den CD-Spieler und dann für einen unruhigen, verschwitzten Schlaf ins Bett. Er hatte geduscht, einen Kaffee getrunken, sich einen Toast mit Wurst und Käse reingequält.

Jetzt stand er vor dem schmucken, kleinen Haus und klingelte. Rosenbeete im Garten, Ampelpflanzen links und rechts der Tür. Die Gardinen in den Fenstern mit viel Tüll und Spitzen. Die Handschrift einer Frau.

»Das ist ne Weile her, mein Junge. Immer herein in die gute Stube!«

Heiner Liebrich stand in der geöffneten Tür, ein herzliches Lächeln im Gesicht. Peters Mentor und alter Freund hatte sich kaum verändert, sah erholt und zufrieden aus. Die Haare waren weniger und völlig grau geworden, aber insgesamt schien ihm das Rentnerdasein gut zu bekommen. Die Männer schüttelten sich die Hände, betraten gemeinsam das Haus. Bei Peter meldete sich das schlechte Gewissen. Es war über ein Jahr her, dass er Liebrich besucht hatte. Damals hatte er in einem komplizierten Fall den Rat des Alten gebraucht – und erhalten. Seitdem hatte er immer wieder vorgehabt, auf ein Glas Wein vorbeizukommen. Irgendwie hatte es sich nie einrichten lassen. Zuviel Arbeit, zu viele Verpflichtungen, versuchte Peter sich selbst zu entschuldigen. Aber im Grunde wusste er, dass es keine besondere Erklärung gab.

»Sie sehen gut aus. Als hätten Sie Urlaub gehabt«, sagte er und kam sich steif dabei vor.

»Ich habe jeden Tag Urlaub, mein Junge.« Liebrich kniff die Augen zusammen, betrachtete Peter prüfend. »Du siehst übrigens richtig scheiße aus. Schlechten Tag erwischt?«

»Danke, Sie sind jetzt der Dritte, der mir das sagt.«

»Na, dann wird wohl was dran sein«, lachte Liebrich sein trockenes Lachen. »Was führt dich zu mir?«

Sie saßen an der geöffneten Terrassentür, den hinteren Gartenbereich im Blick. Peter hatte ein kaltes Bier in der Hand, Liebrich trank trockenen Weißwein. Der alte Mann strich über das Kondenswasser am Glas, malte geometrische Muster.

»Bist du dir bewusst, was du von mir verlangst?«, brach Liebrich die Stille, die entstanden war. »Bist du dir wirklich im Klaren darüber, worauf du dich einlassen willst? Das ist verdammt noch mal keine Micky-Maus-Truppe.«

Peter trank nachdenklich einen Schluck aus der Flasche, den Blick irgendwo in weite Ferne gerichtet. Das Bierglas stand unbenutzt auf dem Tischchen vor ihm.

»Ich habe es mir sehr genau überlegt«, sagte er schließlich. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Sah den alten Mann an. Setzte erneut an, etwas zu sagen, ließ es bei einem Grunzen bewenden.

»Lass uns das Ganze noch mal rekapitulieren, Peter. Es besteht kein Zweifel an seiner Schuld?« Liebrich trank sein Glas aus, füllte sich nach, trank wieder. Auf der Stirn zeigte sich eine tiefe Falte.

»Nicht nach menschlichem Ermessen«, sagte Peter. »Alle Fakten, alle Indizien sprechen gegen ihn. Er hat den Jungen entführt. Das ist ein Fakt.«

Er strich mit dem rechten über den ausgestreckten linken Daumen, um das Gesagte zu unterstreichen.

»Er war mit dem Jungen allein in seiner Wohnung. Fakt.«

Daumen über Zeigefinger.

»Er hatte sich völlig zugedröhnt. Fakt.«

Diesmal der Daumen über den Mittelfinger.

»Das Nächste, was wir wissen: dass der Junge über den Balkon drei Stockwerke tief auf den Asphalt geknallt ist. Ebenfalls ein Fakt.«

Peter bewegte den Daumen über den Ringfinger, hielt plötzlich inne. Seine Stimme war immer leiser geworden, Bitterkeit im Raum verbreitend.

»Er hat ihn einfach über den Balkon geworfen? Ist das gesichert?«

»Es spricht alles dafür.« Peter hatte sich wieder gefangen, trank sein Bier aus. Liebrich zauberte ein weiteres aus dem Kühler, den er neben dem Tisch postiert hatte.

»Wir nehmen an, die Situation ist eskaliert. Nicolas hatte sich in die Hose gemacht. Er muss vor Angst wie paralysiert gewesen sein. Ich denke, Kerner ist ausgeflippt, als er das gesehen hat. Entweder das oder er hat einen lichten Moment gehabt und erkannt, in welche Situation er sich gebracht hatte – ist dann vollends ausgerastet, wollte verhindern, dass der Junge aussagen kann.«

Peter schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Was geht in jemand vor, der so stoned ist?«

»Das ist alles ein bisschen dünn, mein Junge.« Liebrichs Stimme war fast sanft. »Da bleibt zum einen die verminderte Schuldfähigkeit wegen seines Zustandes.« Der pensionierte Kriminalrat trank einen weiteren Schluck, jetzt ganz der alte Spürhund. »Dann stellt sich die Frage: Ist der Junge gestoßen worden – oder ist er gesprungen in seiner Angst?«

Peter machte eine wegwerfende Bewegung. »Das ist für mich völlig irrelevant. Zum Zeitpunkt der Entführung war der Mistkerl vollständig bei Verstand. Das Kokain kam erst später. Und ich glaube nicht, dass Nicky gesprungen ist. Er hat, wie die Spuren deutlich zeigten, in einer Ecke gehockt, wahrscheinlich völlig eingeschüchtert. Genau dort hat er sich die Hose nass gemacht. Der wäre nicht plötzlich aufgesprungen, der war wie gelähmt.«

Er steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Die Erregung blieb.

»Außerdem ist es völlig egal«, fuhr er fort. »Wenn er tatsächlich gesprungen ist, dann liegt die Schuld daran allein bei Kerner.«

»Juristisch gesehen ist das aber schon ein Unterschied, das weißt du?« Liebrich wusste, wie schwach das klang – aber er bemühte sich, den Fall möglichst emotionslos zu betrachten. Es ging um eine Entscheidung von gewaltigen Ausmaßen und er fragte sich, ob sich Peter darüber hundertprozentig im Klaren war.

»Das erklären Sie bitte mal Angela.« Peter lachte bitter.

Liebrich fixierte ihn und seine Augen schienen sich in Peters Innerstes zu bohren.

»Du liebst sie, nicht wahr?« Es war weniger eine Frage. Liebrichs Menschenkenntnis war Legende.

Peter hatte gerade zu einem Schluck Bier angesetzt, hielt mitten in der Bewegung inne, als hätte ihn eine unsichtbare Macht gestoppt.

Einen Moment schien er unfähig, etwas zu sagen. Trank schließlich das Bier aus, setzte die Flasche ab. Sah Liebrich an und nickte.

»Vielleicht. Ich weiß es nicht.«

Heiner Liebrich seufzte, kratzte sich am Kinn.

