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Fünf

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Berlin

»Es kann fatale Folgen haben. »

Liebrich machte eine Kunstpause, um den Worten Nachdruck zu verleihen. »Tödliche Folgen, um genau zu sein. Und wenn die Sache einmal am Laufen ist, hast du – habt ihr – keinerlei Kontrolle mehr darüber. Bist du dir dessen bewusst, Junge?«

Peter, den Hörer fest umklammert, starrte aus dem halbblinden Fenster seiner Wohnung auf das geschäftige Treiben in der Straße. Aber eigentlich ging sein Blick ins Unendliche, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Seine Angst vor den Konsequenzen wurde überdeckt von der Wut, die ihn fest in ihren Klauen hielt. Wut auf die Kerners dieser Welt, auf die Gewalt, die Ungerechtigkeit – und die eigene Hilflosigkeit. Letzteres mehr als alles andere.

»Es hätte fast fatale Folgen gehabt, für Karin«, sagte er schliesslich mit tonloser Stimme. »Und welche Kontrolle hatte ich dabei? Ein verdammtes Scheißglück hatte ich, mehr nicht.«

»Gut, dann soll es wohl so sein« , antwortete der Alte. Er klang genauso müde wie Peter auch. »Wir sehen uns um sieben heute Abend im Irish Harp. Und bring Angela mit!«

Bevor Peter etwas entgegnen konnte, klickte es in der Leitung. Liebrich hatte aufgelegt.

Peter ließ sich schwer in den einzelnen, abgewetzten Sessel fallen und atmete tief durch. Er fühlte sich erschöpft, zittrig und verkatert. Wieder einmal, dachte er. Nicht zum ersten Mal kam ihm kurz der Gedanke, sein Alkoholkonsum könnte mittlerweile problematische Züge angenommen haben. Aber genauso schnell, wie er den Anflug von Besorgnis zugelassen hatte, verdrängte er ihn auch gleich wieder. Und wie zur eigenen Bestätigung trank er einen Schluck Wasser aus der Flasche, die er vorher unschlüssig in der Hand gehalten hatte. Sein Kopf dröhnte, sein Hals fühlte sich kratzig und rau an und auf der Stirn hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Aber nicht alles davon war auf das Trinken der letzten Nacht zurückzuführen.

Er stand wieder auf, ging unschlüssig zum Kühlschrank, verstaute die Wasserflasche. Betrachtete einen langen Moment das Bier im Türfach, ignorierte es schließlich. Ließ sich wieder in den Sessel fallen. Entdeckte die CD-Box auf dem Boden, nahm sie in die Hand. Offensichtlich hatte er gestern, nachdem er Angela verlassen hatte, noch Musik gehört. Er konnte sich nicht daran erinnern. Die Box war zersplittert, wahrscheinlich war er darauf getreten. Er nahm das Booklet aus der zerbrochenen Verpackung, blätterte beiläufig darin. Black Sabbath, Heaven and Hell.

Warum habe ich nur immer diesen Hang zur Melodramatik?, dachte Peter. Er sprang wieder auf, fand die Anlage noch angeschaltet vor und die CD im Spieler, drückte den Play-Button. »Neon Knights« dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke aus den Boxen. Erschrocken drehte er die Regler auf ein erträgliches Volumen zurück. Er fragte sich, ob er mitten in der Nacht einen derartigen Lärm veranstaltet hatte. Es war ein Wunder, dass seine Nachbarn nicht die Polizei geholt hatten. Andererseits – er war die Polizei und jeder im Haus wusste das. Peter lächelte unwillkürlich. Die Hilflosigkeit seiner Mitbewohner war der Bonus eines Jobs, der ihm sonst nicht viele Annehmlichkeiten bereitete.

»So what«, dachte er und ließ sich wieder im Sessel nieder. Mit der Fernbedienung zappte er zum vierten Lied weiter und fast automatisch erhöhte er erneut die Lautstärke.

The world is full of kings and queens

who blind your eyes and steal your dreams

it’s heaven and hell!

Peter sang falsch, aber dafür umso lauter mit Ronnie James Dio um die Wette. Wer blendet mich und stiehlt mir die Träume, dachte er. Wer sind die bösen Könige in meinem Leben? Und dann war da wieder dieses unbestimmte Gefühl, das Unwohlsein, das er nicht greifen und bestimmen konnte. Die Ahnung einer Gefahr oder Bedrohung, tief im Unterbewusstsein versteckt, aber unzweifelhaft vorhanden. Er katapultierte sich aus dem Sessel und ging mit plötzlicher Entschiedenheit erneut zum Kühlschrank, nahm sich eine Flasche Bier heraus und öffnete sie mit seinem Feuerzeug. Ließ den Kronenkorken achtlos auf den Boden fallen. Stand einfach da, starrte die Flasche in seiner Hand an.

Und wer ist die Königin in meinem Leben, die mich täuscht?

Setzte die Bierflasche an den Mund. Zögerte.

And they’ll tell you black is really white The moon is just the sun at night And when you walk in golden halls You get to keep the gold that falls It’s Heaven and Hell, oh no! Fool, fool!

Und der Narr... wer ist der Narr in der Geschichte? Bin das ... ich?

Sah die Flasche an.

Und trank.

»Scheiße!«. Lorenz fluchte, was ganz und gar nicht seiner Gewohnheit entsprach, als er die Nummer auf dem Display des läutenden Telefons erkannte. Hartmann hatte ihm gerade noch gefehlt.

Und weil es überraschend guttat, gleich noch einmal: »Verdammte Scheiße!«

Dann atmete er tief durch, griff zum Hörer: »Lorenz.«

»Was für eine beschissene Schweinerei ist da jetzt wieder am Laufen?«, brüllte es ihm aus der Leitung entgegen. Mit Formalitäten hielt sich der Mann nicht auf, dachte Lorenz in einem Anflug von trockenem Humor.