»Ich glaube, du solltest dich auf einen langen Abend einrichten. Ich möchte die ganze Geschichte hören.« Liebrich stand auf und schlurfte in die Küche, kam mit neuen Getränken zurück.

»Ich werde ein Taxi nehmen müssen«, sagte Peter.

»Du kannst hier schlafen, im Gästezimmer. Ich muss nur das Bettzeug finden. Zu dumm, dass Martha gerade jetzt nicht da ist. Aber das wird schon gehen – und etwas zu essen kriege ich auch noch hin. Magst du Spiegeleier mit Schinken?«

Peter musste lachen. »Und zum Frühstück? Schinken mit Spiegeleiern?«

Angela ging schnellen Schrittes durch den strömenden Abendregen. Sie hatte kein Ziel, musste nur raus aus der Wohnung. Zu viele düstere Gedanken. Sie trug keinen Regenschirm, obwohl sie schon nach wenigen Minuten nass bis auf die Haut war.

Ein Schirm hätte sie behindert. Sie wollte nicht Kerner über den Weg laufen und dann kostbare Zeit damit verschwenden, mit dem Schirm zu hantieren. Sie fasste zum wiederholten Mal nach der Beretta in der Manteltasche. Der kalte Stahl hatte etwas Beruhigendes – und gleichzeitig Erschreckendes – an sich.

Wo hört vernünftige Vorsicht auf und wird zu Besessenheit, fragte sie sich. Ist das noch gesunder Menschenverstand, dass sie ständig damit rechnete, dass Kerner aus einer dunklen Hausecke auftauchte, bereit, sich auf sie zu stürzen? Oder fange ich langsam an, verrückt zu werden?

Sie war froh gewesen, Peters Stimme am Telefon zu hören. Er hatte von Liebrich aus angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er heute nicht zu ihr kommen würde.

Sie hatte einen Stich der Enttäuschung verspürt – und sie fragte sich, warum das so war. Vielleicht, weil sie sich sicherer in Peters Gegenwart fühlte? Ja, natürlich. Aber das war nicht alles.

Da waren noch andere Gefühle in ihr, verborgen unter dem Mantel der Entschlossenheit und der Wut, der Trauer. Sie beschloss, vorerst nicht darüber nachzudenken.

Eine Windböe überwand den Schutz ihres Mantels und schickte ihr einen kalten Schauer über den Körper. Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut ausbreitete.

Was mache ich hier eigentlich, fragte sie sich. Peter hatte ihr versichert, dass alles gut werden würde. Dass er kurz davor war, eine Lösung gefunden zu haben. Sie vertraute ihm bedingungslos, hatte versprochen, dass sie warten würde.

Langsam machte sie kehrt, zurück zu der Geborgenheit ihrer Wohnung. Ihrer Trutzburg. Seit Nickys Tod war sie selten weggegangen, hatte sich lieber in den Schutz ihrer eigenen vier Wände zurückgezogen. Hier konnte sie sie selbst sein, war nur sich verantwortlich. Keine sozialen Regeln, die zu befolgen waren, keine Rücksichtnahme, kein Schauspielern. Sie hatte kein Problem damit, mit Menschen zu kommunizieren, war weder schüchtern noch eigenbrötlerisch. Sie hatte nur einfach keine Lust mehr, nach den Regeln der anderen zu spielen. Sie ging ihren eigenen Weg, und wenn das bedeutete, dass sie allein blieb, war ihr das recht.

Sie dachte an die vielen Montage, wenn sie zur Arbeit kam und das übliche Getratsche über die Wochenenderlebnisse die Runde machte. Sie hielt sich, so weit es ging, raus. Aber natürlich kam zwangsläufig auch die Frage an sie:

»Und was hast du Schönes gemacht?«

Sie antwortete dann meistens unbestimmt, etwas wie »Nichts Besonderes…« sagend, oder: »Ich war nicht in der Stadt, hab Freunde besucht.«

Sie kannte die Mechanismen genau. Wenn sie mit der Wahrheit gekommen wäre, hätte das nur Komplikationen verursacht.

»2,3 Gläser Wein, eine CD von den Stonesoder Grönemeyer, ein Buch von Kathy Reichs, die zigste Wiederholung von »rPetty Woman« im Fernsehen …«

Sie wäre schnell als einsam, unglücklich abgestempelt gewesen.

Oder schlimmer noch: als verfügbar.

Verzweifelt auf der Suche nach einem Mann.

Sie brauchte das alles nicht. Weder das Mitgefühl noch den Spott ihrer Kollegen – und schon gar nicht ihr Buhlen. Sie ließ die anderen in Ruhe und wollte selbst nichts Anderes: Einfach ihrn Frieden.

Mit Peter war das anders.

Sie strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, spürte gar nicht, wie sie lächelte. Peters erste Berührung war das sanfte Wegstreichen ihrer Haare aus einem nassen Gesicht gewesen. Nur dass es damals Tränen waren, kein Regen.

Wie lange war das jetzt her? Sie konnte sich nicht erinnern. Peter war ihr so vertraut geworden, so selbstverständlich. Als sei er schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen.

Sie war vor ihrem Apartmentblock angekommen, ohne es zu registrieren. Sah sich noch einmal um, bevor sie die Haustür aufschloss, zum Fahrstuhl ging und nach oben fuhr. Zu einem Glas Wein, einem Buch und Musik von den Stones. Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam.

Das Hotel Adler hatte den Namen schon längst nicht mehr verdient, war zu einer schäbigen Absteige in Mitte verkommen. Genutzt fast nur noch von den Damen des horizontalen Gewerbes für die schnelle Nummer und den schnellen Euro. Und es waren nicht die Edelnutten, die sich mit ihren Kunden an dem einäugigen Portier Werner Hagemann vorbeidrückten. Die ihren Obolus für eins der lausigen Zimmer entrichteten und meistens rascher wieder verschwunden waren, als es selbst der Begriff Stundenhotel suggerierte. Dies war kein Ort für einen längeren Aufenthalt. Kein Champagner nach der Übung im Bett. Hier wurde nicht einmal ein schales Bier getrunken. In diesem Etablissement wurde lediglich entsorgt und die Zigarette danach wurde auf der Straße geraucht. Auf dem Weg zurück in die miese Kneipe, in der man auf die krude Idee gekommen war: Dass eine Nutte mit übleren Augenringen als man selbst, eine willkommene Abwechslung sein könnte.

Auf eine gewisse Art und Weise war das sogar ehrlicher als es sonst oft der Fall war. Kein unnötiges Getue, keine falschen Liebesschwüre und vorgetäuschten Orgasmen. Erleichterung gegen Geld, unprätentiös und nüchtern. Hagemann war es recht. Der Frührentner hatte kaum mehr zu tun als auf prompte Bezahlung zu achten. Wenn es, was selten vorkam, Ärger mit betrunkenen Gästen gab, hatte er eine Telefonnummer zur Verfügung. Wählte er diese, rief das zwei schwere Jungs auf den Plan, die innerhalb weniger Minuten da waren und sehr schnell für Ordnung sorgten.

Für die Reinigung der Zimmer waren einige meist türkische Putzfrauen zuständig. Die erzeugten einmal täglich oberflächliche Sauberkeit und waren noch flotter wieder weg als die Damen mit ihren Freiern. Was blieb, waren lange Nächte vor dem winzigen Fernseher, Kreuzworträtsel und Landser-Hefte. Hagemann war zufrieden.

Das war Alex auch. Er kannte Hagemann von einigen Abstechern hierher. Zeiten, in denen es nicht so gut gelaufen war und er nicht wählerisch sein konnte in der Wahl seiner Kunden. Freier, die er ungern zu sich nach Hause mitgenommen hätte.

Die kleine Restwürde des Anschaffenden.

Für ein lächerliches Entgelt hatte er einen Raum im dritten und obersten Stock bezogen, ein Zimmer, das sich abschließen ließ und in dem ihn niemand stören würde. Hagemann war verschwiegen, fragte nicht nach dem Warum. Er würde einem Dritten gegenüber nicht erwähnen, dass er einen Gast beherbergte, der aus dem üblichen Rahmen fiel.

Alex hatte ihm fünfzig Euro zusätzlich zugesteckt, um seine Diskretion ein wenig zu zementieren. Der Portier hatte ihm grinsend versichert, er würde ein Auge zudrücken. Und um sicher zu gehen, dass der grandiose Scherz verstanden wurde, hatte er die Klappe über dem vernarbten, rotblauen Gewebe angehoben, das einst sein rechtes Auge umschlossen hatte.

Alex Brinkmann lag angezogen auf dem ungemachten Bett und starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf den kleinen Fernseher. Darauf lief ohne Ton ein amerikanischer Film aus den Achtzigern, flackernde Muster an die Wand werfend. Sylvester Stallone als Rocky Balboa verzog den schiefen Mund, sagte etwas zu… wie hieß er noch? Paulie. Das war es. Paulie, der kleine dicke Paulie, dachte Alex mit einem Anflug von Stolz. Dumm, dass er nicht verstehen konnte, was gesprochen wurde. Die Fernbedienung funktionierte nicht und Alex überlegte seit zehn Minuten, ob er aufstehen sollte, um den Ton anzuschalten. Er konnte sich nicht aufraffen. Eigentlich sollte er Pläne schmieden, sich einen Schlachtplan für sein weiteres Vorgehen zurechtlegen. Aber seine Gedanken schweiften ständig ab, ließen sich nicht einfangen und lenken. Es war gut, wie es war. Seltsam, dachte er. Eigentlich sollte nichts gut sein. Da draußen, in der Schwärze der Nacht, in dieser rastlosen, grausam kalten Stadt, lief ein Jäger auf der Suche nach ihm durch die Straßen. Er kicherte leise vor sich hin. Das war eine fast schon poetische Vorstellung. Er hätte vielleicht nicht soviel Stoff nehmen sollen. Er musste klar denken können, um… ja, warum eigentlich? Er konnte sich einfach nicht erinnern. Was für ein Höllenzeug hatte er da nur gespritzt?

»Wegen Kerner«, sagte die Stimme im Fernseher eindringlich. Stimmt, dachte Brinkmann und kratzte sich die Stirn. Nein, stimmt nicht. Der kann nichts sagen, weil der verdammte Ton aus ist. Er kniff die Augen zusammen, fokussierte den schmutzigen Bildschirm.

»Thomas Kerner«, sagte Rocky Balboa ein weiteres Mal und sah ihn durchdringend an. Der schiefe Mund zuckte unkontrolliert.

»Halts Maul! Du kannst nichts sagen!«, glaubte Alex zu brüllen. Was wirklich herauskam, war ein unverständliches Gemurmel, guttural und schrill zugleich. Das Rauschgift hatte seine volle Wirkung erreicht.

»Ich komm dich holen« sagte Rocky, dessen Mund immer schiefer wurde. »Endlich habe ich dich gefunden.«

Ich bin auf einem Wahnsinnstrip, dachte Alex. Das ist ein Albtraum. Die haben den Stoff gepanscht, verdammt, die haben da irgendwas reingetan, das einen irrewerden lässt.

Er schloss die Augen, hielt sich die Hände vors Gesicht. Das ist nur ein schlechter Trip. Das ist nicht echt, schrie Alex in seinen Gedanken. In Wirklichkeit war nur ein ersticktes Gurgeln zu hören. Speichel lief aus beiden Mundwinkeln, tropfte auf das schmierige Kopfkissen.

»Schön, dich wieder zu sehen«, sagte die Stimme jetzt. Nur dass es nicht mehr die Stimme von Sylvester Stallone war.

Eine gewaltige Ladung Panik schnitt wie ein Schwert durch Alex Brinkmanns Drogenbarrikade, traf ihn mitten im ungeschützten Nerv. Wie eine gut gedrillte Armee gingen alle Körperhaare gleichzeitig in Hab-Acht-Stellung. Er riss die Augen auf.

Der Mann stand über ihn gebeugt, ein schiefes Lächeln im Gesicht, das nicht bis zu den eiskalten Augen reichte. Er zog sich mit einer fast lasziven Bewegung schwarze Handschuhe über die manikürten Hände.

»Wir werden viel Spaß haben. Wie in alten Zeiten«, sagte Thomas Kerner mit heiserer Stimme, während er das mitgebrachte Etui öffnete und ihm einen länglichen Gegenstand entnahm, der im Licht der nackten Glühbirne aufleuchtete.

Alex erkannte sofort, um was es sich handelte. Es war so ein Messer, wie es Sylvester Stallone als Rambo benutzt hatte.

Er wusste jetzt, dass dies kein Albtraum war. Dies war viel schlimmer.

Sie deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf das lässig hochgehaltene Glas in ihrer Linken, signalisierte dem Kellner damit, ihr noch einen Chablis zu bringen. Sie war Mitte vierzig, kleidete sich wie dreißig und fühlte sich seit Jahren wie zwanzig. Seit vier Jahren auf den Tag genau, um es ganz präzise auszudrücken. Seit dem Tag ihrer Scheidung, als sie schlagartig von einer unglücklichen, abhängigen Ehefrau eines Wirtschaftsmagnaten zu einer unverschämt reichen, glücklichen und mit allen Freiheiten gesegneten Ex mutiert war. Eine Metamorphose, die ihrem einstigen Ehemann die widerwillig bewundernde Aussage entlockt hatte, er sei noch niemals so über den Tisch gezogen worden.

Alles an Karin Kabrinsky war ein wenig zu viel. Angefangen bei den heute platinblond gefärbten Haaren, über die grellrot geschminkten Lippen bis zu den gewaltigen Mengen an Make-up, die ihre sonnengebräunte Haut allenfalls erahnen ließen.

Um den Hals und an den Handgelenken funkelte Schmuck, der wesentlich teurer war, als er von Geschmack zeugte. Alles etwas protzig und zu schwer.

Unter der schrillen Fassade jedoch verbargen sich ein messerscharfer Verstand und ein Herz auf dem rechten Fleck. Vorausgesetzt, Karin Kabrinskys allgegenwärtiger Zynismus zeigte sich bereit, dem Herz eine Chance zu lassen.

Der Kellner, ein Mittzwanziger mit gegelten schwarzen Haaren und fliehendem Kinn, kam auf sie zu.

»Dasselbe noch mal?«, fragte er mit der forschen Lässigkeit der Jugend.