»Wenn Sie den Mord im Hotel meinen, dann kann ich...«, begann er, aber der andere ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Und ob ich den meine, Sie Idiot!«

Während Lorenz unwillkürlich zusammenzuckte, setzte sein Gegenüber nach. »Kann es sein, dass Ihnen die Angelegenheit aus dem Ruder läuft? Ich würde ungern andere Maßnahmen ergreifen müssen ...«

»Ich kann Ihnen versichern, dass wir alles im Griff haben«, sagte Lorenz mit plötzlich müder Stimme. »Es ist nur so, dass der Mann unberechenbar geworden zu sein scheint. Wenn er es war.«

»Wer sonst sollte es gewesen sein? Glauben Sie an Zufälle?«

Nein, dachte Lorenz, das tue ich nicht. Was ihn die ganze Zeit schon beschäftigte, war die Tatsache, dass sie es nicht für nötig gehalten hatten, ihren Mann unter Bewachung zu stellen. Sein Nutzen für die Regierung war die eine Sache – sein Jähzorn, seine Paranoia und die daraus resultierende Rachsucht etwas ganz anderes. Aber wer hätte ahnen können, dass sich seine ganze Wut auf den kleinen Junkie konzentrieren würde? Lorenz wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas Entscheidendes übersehen hatten, vor langer Zeit schon.

»Es ist noch zu früh, um etwas Abschließendes zu sagen«, sagte er schließlich. »Aber wir werden ein sehr wachsames Auge auf den Mann haben«.

»Das hoffe ich, Lorenz! Und noch was: Was ist mit dem Schotten? Müssen wir uns um den kümmern?«

»Johnson ist suspendiert… der macht uns keinen Ärger«, sagte der Alte etwas zu schnell. Der drohende Ton in der Stimme des Anrufers war ihm nicht verborgen geblieben. »Und Elster fällt noch eine ganze Weile aus. Außerdem scheint die Freundschaft der beiden eine erhebliche Abkühlung erfahren zu haben.«

»Dann sorgen Sie dafür, dass das so bleibt«, blaffte der andere in den Hörer und legte grußlos auf. Es blieb offen, ob er die Beziehung der zwei Beamten meinte oder ob sich die Bemerkung darauf bezog, dass von Peter Johnson keinerlei Gefahr drohte. Wahrscheinlich war beides gleichermaßen gemeint.

Lorenz saß minutenlang reglos auf seinem Stuhl, während die Gedanken in seinem Kopf durcheinanderwirbelten. Worauf hatte er sich da eingelassen? Er wusste noch genau, wie verlockend die Vorstellung vor über sieben Jahren gewesen war. Eine nicht unerhebliche Aufstockung seines Gehalts, die Absicherung seiner Rente, das kleine Grundstück in Österreich. Und damals war ihm alles so plausibel erschienen. Ein wenig die Wahrheit biegen, nicht einmal verdrehen, um der größeren Sache willen. Im Interesse des Vaterlandes handeln. Dort, wo stures Vorgehen nach Vorschrift ungleich schwereren Schaden angerichtet hätte als die winzige Abweichung von den Fakten, zu der er sich hatte überreden lassen.

Aber Lorenz war trotzdem vor allem eines: Polizist mit Leib und Seele und mit einem tief ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.

Und die Entwicklung der letzten Tage hinterließ einen tiefen Riss im Mauerwerk seiner persönlichen Justizhalle. Der Gedanke, dass er sich strafbar gemacht hatte, wie ein dahergelaufener Dieb, nagte nicht zum ersten Mal an seinem Bewusstsein. Und das ließ sich immer weniger durch das Heraufbeschwören eines höheren Sinns wegwischen. Es hatte zwei Morde gegeben und einen versuchten dazu. Und wenn Lorenz nicht völlig danebenlag, standen die Ereignisse in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Wahrheit manipuliert worden war. Und insofern war auch er in diese Verbrechen involviert, weil er sich bereit erklärt hatte, das ihm aufoktroyierte Spiel mitzuspielen. Und unabhängig davon, was er von Johnson hielt: Der Mann war Polizist und einer seiner Leute dazu. Die unausgesprochene Drohung des Anrufers stand wie eine unsichtbare Mauer im Raum. Was »sich kümmern« bedeuten würde, wenn diese Wortwahl von einem wie Walter Hartmann kam, war auch Lorenz klar. Der Gedanke daran überstieg seine Vorstellung von Kooperation im Dienste einer höheren Gerechtigkeit um einiges. Vielleicht war es an der Zeit, seine Strategie zu überdenken.

»Scheiße«, sagte der Kriminalrat zum dritten Mal an diesem Tag und brach damit alle persönlichen Rekorde.

Am frühen Nachmittag war das »2 Late« noch recht spärlich besucht. Nur zwei der hinteren Tische waren mit Stammgästen besetzt. Regelmäßige Trinker, denen die Kneipe das eigentliche Zuhause ersetzte und die wie üblich das Weltgeschehen über dem schal werdenden Bier kommentierten. Am Billardtisch spielten zwei Jugendliche ein verbissenes Match aus. Am mittleren Tisch parallel zum Tresen saßen zwei Männer Anfang zwanzig, deren Erscheinungsbild darüber hinwegtäuschen mochte, welches Potential überdurchschnittlicher Intelligenz sich hier ein Stelldichein gab. Anton Steinmeier war ebenso wie sein Gegenüber Wolfram Meyer Student der Informatik und der Naturwissenschaften. Beide waren in unförmige Parkas und ausgebeulte Jeans gekleidet, trugen Turnschuhe, die direkt von der Müllkippe zu stammen schienen und T-Shirts in Größe XXXL. Steinmeier hatte sich einen Kinnbart wachsen lassen, den er blau-weiß gefärbt hatte. Fragen nach dem Grund für die eigenwillige Farbkombination pflegte er mit einer kurzen Bemerkung über Hertha BSC, den Berliner Fußball-Bundesligisten, abzutun, dessen Vereinsfarben dies waren. Aber wirklich überzeugend war das nicht, wenn man wusste, dass Steinmeier sich keinen Deut für Fußball interessierte.