Sie bedachte ihn mit einem Blick, der ihn scheinbar schrumpfen ließ.

Dasselbe was?, dachte sie indigniert. Dasselbe Glas? Und Herrgott nochmal: Lernte man heute nicht mehr, in ganzen Sätzen zu sprechen?

»Nicht ganz«, sagte sie schließlich mit einem leichten Seufzen in der Stimme. »Aber da Sie so eifrig um mein Wohl bemüht sind, können Sie mir gern nochmal das Gleiche bringen.«

Der junge Mann sah sie verständnislos an. Sein Gesicht hatte eine rötliche Färbung angenommen. Irgendetwas in ihm hatte sehr wohl registriert, dass diese überkandidelte Alte dabei war, ihn zum Deppen zu machen. Aber er konnte ums Verrecken nicht den Finger drauf legen.

»Also darf es noch ein Chablis sein.« Die Stimme des Kellners wurde mit jedem Wort dünner, bis sie sich völlig verloren hatte.

»Das darf es und soll es«, sagte sie milde.

Und dann, als das Gesicht des Kellners leer blieb, mit einem weiteren Seufzen:

»Bringen Sie mir ganz einfach ein neues Glas mit Chablis. Und bitte pronto ...«

An den Nebentischen waren andere Gäste auf die Szene aufmerksam geworden.Sie beobachteten fasziniert, wie ein schwitzender Kellner noch ein wenig kleiner zu werden schien und sich schließlich hastig entfernte.

Karin kramte mit einem nur halbherzig unterdrückten Grinsen im Gesicht in ihrer Tasche auf der Suche nach Zigaretten. Fand die Schachtel und das mit Edelsteinen verzierte Feuerzeug und steckte sich eine Dunhill an. Sie hatte einmal tief inhaliert, als der Kellner mit dem Wein auch schon wieder zurück war. Er stellte das Glas ab, verschüttete ein wenig davon.

»E-es tut mir Leid, aber Sie können hier nicht rauchen«, stammelte er, ohne sie anzusehen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. »Nichtraucherlokal.«

Sie betrachtete ihn von oben bis unten mit einem müden Lächeln. »Wollen Sie mir die Fähigkeit zu rauchen absprechen?«

Der Kellner antwortete nicht, starrte nur vor sich hin.

»Was Sie meinen, mein Lieber, ist: Ich darf hier nicht rauchen! Was übrigens schlimm genug ist. Und es tut Ihnen ganz gewiss nicht leid. Also ersparen Sie sich – und mir – die Plattitüden.«

Sie drückte, in Ermangelung eines Aschenbechers, die qualmende Zigarette dem völlig verzweifelten Kellner in die Hand und entließ ihn mit einem süffisanten: »Und das mit den ganzen Sätzen üben wir noch, nicht wahr?«.

Ihr Handy meldete sich unverschämt laut. Sie ließ es eine Weile klingeln, bevor sie die anderen Gäste erlöste und den Anruf entgegennahm.

Während sie mit großem Vergnügen die verstohlenen Blicke aller auf sich spürte, hörte sie Angela Hansens vertraute Stimme im Hörer. Alle Überheblichkeit in ihrem Gesicht wich echter Freude. »Angie-Liebling! Tut das gut, dich zu hören!«

Eine Weile hörte sie nur zu, nickte ab und an, murmelte Zustimmung. Dann sah sie auf die Uhr.

»Warte mal, es ist jetzt neun. In einer halben Stunde bin ich bei dir.« Kramte einen Zwanziger und einen Zehner aus der Tasche und ließ ihn auf dem Tisch liegen. Schlüpfte in ihre knallrote Versace-Jacke und verließ eilig das Lokal.

Ein erleichterter Kellner löste sich aus seinem Versteck, kassierte die Scheine und sah ihr hinterher, bis sie durch die Tür war. Er war sich sicher: Noch niemals hatte er sich ein großzügiges Trinkgeld so sehr verdienen müssen wie heute.

Sie hatten Liebrichs Eier mit Schinken gegessen, zusammen abgewaschen und die Küche aufgeräumt. Während Liebrich die Getränkevorräte auffrischte, meldete sich Peter telefonisch bei Karl.

»Alles ruhig an der Russenfront«, bekam er zu hören. Karls lakonischer Ton konnte nicht verhindern, dass Peter ein schlechtes Gewissen hatte. Er hätte jetzt zusammen mit seinem Kollegen auf einem langweiligen, sich endlos hinziehenden Beobachtungsposten sein sollen. SOS nannten sie es, Sinnlose Observierungs Schikane. Das Beobachten der verdächtigen Russen, die sich nicht die Blöße geben würden, auch nur falsch zu parken, solange das Auge des Gesetzes wachsam auf ihnen ruhte. Lorenz‘ spezielle Art, ihnen zu zeigen, wie sehr er sie schätzte.

»Ich bin dir wirklich dankbar…« begann Peter.

»Mach dir keinen Kopf, mein Alter. Ich schaukel das hier schon. Sieh du nur zu, dass du deine Probleme löst. Und grüß mir Liebrich!«, unterbrach ihn Karl.

»Mach ich. Und du hast was gut bei mir.«

»Und ob!«, sagte Karl und beendete das Gespräch.

An den Wänden hingen Kunstdrucke von Monet. Das schwere Bücherregal enthielt ein paar Bildbände über Gartenpflanzen, Fotografie. Reiseführer. Nördliche Ziele hauptsächlich. Norwegen, Schweden, Finnland. Natürlich Schottland.

Peter fand wenig Belletristik. Einige Klassiker. Dostojewski, Tolstoi. Camus. Schiller und Goethe, Shakespeare. Biographien von Brandt, Einstein, Kennedy. Bunt gemischt. Er nahm einen Band über die ägyptischen Pyramiden aus dem Regal, blätterte beiläufig darin. Bauwerke, die heute noch Rätsel aufgaben. Genau das Richtige für einen pensionierten Kommissar, dachte er.

»Da hat mich Martha hingeschleppt, gegen meinen Willen«, sagte Liebrich lächelnd. Er kam mit einer Flasche Glenlivet und zwei Gläsern in das Wohnzimmer zurück. »Zu warm, zuviel Sonne für mich. Aber ihr hat’s gefallen. Hat auf den Basaren gefeilscht, als hätte sie nie was anderes gemacht.«

»Ihre Frau und Feilschen?« Peter klang ungläubig und amüsiert.

»Und ob! Sie haben sie trotzdem beschissen. Aber sie hatte das Gefühl, wirkliche Schnäppchen rausgeholt zu haben. War stolz und glücklich. Und darauf kommt es an… Ich hab sie in dem Glauben gelassen.«

Liebrich wirkte plötzlich zehn Jahre jünger. Während die Erinnerung auf ihn wirkte, waren seine Züge weicher und entspannter geworden.

»Sie beide müssen sehr glücklich miteinander sein«, sagte Peter leise.

»Seit über fünfzig Jahren, mein Junge. Ohne sie hätte ich das nicht überstanden.« Liebrich sagte nicht explizit, was er damit meinte. Peter wusste es auch so. Polizeiarbeit war so etwas wie soziale Müllabfuhr. Man wurde mit Dingen konfrontiert, die andere Menschen nicht einmal ahnten. Die Perspektive machte den Unterschied aus.