Ob Meyers hämische Erklärung der Wahrheit näher kam, war eine oft diskutierte und johlend kommentierte Frage in der Clique der beiden. Er behauptete nämlich, Steinmeier habe seinen Bart nur der Intimbehaarung seiner Freundin Anne angepasst, denn gleich und gleich geselle sich bekanntlich gern. Und eins war sicher: Anne war glühender Fan der Hertha, sodass zumindest dieser Teil plausibel erschien.

In Meyers Gesicht hingegen war kein Ansatz auch nur eines Flaums erkennbar. Der im Gegensatz zu seinem über 1,90 Meter großen Freund mit gerade mal 1,70 Meter kurzgewachsene Mann hatte eine Haut wie Seide. Nur der oft zynisch grinsende Mund und die klaren, wissenden Augen ließen ihn nicht wie einen Jüngling kurz vor dem Einsetzen der Pubertät erscheinen.

Beide befanden sich in einer äußerst angeregten Unterhaltung über die rothaarige Mitstudentin in einem ihrer Kurse, als die Tür aufging und Peter hereinkam. Sein Blick schweifte kurz durch den Raum, blieb bei den beiden hängen und ließ ein erleichtertes Lächeln in seinem Gesicht erscheinen.

»Peter, alter Schwede!«, freute sich Meyer, »was treibt die Polizeigewalt denn in diese Spelunke?«

»Durst wird er haben, du Schwachkopf«, brummte Steinmeier und, zu Bert, dem Barkeeper gewandt: »Mach dem Schotten mal ein strammes Bier – und uns auch gleich noch zwei, wenn das nicht zu viel verlangt ist.«

Bert warf ihm einen finsteren Blick zu und sagte dann mit seiner extrem sonoren Stimme, die ganz und gar nicht zu der hageren Erscheinung passen wollte, zu Peter: »Mensch, bin ich froh, dass du da bist. Die beiden Bekloppten treiben mich in den Wahnsinn mit ihrer dusseligen Quatscherei.«

»Hallo Jungs«, meinte Peter nur, während er sich seiner Jacke entledigte, seine Zigaretten herausfischte und sich eine anzündete. »Macht ihr dem armen Bert mal wieder das Leben schwer?«

Er war froh, die beiden hier gefunden zu haben. Denn obwohl die Wahrscheinlichkeit, sie hier anzutreffen, nicht direkt gering gewesen war, hatte er doch nicht davon ausgehen können. Was er von ihnen wollte, war wichtig und duldete keinen großen Aufschub. Immer vorausgesetzt, sie konnten und wollten ihm helfen.

Denn so liebenswürdig die zwei sein konnten, so unberechenbar waren sie auch, auf eine verschrobene Art launisch. Und sie waren nicht käuflich, obwohl sie als Studenten eigentlich immer auf der Suche nach einem Zusatzverdienst sein sollten. Andererseits, dachte Peter mit einem leichten Schaudern, gab es für Computergenies wie die beiden wahrscheinlich immer eine Möglichkeit, ihre Finanzen aufzubessern. Peter tat in seiner Funktion als Polizist vielleicht gut daran, nicht weiter nachzufragen. Jedenfalls nicht, wenn er selbst ihre Hilfe wollte.

Entscheidend war eher, ob der Job für die zwei Herausforderung genug war, ob er ihre Neugier und ihr Interesse wecken konnte. Auf eine gewisse Art und Weise waren die beiden wie Kinder, jederzeit zu einem Abenteuer bereit, aber schnell wieder gelangweilt. Peter hoffte, dass es ihm gelingen würde, sie für sein Vorhaben zu begeistern.

»Lass es dir schmecken!«, sagte Bert betont jovial, als er das frischgezapfte Bier vor Peter abstellte. Dann zog er sich, nicht ohne einen hämischen Seitenblick auf die anderen zwei zu werfen, wieder hinter den Tresen zurück.

»Hey, und unser Bier?«, monierte Wolfram kopfschüttelnd.

»Steht auf dem Tresen«, sagte Bert trocken. »Könnt ihr euch selber holen«, fügte er hinzu und konnte den kleinen Triumph nicht ganz verbergen.

Peter musste schmunzeln, als er die beiden beobachtete, wie sie sich scheinbar konsterniert ansahen, Betroffenheit spielten und dem Barkeeper den winzigen Sieg überließen.

»Jetzt mag er nicht mehr«, sagte Steinmeier tonlos.

»Uns mag er nicht mehr«, meinte Meyer im gleichen Tonfall.

»Wir haben seine Gefühle verletzt.«

»Haben ihn gedemütigt.«

»Das müssen wir unbedingt wieder gutmachen«, sagte Steinmeier feierlich. »Umarmen wir ihn?«

»Das ist das Mindeste ... küssen sollten wir ihn auch.«

»Mit Zunge?«

»Ganz oder gar nicht!«, sagte Meyer und stand gleichzeitig mit seinem Freund auf. Sie machten Anstalten, den Tresen zu stürmen.

»Hey, hey, hey!« Bert, der sich während des Dialogs der beiden in die hinterste Ecke des Thekenbereichs verzogen hatte, hatte jetzt deutliche Anzeichen von Panik im Gesicht. »Ihr meint das doch nicht ernst ... oder?«

Letztendlich wählte Bert den sicheren Weg, riss die Tür zum Küchenbereich auf und verschwand dahinter. Das Klicken des schweren Riegels, mit dem er den Zugang verbarrikadierte, war trotz des dröhnenden Gelächters in der Kneipe deutlich zu hören.

»Okay, ihr Komiker«, sagte Peter endlich, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten. »Lasst uns mal ernst werden. Ich brauche eure Hilfe!«

Offensichtlich zeigte sein plötzlich veränderter Tonfall Wirkung. Beide sahen ihn erstaunt und ein wenig misstrauisch an. Dann warfen sie sich gegenseitig einen Blick zu. Das Lachen, das eben noch in ihre Gesichter gemeißelt schien, war wie weggewischt.

»Erst mal noch ein Bier«, murmelte Anton schließlich.

»Du hast noch nicht mal von dem hier getrunken...«

»Ja, aber unser Schotte sieht so ernst aus; das wird bestimmt ein trockenes Thema. Und das macht durstig.«

»Und wer zapft uns das Bier? Den Berti hast du vergrault...«

»Machen wir selbst. Sollen wir doch, hat er selbst gesagt.«

»Er hat nur gemeint, wir sollen uns unser Bier selbst holen, du Nase!«

»Seit wann nimmst du’s denn so genau? Hier geht’s um elementare Dinge ...«

»Hey!«, unterbrach ein fassungsloser Peter schließlich mit zu lauter Stimme. Die zwei waren wirklich nicht einfach zu handhaben und er hatte nicht die Zeit, sich auf die Albereien einzulassen. Auch wenn ihm das Intermezzo eben verdammt gutgetan hatte. Aber jetzt war es an der Zeit, sich wieder auf den Grund seines Herkommens zu besinnen.

»Wenn ihr mir jetzt mal einen Moment zuhört und vor allem, wenn ihr euch bereit erklärt, mir zu helfen, könnt ihr soviel Bier haben, wie in euch reinpasst.«

»Das ist aber eine ganze Menge«, sagte Wolfram trocken.

»Schieß los«, fügte Anton an. »Du hast unsere volle Aufmerksamkeit«.

Die Nachrichten aus dem Krankenhaus waren nicht wirklich beruhigend gewesen. Man hatte sie am Morgen nicht zu Karin gelassen. Also war sie widerwillig und nicht ohne mehrfach betont zu haben, man möge sie in jedem Fall informieren, wenn es Veränderungen gäbe, wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt. Dort hatte Angela eine zunehmende Lähmung befallen. Ständig um sich selbst kreisende Gedanken hatten jede Aktivität im Keim erstickt. Sie hatte sich mehrmals dabei ertappt, wie sie scheinbar planlos in einer Ecke ihrer Wohnung stand und ins Leere starrte. Sie hatte keine Ahnung, was sie gerade mit dem Putzlappen oder dem leeren Kaffeebecher in ihrer Hand zu tun gedachte. Schließlich gab sie es auf, irgendetwas anzufangen, das sie doch nicht beendete und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf die Couch fallen.

Auf dem Tisch stand noch die halbleere Flasche Wein, die Karin und sie gestern nicht mehr geschafft hatten. Daneben das Whiskyglas, aus dem Peter getrunken hatte, als er ihr schließlich alles berichtet hatte.

Sie konnte sich nicht aufraffen, die Sachen wegzuräumen. Sie dort stehen zu lassen war irgendwie ein Festhalten an den Dingen, die eine Bedeutung für sie hatten. Sie wusste, dass es albern war. Aber solange die Flasche dort stehenblieb, als sei Karin nur eben zur Toilette gegangen, würde bald die Nachricht kommen, dass es ihr besser ging. Dass keine Schäden zurückbleiben würden, dass ihre Beziehung immer noch dieselbe wäre. Dass man die Unschuld zurückholen könnte, mit der ihre Freundschaft einmal begonnen hatte und die so lange Zeit ein fester Bestandteil ihrer Bindung gewesen war. Bis zu dieser Nacht, die vielleicht alles verändern würde.

Und Peters Glas... Ein bisschen trotzig kam es ihr vor. Viel kleiner als die Weinflasche, aber fest auf der Tischplatte stehend mit seinem dickbäuchigen Boden und der Neige des schottischen Nationalgetränks im Innern. Ein paar Tropfen, die beim Einschenken oder beim Absetzen verschüttet worden waren, hatten einen klebrigen Film gebildet, der das Glas noch fester an den Tisch band. Was sie unter anderen Umständen geärgert hätte, hatte für sie etwas dermaßen Tröstliches, dass sie für einen Moment über sich selbst lachen musste. Irgendwie war dieses Glas so stellvertretend für Peter, dass sie sich fragte, ob etwas so Offensichtliches wirklich nur ihr selbst auffallen konnte. Der einstmals funkelnde Schein des Kristallglases war ein wenig eingetrübt, der eine oder andere Kratzer hatte sich eingefräst, aber hier stand es. Unbeeindruckt von allen äußerlichen Einwirkungen, standhaft, trotzig, stark.

Ich bin eindeutig am Durchdrehen, dachte sie, aber die Parallelen waren vorhanden und ließen sich nicht einfach wegwischen.

Das Klingeln des Telefons durchbrach die Mauer ihrer wild wuchernden Gedanken und holte sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Es war das Krankenhaus.

Karin hatte eine gebrochene Nase, ein zertrümmertes Jochbein, Prellungen am ganzen Körper von den Schlägen und Tritten, die sie erlitten hatte. Sie hatte eine Gehirnerschütterung, Hautabschürfungen und war generell sehr schwach, aber sie würde sich vollständig erholen, soweit es das Körperliche betraf. Welche Wunden psychischer Natur der Angriff gerissen hatte, würde sich erst viel später sagen lassen, sagte die Schwester am Telefon.

»Aber ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen.«

»Das hat sie zu Ihnen gesagt?«, entfuhr es Angela ungläubig.

»Ja, genau das. Sie hat gesagt, der Kerl hätte zugeschlagen wie ein Mädchen.«

Angela ließ sich nach dem Auflegen zurück auf die Couch fallen, erleichtert und für einen winzigen Moment amüsiert. Das war die Karin, die sie kannte, schnoddrig und nicht kleinzukriegen. Selbst in einer Situation, in der es ihr völlig elend ging, nicht um eine rotzfreche Bemerkung verlegen. Immerhin darum musste sie sich keine Sorgen machen. Es war schön es zu wissen, dass Karin offenbar nicht sie, Angela, für die Ereignisse verantwortlich machte. Aber Angela wusste es besser, fühlte sich schuldig. Alles hatte seinen Ursprung in dem Konflikt zwischen ihr und Kerner und es würde kein Ende geben, wenn sie nicht dafür sorgte. In welcher Form auch immer.