Wenn man in den Nachrichten von einem Kindesmissbrauch erfuhr und für ein paar Sekunden Abscheu verspürte, dann folgte unmittelbar danach schon die nächste Schlagzeile. Man war so schnell wieder abgelenkt, hatte andere Neuigkeiten zu verarbeiten.

Anders, wenn man mitten im Geschehen war. Wenn man ein Kleinkind vor sich hatte, dessen Genitalien rot und aufgerissen und auf das Vielfache angeschwollen waren. Seinen Peinigern im Verhör gegenüber saß und als einzige menschliche Regung die Angst vor den Konsequenzen verspürte, nicht etwa Schuldgefühle oder Bedauern. Den blanken Horror in den Augen des Kindes mit nach Hause nahm und nicht wieder loswurde.

Peter dachte an die Toten, die Verstümmelten. Gesichter im Todeskrampf verzerrt. Menschen, denen das grundlegendste Recht, das auf Leben, verwehrt worden war. Denen Männer wie er und Liebrich nicht mehr Gerechtigkeit verschaffen konnten, als die Täter zu finden und ihre Bestrafung dann in die Hände der Gerichte zu legen.

Er dachte an die Verzweiflung derjenigen, die ihr Liebstes verloren hatten und deren einziger Trost darin bestehen konnte, die Verursacher des Leids dafür bestraft zu sehen. Und was war das für eine schale Genugtuung, die niemanden zurück ins Leben holen konnte, die nicht zurückbrachte, was für immer verloren war.

Und selbst diese Tröstung wurde den Menschen oft genug verwehrt. Polizeiarbeit konnte immer nur die Grundlage eines Prozesses sein, der sich zum Ziel setzte, wenn schon nicht Wiedergutmachung, so doch wenigstens eine Form der Bestrafung zu betreiben. Peter hatte es zu oft erlebt. Marginale Lücken in der Beweisführung, Verfahrensfehler, Beweise, die vor Gericht nicht zulässig waren, obwohl sie eine eindeutige Schuldzuweisung ermöglicht hätten. Zu viele Verbrechen, die ungesühnt blieben, weil die Formalitäten schwerer wogen als das eigentliche Unrecht. Zu viele Angehörige, deren Leben nie wieder dasselbe sein würde. Einfach, weil findige Anwälte das Fundament des Rechtssystems solange umgruben, bis es zu wacklig geworden war, um der Gerechtigkeit einen Halt zu bieten.

Peter dachte an die einsamen Abende in Gesellschaft der Geister und Dämonen, die ihn heimsuchten und bis in seine tiefsten Träume verfolgten. Ungebetene Gäste und doch so vertraut, dass er sie zu vermissen schien, wenn sie ihm tatsächlich einmal seine Ruhe ließen. Wenn der Whisky wenigstens zeitweise wirkte und ihn für eine Weile vergessen ließ. Aber die Dämonen blieben nie lange weg - und mit jedem Fall wurden es mehr. Ruhelose Seelen, vor ihrer Zeit aus dem Leben gerissen, vielleicht nur auf der Suche nach einem Ort, der ihnen endlich Frieden geben würde. Sie hatten sich bei ihm eingenistet, weil er sich eingemischt hatte. Eingemischt und letztendlich versagt. Denn was immer er tat, egal ob es zu einer Verurteilung kam oder nicht: Er konnte nie genug tun. Er konnte nicht die Zeit zurückdrehen, konnte Tote nicht zum Leben erwecken, war immer zu spät in dem, was er tat. Vielleicht suchten sie ihn heim, weil genau das sein Fluch war: Er trat immer erst dann in Erscheinung, wenn das Verbrechen geschehen, das Leben ausgelöscht war. Er war mehr Pathologe als Arzt. Er konnte nicht eine einzige Tat verhindern, sondern nur versuchen, sie aufzuklären. Vielleicht war es das, was ihm die Gesichter sagen wollten. Und vielleicht wurde er auch einfach nur langsam verrückt.

»Peter?« Liebrich sah ihn nur an, reichte ihm das gut eingeschenkte Glas mit dem edlen Tropfen aus dem Speyside Tal. Es bedurfte keiner großen Worte, um sich zu verstehen. Sie tranken beide schweigend.

Nach einer endlosen Minute nahm der alte Mann den Faden wieder auf und ermutigte Peter, die Geschichte von Beginn an zu erzählen.

»Wo genau soll ich einsetzen? Beim Anfang der Ermittlungen?«

»Erzähl mir von Angela. Wie ist sie zu Kerner gekommen?«

Peter steckte sich erneut eine Zigarette an, sammelte sich. »Angela hatte nach dem Tod ihrer Mutter eine Weile mit Nicky an der Küste gewohnt, sich um ihren Vater gekümmert. Nickys Vater hatte sich kurz vorher abgesetzt, aber da war die Beziehung längst gestorben. Sie müssten ihn noch kennen. Charles Kaufmann …«

»Drogenhandel, Waffenschmuggel.« Liebrichs Gedächtnis war immer wieder ein Phänomen. »Wir haben ihn zwei-drei Mal einkassiert. Ließ sich aber nie was beweisen… Der war der Vater des Jungen?«

»Er war wohl auch durchaus charmant. Angela hat von seinen Geschäften nichts geahnt«, sagte Peter und merkte, dass er sofort in die Verteidigung ging. Er hatte sich selbst schon gefragt, wie wahrscheinlich es war, dass Angie völlig ahnungslos mit einem Schwerkriminellen zusammengelebt hatte. Aber er hatte den Gedanken immer schnell beiseite gewischt. Er nahm einen tiefen Zug von der Lucky Strike.

»Nachdem ihr Vater gestorben war, kam Angela mit dem Jungen nach Berlin zurück. Das Geld, das sie geerbt hatte, hätte locker zum Leben gereicht. Aber Angela wollte unbedingt wieder arbeiten.«

»Sie hatte Physik studiert?« warf Liebrich ein. »Physik, Englisch und ein paar Semester Mathematik«, gab Peter zurück. »Nichts davon beendet. Der Job als Assistentin von Kerner kam wie aus heiterem Himmel. Es war eine Riesenchance – und sie hat sie genutzt. »

»Wie kam es dazu? Ihre Referenzen waren nicht gerade überwältigend, wenn sie nichts beendet hatte …«.

»Sie haben sich auf der Party einer Freundin kennen gelernt. Kerner war ganz Gentleman. Und Angela war das, was er gesucht hat: ein Vehikel für sein Streben nach Ruhm und Glamour. Er erkannte sofort ihr Potenzial. Gut aussehend, intelligent, redegewandt. Mit Grundkenntnissen seiner Arbeit versehen, ideal, um ihn nach außen zu vertreten. Es war perfekt für beide.« Peter nahm einen Schluck Whisky, ließ ihn einen Moment im Mund wirken, bevor er ihn die Kehle hinunter rinnen ließ. Einen Mundvoll Bier hinterher zum Nachspülen. »Jedenfalls am Anfang.«

»Was ist passiert?«

»Angela verbiss sich in die Arbeit. Wurde weit mehr als eine Assistentin, bügelte Fehler von Kerner aus. Nicht im Kern seiner Forschungen – dafür reichte ihr Wissen nicht. Aber sie entdeckte unlogische Formulierungen, falsche Ableitungen. Schrieb seine wirren Arbeiten um. Er muss ziemlich viel gekokst haben zu der Zeit. Sie hielt ihn zusammen.«

Peter starrte nachdenklich vor sich hin, bemüht, die Chronologie der Entwicklung richtig wiederzugeben.