Sie sah wieder die Flasche an, nahm sie in die Hand und riss sie sich kurzentschlossen an den Mund. Sie trank einen großen Schluck und bereute es im selben Moment. Der Wein war abgestanden und fade und ihr Magen war nach den Ereignissen und dem Alkohol der Nacht nicht auf etwas Derartiges vorbereitet. Prustend spuckte sie den größten Teil wieder aus, eine Mischung aus rotem Bordeaux und Magensäure, die große Teile des Tischs besprenkelte. Einige Tropfen fanden ihren Weg in Peters Glas, vermischten sich mit dem Rest Whisky zu einer undefinierbaren Masse aus Gold-Gelb und Rot.

Irritiert über das eigene Verhalten holte sie etwas zum Wegwischen, goss den Wein in den Ausguss und warf die Flasche in den Mülleimer. Das Glas ließ sie stehen. Da war immer noch dieses unbestimmte Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Etwas so lächerlich Symbolisches, dass sie sicher war, niemals mit einem anderen Menschen darüber zu reden. Nicht, wenn sie vermeiden wollte, für komplett geisteskrank gehalten zu werden.

Sie nahm das Glas vorsichtig in die Hand, betrachtete versonnen die Flüssigkeit darin. Das Telefon klingelte erneut .

»Geht es dir gut?«, klang Peters besorgte Stimme in ihrem Ohr. Wie auf Kommando, dachte sie irritiert. Als hätte er ihre merkwürdigen Gedankengänge gespürt. Aber genau das macht die Magie mit Peter aus, spann sie den Gedanken weiter. Er schien immer zu wissen, wann es ihr nicht gut ging, schien zu ahnen, was in ihrem Innersten passierte und war immer da, wenn sie ihn brauchte. Er fand jedes Mal die richtigen Worte, hatte immer das passende Rezept für sie bereit: Trost, wenn es nötig war, Eindringlichkeit, wenn sie kurz davor stand, etwas Dummes, Unüberlegtes zu tun, Zurückhaltung, wenn ihre Empfindlichkeit kein allzu drängendes Insistieren zugelassen hätte. Eine Welle von Zärtlichkeit drohte sie zu ertränken, als sich siedendheiß ein böser kleiner Gedanke Gehör verschaffte: Zu spät, viel zu spät für eine Beziehung, die über Verbundenheit hinausgehen würde. Denn das war es, was sich in den Jahren, die sie sich kannten, manifestiert hatte. Eine absolut reine, ehrliche Freundschaft, unerschütterlich und durch nichts zu beeinflussen oder zu mindern, das von außen an sie herangetragen wurde. Eine Freundschaft, die keinen Platz für Liebe haben würde. Denn was würde davon bleiben, wenn eine Beziehung scheitern sollte? Man konnte nicht gut wieder zu einer platonischen Ebene zurückfinden, wenn man erst einmal geliebt hatte und sich eingestehen musste, dass es nicht funktionierte. Oder?

»Angie, geht es dir gut?«, fragte Peter erneut, mitten in ihre Gedanken hinein.

»Entschuldige«, beeilte sie sich zu sagen, und kam sich wie ertappt vor. »Es ist alles in Ordnung. Die vom Krankenhaus haben angerufen, es geht Karin den Umständen entsprechend. Sie macht schon wieder ihre Scherze.«

»Karin ist erstaunlich. Ich bin froh, das zu hören.«

»Und wie fühlst Du dich? Du musst völlig durch den Wind sein. Ich bin es jedenfalls und ich war nur indirekt betroffen.«

»Ich bin okay, Angie. Vergiss nicht, ich bin ein Bulle. Obwohl das auch nicht ganz richtig ist.«

»Wieso, was ist passiert?«, fragte Angela, alarmiert durch den Nachsatz.

»Ich bin bis auf weiteres suspendiert. Wegen der Sache mit Karl.«

»Peter, das tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld.«

»Hör auf damit, Angie!, sagte Peter zärtlich. »Es ist ganz allein mein Fehler gewesen, du hast nichts damit zu tun.«

»Halt mich nicht für dumm! Du bist meinetwegen zu Liebrich gefahren. Du hast versucht, eine Lösung für mein Problem zu finden und nur deswegen ist das mit Karl passiert. Peter, wenn ich irgendetwas tun kann ... lass mich mit deinen Vorgesetzten reden!«

Peter antwortete mit einem leisen, glucksenden Lachen, das sie so sehr mochte.

»Ich glaube nicht, dass das viel Sinn machen würde. Lorenz scheint nur darauf gewartet zu haben, mich matt zu setzen. Da ist etwas am Laufen, das ich nocht nicht so ganz einschätzen kann. Aber wie auch immer: Wir haben eine Verabredung mit Liebrich. Der alte Fuchs scheint eine Lösung für Kerner zu haben, wenn du das nach wie vor willst.«

Peter sagte es ohne besondere Betonung, fast beiläufig, aber seine Worte trafen Angela wie ein elektrischer Schlag.

»Und ob ich das will!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich will, dass dieser Albtraum endlich vorbei ist!«

»Dann sei um halb sieben fertig. Ich hole dich ab!«

Nach dem Auflegen stellte sie erstaunt fest, dass sie das Glas noch immer fest umklammert hielt. Und wie aus heiterem Himmel überfiel sie ein Gefühl von extremer Verlustangst. Sie war sich Peters immer so sicher gewesen, obwohl es dafür keinen Grund gegeben hatte. Er hatte ihr einmal gezeigt, dass seine Gefühle für sie über eine freundschaftliche Bindung hinausgehen und sie hatte ihn damals gebeten, ihr Zeit zu lassen. Seitdem war das Thema nie wieder angesprochen worden, hatte unter der Oberfläche gelegen, ein unausgesprochenes Tabu. Und jetzt auf einmal wurde ihr bewusst, auf welch dünnem Eis sie sich bewegt hatte.

Was, wenn Peter eine andere Frau kennenlernte?

Der Gedanke drängte sich ihr mit solcher Macht auf, dass es ihr unerträglich wurde, ihn zu Ende zu verfolgen.

Wolfram Meyers Zimmer glich ein wenig der Kommandozentrale eines Atomkraftwerks. Einer sehr unaufgeräumten Zentrale.