»Sie sind dann zwei-drei Male miteinander ausgegangen. Angela ging bei ihm ein und aus, rein beruflich. Nicky war oft dabei, weil sie ihn nicht allein lassen wollte. Wenn Kerner wieder einmal ausfiel, übernahm Angela die Präsentation seiner Arbeiten. Sie hielt die Vorträge, die er halten sollte. Sie sprach mit Vertretern der Fachbereiche, handelte Forschungsgelder aus. Sie war der gute Geist des Unternehmens Kerner. Bis er sein wahres Gesicht zeigte.« Peters Mundwinkel hatten sich verächtlich nach unten verschoben. Beide tranken einen Schluck. Liebrich stellte keine Zwischenfrage, hörte nur aufmerksam zu.

»Kerner ging dazu über, zweideutige Bemerkungen zu machen. Erst ganz subtil, sodass sich Angela nicht ganz sicher war.« Peter schnaubte. »Das ist vielleicht das Einzige, was man ihr vorwerfen kann: ihr naiver Glaube an das Gute im Menschen …«.

»Wie äußerte sich das?«, wollte der pensionierte Kriminalrat wissen.

»Andeutungen über das tolle Verhältnis, das sie hätten. Dass man das doch ausbauen könnte. Dass es nicht gut für eine so hübsche, junge Frau sei, wenn sich nicht ab und zu ein Mann um sie kümmern würde …«

»Wie Kerners Art, sich um eine Frau zu kümmern aussieht, kann ich mir denken.«

»Ja, Sie… aber Angela hat es nicht wahrhaben wollen. Bis zu diesem einen Abend im Dezember. Kerner hatte sie zum Essen ausgeführt. Um die gerade erfolgte Bereitstellung weiterer Forschungsgelder zu feiern, wie er sagte. Er war schon angetrunken erschienen. Stellte ihr eine Gehaltserhöhung in Aussicht, wenn sie ihm dafür ein bisschen entgegenkäme. Auf ihre Frage, wie das gemeint sei, grinste er nur und ließ seine Zunge spielen. Sie wissen schon, auf diese obszöne Art, rein und raus. Wie eine Schlange…«

Peter drückte seine Zigarette aus, trank sein Glas leer. Wirkte fahrig. Hielt bereitwillig sein Glas zum Nachschenken hin. Liebrich goss sich ebenfalls einen weiteren Schluck ein, nickte Peter aufmunternd zu.

»Angela war sprachlos, angewidert. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihr klar, was für ein Scheißkerl Kerner war. Plötzlich ergaben all die Andeutungen, Zweideutigkeiten einen Sinn. Dieser egomanische Widerling machte sie auf die primitivste Art und Weise an – und das im Beisein des Kleinen.«

Der Anflug eines Lächelns breitete sich in Peters Gesicht aus. Er beugte sich vor, näherte sich Liebrich bis auf wenige Zentimeter, als hätte er ein ganz besonderes Geheimnis zu teilen.

»Sie nahm sein Glas und schüttete es ihm ins Gesicht. Sein Glas, wohlgemerkt. Ihr eigenes trank sie aus. Knallte ihm mitten im Lokal eine volle Rechte vor den Latz.« Peter ließ das sacken, bevor er weitersprach, das Grinsen jetzt breiter. »Schnappte sich den Jungen, ließ den völlig fassungslosen Kerner sitzen und weg war sie. Im Lokal war es totenstill. Alle starrten Kerner an… muss ein wahrlich großer Abgang gewesen sein.«

»Und das Ende des guten Verhältnisses, nehme ich an«. Humor der Marke Liebrich.

»Mehr als das.« Jetzt wieder ernst, das Lächeln nur ein kurzes Intermezzo. »Was dann kam, war blanker Terror.«

Er hatte die Seitenscheiben des Audis auf beiden Seiten etwas geöffnet, damit sie nicht vollständig beschlugen. Es war frisch an diesem diesigen Abend und ab und zu wehte der Wind ein paar Regentropfen ins Innere. Karl Elster fröstelte und griff nach der Thermoskanne mit ehemals heißem Kaffee. Nur noch eine Pfütze, halbkalt und schal. Er fluchte, steckte sich die zehnte Zigarette des Abends an. Im Radio lief leise Berlins einziger Rocksender. Karl hörte es kaum, war mit den Gedanken auf Reisen.

Einen Moment beneidete er Peter. Der saß jetzt im Warmen beim alten Liebrich und ließ sich genüsslich volllaufen. Oder er war mittlerweile bei Angela und versuchte, zum Stich zu kommen.

Karl schnaubte unwillig und ärgerte sich über sich selbst. Er stopfte den Gedanken schnell dorthin zurück, wo er hingehörte: in die Niederungen seines Bewusstseins. Er war ungerecht.

Der Frust einer langen, eintönigen Observierung. Er wusste nur zu gut, dass sich Peter keinen schönen Abend auf seine Kosten machte. Kerners Entlassung war ein Problem, an dem Angela Hansen zu zerbrechen drohte. Und das konnte Peter nicht zulassen, das war Elster bewusst. Er kannte die ganze Geschichte, war schließlich an der Untersuchung beteiligt gewesen. Der Tod des Jungen hatte damals auch ihn aufgewühlt. Aber er hatte das irgendwann ausgeblendet, Abstand aufgebaut. Das war nötig, wenn man an seinem Job nicht verzweifeln, wenn man weiterhin vernünftige Polizeiarbeit leisten wollte.

Anders bei Peter. Man musste kein besonders guter Menschenkenner sein, um Peters Gefühle für die schöne, verletzliche – aber leider unnahbare – Angela Hansen zu spüren. Es war Karls Beruf, in Menschen zu lesen, das Unausgesprochene zu hören, das Verborgene sichtbar zu machen. Aber Peters Interesse war so offensichtlich, das es keiner besonderen Ausbildung bedurft hätte, um das zu erkennen.

Nein, Karl Elster beneidete seinen Kollegen nicht wirklich. Er hatte keine Sekunde überlegt, als Peter ihn gebeten hatte, die Überwachung des Lokals in Wilmersdorf allein zu übernehmen. Die Russen verhielten sich ruhig, vielleicht zu ruhig. Die ganze Beschattung war Schwachsinn, vertane Zeit. Um etwas zu bewirken, hätte man Zugang zu dem Restaurant haben müssen. Dort hielten sich Pastenko und Michailovich, die ungekrönten Könige des Bezirks auf, dort führten sie Verhandlungen und trafen Entscheidungen. Aber jemand dort einzuschleusen war illusorisch. Im Übrigen war sich Karl darüber im Klaren, dass die Russen sich über ihn und seine Kollegen wahrscheinlich halb tot lachten. Zu offensichtlich die Überwachung, zu plump zur Schau gestellt. Mitten in der Badweiler Straße, genau gegenüber dem »Tolstoi«, der Zentrale der Macht. Hier pinkelte kein Hund an die Straßenlaterne, ohne dass Pastenko und Michailovich davon erfuhren. »Präsenz zeigen«, hatte es der Alte genannt, nachdem Karl seine Meinung zu der Aktion in gewohnter Manier herausgetrötet hatte. »Die sollen ruhig wissen, dass wir da sind. Dass sie sich nicht alles herausnehmen können…«.

Das war idiotisch. Peter hatte wohl Recht. Sie wollten ihn aus der Schusslinie haben. Weg von Kerner. Und Karl als sein Partner war zwangsläufig mitbetroffen.

Er fluchte erneut. Noch nicht einmal Mitternacht. Seine Ablösung würde erst in vier Stunden kommen. Mit einem resignierten Seufzer steckte er sich die nächste Zigarette an.

Draußen fuhr langsam ein neuer, weißer Mercedes vorbei. S-Klasse. Getönte Scheiben. Keine Chance, einen Blick auf den oder die Insassen zu werfen. Der Wagen hielt genau vor dem Tolstoi, versperrte dem Ermittler die Sicht darauf. Karl griff mechanisch zu dem Logbuch auf dem Beifahrersitz. Drei Einträge, wahrscheinlich ohne Bedeutung. Notierte Kennzeichen von Autos, deren Insassen das Tolstoi betreten hatten. Fotos mit dem Teleobjektiv. Gesichter, die am nächsten Tag mit der Datenbank des BKA abgeglichen werden würden. Wem sollte das nützen? Selbst wenn man Namen zu den Gesichtern fand: Was sagte das aus? Verbindungen zwischen Organisationen, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Verbrechen war? Die meisten Kontakte waren längst bekannt, gleichsam ein Muster ohne Wert. Es hatte nie Verurteilungen gegeben. Hier und da eine Festnahme vielleicht, halbherzig und eher von symbolischer Bedeutung als von wirklichem Nutzen. Und dann betrat ein gelackter Anwalt den Verhörraum, einer, dessen Anzug ein Jahresgehalt des vernehmenden Beamten wert war. Der hatte den Verhafteten schneller wieder auf freiem Fuß, als man ein Protokoll schreiben konnte.

Präsenz zeigen? Müßig, dachte Karl. Müßig und sinnlos.

Der Mercedes setzte sich plötzlich mit quietschenden Reifen wieder in Bewegung, kam kurz ins Schlingern, fing sich dann und raste die Badweiler entlang. Schoss um die Kurve und war verschwunden.

Karl starrte dem Wagen hinterher. Verdammt! Er hatte nur einen Teil des Kennzeichens erkennen können. Irgendwas ging hier vor. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung vor dem Tolstoi wahr. Er sah genauer hin und erkannte Michailovich, der mit finsterer Miene dahin schaute, wo gerade der Mercedes um die Ecke gedriftet war. Der gedrungene Russe trug einen weiten weißen Anzug, ein schwarzes Rüschenhemd und einen Panamahut. An den fleischigen Fingern glitzerten schwere Siegelringe im fahlen Licht der Laterne.

Karl fragte sich, was das eben zu bedeuten hatte. Ein Höflichkeitsbesuch war es nicht gerade gewesen. Ein zweiter Mann kam aus dem Tolstoi auf die Straße, gesellte sich zu Michailovich. Karl kannte ihn nicht. Er musste über zwei Meter groß sein. Kurzgeschorene Haare, wulstiger Hals, Muskeln, die den zu engen Anzug zu sprengen drohten. Seine Haltung hatte etwas Devotes, als er sich zu dem viel kleineren Russen beugte, der ihm etwas ins Ohr zu flüstern schien. Muskelmann nickte mehrmals, drehte sich abrupt um und überquerte die Straße, genau auf Karl zu. Direkt vor dem Audi änderte er die Richtung und hastete am Heck des Wagens vorbei, wobei er Karl aus kleinen, tiefliegenden Augen fixierte. Der zog die Nikon vom Rücksitz und schoss drei-vier schnelle Bilder, erwischte den Hünen aber nur noch von hinten. Dann war der Mann auch schon um die nächste Hausecke verschwunden.

Karl atmete tief durch. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Tolstoi zu, die Kamera weiterhin in der Hand. Sah Michailovich gerade noch im Inneren verschwinden. Und sah etwas anderes.

Der weiße Mercedes tauchte wieder auf, aus der Richtung, in die er vor Minuten verschwunden war. Diesmal raste er auf das Restaurant zu, kam schlagartig zum Stehen. Türen wurden aufgerissen, dann flog etwas Schweres auf die Straße, rollte aus und kam vor dem Eingang zum Stillstand. Karl schoss Bild um Bild, während der weiße Wagen wieder Gas gab und an ihm vorbeischoss. Dann war alles vorbei. Es war vorüber, noch ehe der Polizist das eben Gesehene verarbeitet hatte. Alles war wie vorher. Bis auf das Paket auf der Straße, aus dem langsam aber stetig ein dunkelrotes Rinnsal floss, glitzernd und funkelnd im Neonlicht der Leuchtreklame des Tolstoi.

Verdammter Mist, dachte Karl. Und Peter ist nicht bei mir. Einen Moment zögerte er, dann öffnete er die Tür und verließ den Wagen.

Vor dem Tolstoi hatten sich mehrere Männer versammelt, darunter auch Michailovich. Karl zog seine Dienstmarke mit der Linken, griff mit der Rechten nach der Waffe. Wie zum Teufel gehe ich jetzt vor, dachte er. Ein Anflug von Panik erfasste ihn. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ihn der Schlag von hinten erwischte. Karl Elster war bewusstlos, bevor sein schwerer Körper auf den Asphalt der Badweiler Straße krachte.

»Der arme Kerl hatte ja schon ein fliehendes Kinn«, lachte Karin. »Aber jetzt wollte alles an ihm nur noch weg.«

Angela lächelte auch beim zweiten Hören der Geschichte des Kellners, der heute Karins Opfer geworden war. Ihre Freundin hätte sie gern ein drittes Mal erzählen können und es hätte ihr nichts ausgemacht. Es tat gut, ihre Gesellschaft zu haben, für eine kurze Zeit unbeschwert, albern und ausgelassen zu sein. Nach ihrem ziellosen Herumwandern im Regen war ihr ihre Wohnung auf einmal trist und einsam vorgekommen. Getrieben von Unruhe war sie im Zimmer hin und hergelaufen. Von der Anlage zum Fenster, vom Fenster zur Couch, von dort wieder zur Anlage, um wahllos die CDs zu wechseln. Und das Ganze von vorn. Sie hatte immer wieder das Telefon in der Hand gehabt, Peters Nummer gewählt – und dann doch nicht angerufen. Sie wollte nicht, dass er sie für hysterisch hielt. Er war ihretwegen unterwegs, machte sich ihre Gedanken, versuchte, eine Lösung für sie zu finden. Sie hatte keine Ahnung, wie die aussehen sollte, aber ihr war klar, dass er genug um die Ohren hatte, auch ohne ihr kindisches Getue. Trotzdem, die Aussicht, einfach seine Stimme zu hören, war verlockend.