Ein Server auf Linux-Basis, 3 PCs, ein Macbook, die entsprechenden Monitore, diverse Router und Switches. Laufwerke aller Art, teilweise extern, teilweise aber auch ausgebaute interne Discs, provisorisch mit dem jeweiligen PC verkabelt. Unmengen an CD-ROMs, 2 Drucker. Die Geräte verteilten sich ohne erkennbare Struktur in dem Raum und teilten sich den wenigen Platz mit unterschiedlichen leeren Fastfood-Boxen, Getränkedosen und Chipstüten. Das Klischee des chaotischen Genies schien seinen Ursprung genau hier in dem völlig verqualmten Raum zu haben.

Inmitten des Chaos und gänzlich unbeeindruckt davon saßen Wolfram und sein Freund Anton konzentriert vor einem 30-Zoll Bildschirm und starrten gebannt auf das, was sich dort abspielte.

Beide waren sofort Feuer und Flamme gewesen, als Peter sie gebeten hatte, nichts Geringeres als den Polizeiserver zu hacken und ihm Zugang zu den sensiblen Dateien zu verschaffen. Peters eigenes Konto war als Folge seiner Suspendierung gesperrt worden, aber er hatte ihnen auf ihren Wunsch hin die nicht mehr gültigen Zugangsdaten trotzdem mitgeteilt. Und die von Karl gleich dazu. Peter kannte Karls Anmeldenamen und Passwort genauso wie der seine Daten wusste. Vor einiger Zeit, einer kleinen Ewigkeit, wie Peter etwas wehmütig gedacht hatte, hatten sie ihre Logins ausgetauscht, »für alle Fälle«. Peter glaubte sich zu erinnern, dass der eigentliche Grund die Direktive von oben gewesen war, diese Daten absolut geheim zu halten. Sie unter keinen Umständen einem anderen zu verraten. Sie waren, ähnlich wie beim Verschicken eines Geheimworts für das Online-Banking in einem Umschlag gekommen, dessen Innenwände eine Art Durchschlagpapier waren. Der Umschlag selbst wurde von außen mit einem Typendrucker ohne Farbband bedruckt. Die Daten drückten sich durch die Blaupause und erschienen nur auf dem innenliegenden Blatt Papier. In bestem Amtsdeutsch waren sie angewiesen worden, diese zu »memorisieren und unverzüglich zu vernichten«. Und wie aufsässige Heranwachsende hatten Peter und Karl genau das Gegenteil getan, sich die Schreiben gegenseitig zum Lesen gegeben und sich diebisch darüber gefreut.

Karls Zugang zum Polizeicomputer war ebenfalls gesperrt, das hatte Peter als erstes probiert. Gleichzeitig hatte das sein ungutes, mulmiges Gefühl noch verstärkt und ihn darin bestärkt, die beiden Computergenies zu beauftragen. Welchen Sinn hatte es, Karl ebenfalls vom System fernzuhalten? Er hatte sich nicht vorstellen können, dass Karl seinen Vorgesetzten davon berichtet hatte, dass Peter die Login-Daten kannte. Dazu bestand kein vernünftiger Grund und außerdem hätte sich sein Partner damit selbst in Schwierigkeiten gebracht. Außerdem glaubte Peter, dass Karl zur Zeit andere Sorgen hatte, die ihn beschäftigten.

Sie hatten die verfallenen Daten haben wollen, weil diese von der IT-Abteilung zugeteilt worden waren, und somit weder der Login-Name noch das Passwort frei wählbar waren. Sie hatten sich erhofft, ein Muster zu entdecken. Zugegeben, bei zwei Vergleichswerten ein Muster zu entdecken, glich schon einem ziemlich weit dahergeholten Unterfangen, aber eines war trotzdem sofort auffällig gewesen: Der Login-Name schien aus dem großgeschriebenen Anfangsbuchstaben des Vornamens sowie dem Nachnamen zu bestehen, wobei der erste Buchstabe ebenfalls groß gewählt war. Also PJohnson und KElster. Das ist zu einfach, hatten beide gedacht, und wenn die Passwörter ähnlich gelagert sind, wird das Ganze ein Kinderspiel.

Ganz so einfach war es dann doch nicht gewesen, aber Anton, der ein ausgeprägtes kryptographisches Gespür hatte, war dann der entscheidende gemeinsame Nenner aufgefallen. In beiden tauchte das Geburtsdatum sowie die Hausnummer des jeweiligen Besitzers auf. Verschoben um jeweils 3 Stellen in der Zahlenskala und, wenn das eine zweistellige Zahl ergab, als Quersumme davon und scheinbar willkürlich und nicht in der richtigen Reihenfolge angeordnet. Aber das Muster war da, da waren sich beide sicher. Die restlichen Zeichen waren Buchstaben ohne Sonderzeichen und die Wahrscheinlichkeit, dass das generell so gehandhabt worden war, schien ihnen groß genug, um auf dieser Basis zu beginnen. Zwar war für diese verbleibenden Buchstaben auch Anton kein erkennbares Muster aufgefallen. Aber auf der Grundlage der jetzigen Erkenntnisse ließ sich eine Wörterbuchdatei programmieren, die sie für einen Brute-Force Angriff verwenden konnten. Sie hatten sich von Peter die Geburtsdaten, Adressen sowie die Vor- und Nachnamen aller Kollegen geben lassen, die dieser zur Verfügung stellen konnte.

Und weil Lorenz derjenige war, der Peter suspendiert hatte und der mit den meisten Kompetenzen und dem umfangreichsten Zugang zu vertraulichen Daten, hatten sie sich auf ihn eingeschossen. Die Wörterbuchdatei war mit seinen Werten gefüllt.

Eine Brute-Force-Wörterbuch Attacke ist im Grunde nichts anderes als der permanente Versuch, mit einem gegebenen Anmeldenamen und allen möglichen Passwortkombinationen Zugang zu einem Computerkonto zu bekommen. Je mehr Informationen im Vorfeld bekannt sind, desto größer ist die Chance, letztendlich auf die richtige Kombination zu stoßen.

Sie gingen anhand der beiden bekannten Passwörter von einer Länge von 8 Zeichen aus. Da jedes Zeichen 62 verschiedene Formen annehmen kann (26 Buchstaben jeweils groß und klein, 10 Ziffern), ergeben sich daraus 62ˆ8 mögliche Passwörter, also etwa 21,8 Trillionen. Ein schneller Rechner sollte nicht länger als rund 70 Stunden brauchen, um diese Variationen durchzuspielen – und das auch nur, wenn die gesuchte Kombination die letzte probierte ist. Durch das Aussondern der Ziffern, die nicht Bestandteil der Hausnummer bzw. des Geburtsdatums waren, rechneten sie mit einem Erfolg innerhalb 24 Stunden. Vorausgesetzt, ihre Annahme war richtig. Wenn Sonderzeichen ins Spiel kamen, ging die ganze Rechnung nicht auf.

Jetzt starrten sie seit etwa zwei Stunden auf den Monitor, obwohl die rasend schnelle Anzeige sich ständig verändernder Zeichenketten keinen wirklichen Informationswert hatte.

Trotzdem war die Spannung fast körperlich greifbar, schien die stickige, verqualmte Luft wie elektrisch aufgeladen.

Jagdfieber.

»Der muss ziemlich bescheuert sein«, sagte Anton plötzlich in die Stille hinein.

»Wer?« Wolfram sah ihn konsterniert an.

»Der Bullen-Admin, der sich die Passwörter ausgedacht hat. Das ist nicht nur leichtfertig, das ist strunzdumm.«

»Na ja, der wollte einen Algorithmus haben, den er zur Not rückverfolgen kann. Der wollte sichergehen, dass er die Passwörter jederzeit wieder herstellen kann.«

»Und? Was willst du mir damit sagen?« Jetzt war es an Anton, konsterniert zu gucken.

»Hast recht«, sagte sein Gegenüber schließlich nach einem Moment des Nachdenkens. »Der ist strunzdumm, der Admin ...«

Wolfram griff nach seiner Bierdose, stellte fest, dass sie leer war und stand langsam auf. »Ich hol uns noch was zum Munterbleiben.«

»Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der von Unmengen Bier immer munterer wird«, meinte Anton kopfschüttelnd. »Du musst ein Genie sein.«

»Hast schon wieder recht«, grinste Meyer und verschwand in Richtung Küche.

Anton sah auf den Bildschirm, verfolgte die Anzeige der eigenen IP-Adresse, die sich alle 2 Minuten veränderte. Sie hatten ihre Session so konfiguriert, dass unzählige Proxy-Server genutzt wurden und im 2-Minuten Rhythmus der Proxy gewechselt wurde. Das brachte zwar Einbußen bei der Geschwindigkeit, war aus Sicherheitsgründen aber notwendig. Sie wollten schließlich nicht, dass die Polizei plötzlich an die Tür klopfte, weil die Herren in Uniform ihre Einwahlversuche nachverfolgt hatten.

Mit einem Seufzen rieb sich Anton die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Im Gegensatz zu seinem Freund spürte er eine bleierne Müdigkeit und ein weiteres Bier würde das noch verstärken.

Dann veränderte sich der Bildschirm geringfügig. Erst wusste er nicht, was sich getan hatte, spürte mehr, als er sah, dass es Veränderungen gab. Dann konnte er es festmachen: Die Zeichenkette bewegte sich nicht mehr, war zum Stillstand gekommen. Im nächsten Moment flackerte der gesamte Schirm und veränderte sich erneut.

Als Wolfram eine Sekunde später mit den Bieren zurück in das Zimmer kam, starrte ihn der andere mit breitem Grinsen an:

»Wir sind drin!«

Peter, ganz Gentleman alter Schule, ging voran und bahnte ihnen einen Weg durch das gut gefüllte »Irish Harp«. Er hatte den gesamten Raum auf der Suche nach Liebrich überflogen, aber sein Mentor schien noch nicht da zu sein. Also suchte Peter einen Platz ein wenig abseits von der Stelle, wo bald eine Band mit Live-Musik aufwarten würde. Sie hatten Glück, eine Gruppe von vier jungen Leuten, schickte sich gerade zum Gehen an und Peter steuerte zielsicher auf den Tisch in der Ecke am Fenster zu.

Zum ersten Mal, seit er sie abgeholt hatte, konnte er Angela in Ruhe betrachten. Sie hatte draußen auf ihn gewartet, obwohl er sie gebeten hatte, in der Wohnung zu bleiben, bis er kam. Da war es schon ziemlich dunkel gewesen und das Licht im Auto hatte ebenfalls kein genaueres Begutachten erlaubt. Also nahm er nun die erste Gelegenheit wahr, um nach Anzeichen von Angst, Erschöpfung oder nervlichen Problemen zu suchen.

Aber alles, was er sah, war eine ungemein gut aussehende Frau, die trotz der Vorfälle gleichzeitig gelöst und stark wirkte.

»Was ist los, Peter? Überlegst du gerade, wer ich bin?«, lachte sie ihn an, und ihm wurde bewusst, dass er sie angestarrt haben musste. Verdammt, warum benahm er sich immer wie ein Idiot, wenn er mit ihr zusammen war? Etwas verlegen sagte er: »Du siehst wunderschön aus. Ich hab mich gefragt, wie du das unter diesen Umständen schaffst.«

»Danke«, entgenete sie leise, jetzt selber verlegen. »Ich bemühe mich. Die Kosmetikindustrie verdient ein Vermögen an mir.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Peter, dem längst aufgefallen war, dass sie allenfalls etwas Rouge aufgetragen hatte. »Du brauchst keine Schminke. Du bist am schönsten so, wie du bist. Natürlich.«

Darauf hatte sie keine Antwort und ein Moment des Schweigens entstand, bis Peter zu jovial fragte, was er ihr zu trinken besorgen könne.