Zum Schluss hatte sie an Karin gedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Berlin war - und nichts vorhatte – war gleich Null gewesen, wenn man bedachte, dass Karin gut neun Monate im Jahr durch die Weltgeschichte reiste. Und wenn sie denn einmal in der Hauptstadt war, verbrachte sie viel Zeit als gern gesehener Gast auf zahlreichen Partys. Angela hatte es trotzdem probiert und Glück gehabt. Karin hatte in ihrer exaltierten Art diese ganz besondere Wirkung auf sie. In ihrer Gegenwart schien sich alles zu relativieren, fiel vieles – zumindest für eine gewisse, trügerische Zeit – von ihr ab. Man konnte sich der überschwänglich guten Laune einer Karin Kabrinsky nur schwer entziehen. Was sie zu einer besonders guten Freundin machte, war jedoch ihre Feinfühligkeit. Ihre Antennen mussten sehr empfindlich eingestellt sein, denn sie spürte die kleinsten Nuancen, reagierte auf die winzigsten Signale.

So auch diesmal. Sie hatte Angela bei der Begrüßung in den Arm genommen, einen prüfenden Blick auf sie geworfen und als Nächstes gesagt:

»Und jetzt erzähl mir von deinem Problem, Liebes!«.

Angela hatte resignierend ihre Gläser eingeschenkt, eine CD von Dire Straits aufgelegt und ihr dann alles anvertraut. Sie kannte dieses Phänomen von früher. Karin hatte jene Eigenschaft an sich, die einen jedes Mal zu viel von sich erzählen, immer mehr preisgeben ließ, als man vorgehabt hatte. Aber im Gegensatz zu anderen, die ähnliche Reaktionen hervorriefen, fühlte man sich bei ihr hinterher nicht ausgefragt, ausgenutzt. Angela jedenfalls ging es gut dabei. Manchmal reichte es schon, etwas teilen zu können, um besser damit umzugehen. »Geteiltes Leid ist halbes Leid«, dachte sie. Merkwürdig, wie viel an manchen dieser Sprichwörter dran war.

Karins erster Gedanke war es gewesen, loszuziehen und »dem Typen die Bude anzustecken«. Was sie damit meinte, war nicht ein Brandanschlag, sondern eine Problemlösung nach Karins Art: direkt und mit ungeschönt offenen Worten. Sie wollte Kerner stellen und ihm unmissverständlich klar machen, wo er »seine Drecksgriffel hinschieben« könnte, am besten irgendwo in aller Öffentlichkeit, vor möglichst vielen Menschen. Sie selbst hatte damit die besten Erfahrungen gemacht. Wer sich einmal mit Karin Kabrinsky angelegt hatte, versuchte das in der Regel kein zweites Mal. Ihr Exmann hätte das ohne Einschränkung bestätigt.

Nur zögernd hatte sie schließlich akzeptiert, dass Angela ihren eigenen Weg finden musste, um mit Kerner fertig zu werden.

Der Rest des Abends hatte aus Anekdoten, gemeinsamen Erinnerungen und sehr viel Lachen bestanden. So wie jetzt, als Karin zum zweiten Mal die Geschichte des unglücklichen Kellners zum Besten gab.

»Aber mal ganz ehrlich, Angie«, setzte sie wieder an. »Es ist doch schlimm, wie immer mehr Leute etwas so Schönes wie Sprache vergewaltigen. Da wird nur noch in Satzfragmenten gestammelt, so etwas wie Satzbau gibt es nicht mehr.«

Und dann, mit übertriebenem Akzent, der wohl den Straßenslang der Jugendlichen wiedergeben sollte:

»Ey, was brauch ich Satzbau, Alte? Was brauch ich Syntax? Klingt wie Kloreiniger!«

Sie schaute die lachende Angela verschwörerisch an. Irgendwo hinter ihren Augen schien ein Funkeln zu entstehen. »Und weißt du auch warum keiner mehr Wert auf diese Dinge legt?«, fragte sie mit jetzt wieder normaler Stimme.

»Egal was ich antworte, du wirst es mir mit Sicherheit gleich sagen«, lächelte Angela.

»Weil es sie nicht mehr gibt!« Karin sagte es mit Nachdruck, fast triumphierend. »Es gibt sie schlicht und einfach nicht mehr. Gestorben irgendwo zwischen Mittags-Talkshow und Facebook.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Angela milde. »Du übertreibst wie immer, aber im Kern stimmt es. Noch ein Glas Wein?«

»Du willst mich mundtot machen. Oder betrunken. Aber nun gut. Dann betrinke ich mich eben still und leise und sage einfach gar nichts mehr.«

»Das glaubst du selbst nicht«, antwortete Angela trocken.

Einen Moment sahen sie sich an, dann lachten beide schallend, während sie sich zuprosteten. Es tat gut, albern zu sein, war wie eine Befreiung von der Anspannung der letzten Zeit. Jedenfalls für Angela.

»Willst du hier übernachten?«, fragte sie schließlich, nachdem sie sich beruhigt hatten. »Ich könnte dir die Couch herrichten.«

»Nein danke, Liebes. Du weißt doch, wenn ich den ersten Tag wieder hier in Berlin bin, dann möchte ich auch zu Hause schlafen. Im eigenen Bett…«

»Ich weiß. Und sogar allein.«

Wieder das herzhafte Lachen. Eine weitere Füllung der Gläser, eine neue CD, diesmal Evanescence.

»Ich bin froh, dass du kommen konntest. Ich weiß nicht, wie ich den Abend sonst überstanden hätte.«

Angela sagte es ruhig, aber bestimmt und sah ihre Freundin dabei an. Karin wollte etwas erwidern, doch eine Handbewegung brachte sie zum Schweigen. »Ich meine es ernst, Karin. Mir wächst das alles über den Kopf. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und ich finde weder Anfang noch Ende.«

»Du bist durch den Wind, Liebes. Jeder wäre das in einer solchen Situation. Ich meine immer noch, wir sollten uns den Kerl vornehmen. Aber ...«

»Nein«, unterbrach sie Angela entschlossen. »Du hast mir wirklich geholfen – und dafür bin ich dir dankbar. Aber du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Dieser Mann ist unberechenbar.«

»Das bin ich auch und...«

»Schon. Aber du tötest nicht, wenn dir die Dinge entgleiten.«

Karin hatte darauf ausnahmsweise keine Antwort.

Angela sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins. Zu diesem Zeitpunkt war Peter in seinem Gespräch mit Liebrich so beschäftigt, dass er auf seinem lautlos gestellten Handy die Anrufe übersah, die aus der Polizeidirektion kamen. In der Intensivstation des Martin-Luther Krankenhauses kümmerten Ärzte sich um den verletzten Karl Elster.

Im Hotel Adler in Mitte hatte die Spurensicherung die Arbeit aufgenommen. Eine Prostituierte hatte den ermordeten Portier Werner Hagemann gefunden. Die Männer wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Durchsuchung der weiteren Räume eine unschöne Überraschung bereithielt. Und ganz in der Nähe, keinen Kilometer von Angelas Wohnung entfernt, war ein Mann mit einer Mission unterwegs, dessen Rachegelüste noch längst nicht gestillt waren. Und er kam näher.

Wer bist Du wirklich?

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