»Einen Gin and Tonic?«, antwortete sie halb fragend. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon wieder bereit bin für etwas Alkoholisches.«

»Ein Gin and Tonic soll es sein«, nahm ihr Peter die Zweifel und ging zur Theke, um seine Bestellung abzugeben.

Sie sah ihm versonnen nach, wie er sich durch die Menge kämpfte, höflich und freundlich, aber bestimmt seinen Weg durch die vielen Menschen suchte. Wieder machte sich etwas in ihrem Inneren bemerkbar, das sich scheinbar nicht länger unterdrücken ließ. Etwas Vertrautes und gleichzeitig Aufregendes, eine Wärme, die von ganz tief innen zu kommen schien und sich über den Körper zog wie eine zweite Haut.

Als Peter zurück an den Tisch kam, hatte sie fast vergessen, warum sie eigentlich hier waren. Aber die beiden älteren Männer, die er in seinem Schlepptau hatte, brachten ihr das schlagartig wieder in Erinnerung.

»Angie, darf ich dir Herrn Liebrich vorstellen? Mein Mentor und oftmals auch Beschützer...«

»Zu viel der Ehre«, lächelte der Alte und gab Angela, die sich halb erhoben hatte, die Hand. »Und bleiben Sie bitte sitzen, wir sind hier ja nicht in der Schule.«

»So lerne ich denn endlich Peters Ziehvater kennen«, lächelte Angela. Er hat einen kräftigen, angenehmen Händedruck, dachte sie, und er schaut einem direkt in die Augen. »Es freut mich sehr, dass wir uns endlich einmal begegnen – wenn auch unter diesen Umständen.«

»Sie haben einen kräftigen Händedruck. Für eine Frau«, sagte Liebrich freundlich plump und betrachtete sie eingehend. »Ich kann verstehen, warum Peter Sie mir bis jetzt vorenthalten hat. Vermutlich ist es eine archaische männliche Eigenschaft, alles Wertvolle für sich behalten zu wollen.«

Einen Moment noch hielt er ihre Hand, musterte sie mit freundlichen Augen und schien ihr Bild in seiner inneren Datenbank zu speichern. Dann besann er sich.

»Ich bin unhöflich«, sagte er schließlich und bezog Peter mit in die nächsten Worte ein, indem er auch ihn ansah. Dann zeigte er mit einer ausladenden Geste auf den anderen Mann.

»Ich darf euch einen alten, sehr guten Freund von mir vorstellen, Herrn Gassmann.«

Der deutete eine Verbeugung an und sagte steif:« Guten Abend, gnädige Frau! Mr Johnson!«

Seine Stimme hatte etwas Knarrendes, Nasales, ohne unangenehm zu klingen. Er gab ihnen nicht die Hand, sondern nickte beiden nur kurz zu. Er mochte etwa zehn Jahre jünger als Liebrich sein, war aber noch etwas kleiner und untersetzter, vielleicht 1,68 Meter. Sein dichtes Haar war militärisch kurz geschnitten und durchgehend weiß und er trug eine konservative Brille mit dunklen Bügeln in einem kantigen Gesicht ohne Falten.

Graue Augen rundeten das Bild eines selbstbeherrschten Mannes ab, dem man jederzeit den Politiker oder erfolgreichen Geschäftsmann abnehmen würde.

»Herr Gassman ist auch der Grund, warum ich mich ein bisschen verspätet habe«, nahm Liebrich den Faden wieder auf.

»Meine Erkundigungen haben ein paar Erkenntnisse aufgeworfen, die es mir ratsam erscheinen ließen, meinen alten Freund mit einzubeziehen und ein wenig von seinen Beziehungen zu profitieren. Das bezieht sich allerdings nicht » – hier machte der Alte eine Pause und sah Peter und Angela eindringlich an – »auf die Angelegenheit, wegen der wir uns eigentlich hier treffen. Das bleibt eine reine Privatangelegenheit zwischen euch beiden und mir. Darüber reden wir nur unter uns. Ist das verstanden?«

Peter, der nichts verstand, nickte nur. Angela fragte: »Aber inwiefern sind Sie dann involviert, Herr Gassmann? Wenn Sie nicht wegen unserer Angelegenheit hier sind...«

»Ich glaube gern, dass Sie irritiert sind, junge Frau. Ich weiß nur, dass Sie ein Problem mit Professor Kerner haben und ich weiß um ihren Jungen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie leid mir das tut. Was ich nicht weiß – und auch nicht wissen will, ist was Sie im Einzelnen vorhaben. Das besprechen Sie bitte mit meinem alten Freund, wenn ich wieder gegangen bin. Ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Ich habe Informationen, die für Sie vielleicht nützlich sind. Oder zumindest etwas erhellend im Bezug auf die Fragen, die Sie im Zusammenhang mit Herrn Kerner haben werden.«

Angela, die spüren konnte, wie sich ihre Körperhaare aufrichteten, sah ihn mit großen Augen an.

»Sie meinen zum Beispiel die lächerlich geringe Haftstrafe für den Mörder meines Kindes? Oder warum diesem Verbrecher niemand Einhalt gebietet? Oder ...?«

Gassmann, dem die schärfer werdende Tonlage Angelas nicht entgangen war, sagte mit ruhiger Stimme:

»All diese Fragen kann ich Ihnen beantworten, liebes Kind. Im Moment weiß ich noch nicht jede Einzelheit, aber die meisten. Haben Sie nur einen Moment Geduld.«

Angela spürte Peters Hand, die nach ihr tastete und griff dankbar zu. Und während Sie ihre Fingernägel in Peters Hand krallte, ohne es zu merken, fragte sie atemlos:

»Woher haben Sie dieses Wissen? Wer sind Sie?«

Und bevor Gassman darauf antworten konnte, hörte sie wie aus weiter Ferne Liebrich sagen:

»BND.« Die Buchstaben gedehnt und mit Pausen auseinandergezogen.

»Was bitte?«, fragte Angela, die glaubte, sich verhört zu haben.

»BND«, wiederholte der Alte. »Herr Gassmann war bis vor kurzem in der Führungsriege des Bundesnachrichtendienstes!«

Wer bist Du wirklich?

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