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Vier

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Berlin

Oberkommissar Frank Berndes hastete die wenigen Stufen zum Hotel Adler hoch und fegte wie ein mittlerer Tornado in die kleine Vorhalle. Es war ein sehr langer Arbeitstag gewesen. Erst ein Einsatz im Morgengrauen, der sich bis Mittag hingezogen hatte. Das war etwas der Zeitpunkt, da die extremen Zahnschmerzen begonnen hatten, die den Nachmittag über anhielten. Den Großteil des Abends hatte er mit Eva, seiner Frau, gestritten und wusste hinterher nicht, was von beiden schlimmer war. Kurz nach Mitternacht hatte er sich völlig geschafft ins Bett gelegt.

Zunächst hatte er, wegen der Streiterei Gedanken wälzend, nicht einschlafen können. Gegen eins war er schließlich in ein Erschöpfungskoma gefallen. Um zwanzig nach eins war der Anruf gekommen.

Berndes war ausgesprochen schlechter Laune, als er die müden Augen durch den Rezeptionsbereich wandern ließ, auf der Suche nach seinem Assistenten. Ein mittelgroßer Mann im Overall der Spurensicherung kam aus einer Tür zu seiner Rechten, in einer Hand den Koffer mit seinem Werkzeug. Er sah weiß im Gesicht aus, als er den Kommissar begrüßte.

»N’Abend, Herr Berndes!«

»Wo ist Jürgens?«, brummte der zurück. Der Mann wies mit dem Kopf zu der Tür, aus der er gerade gekommen war und zog dann beleidigt weiter.

Der Raum hinter der Tür war winzig. Gerade Platz genug für einen Schreibtisch, zwei Stühle, eine Ablage an der Wand, auf der sich ein Wasserkocher und ein Tablett mit Bechern befanden. Ein tragbarer Fernseher in einem Eckregal, ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe auf dem schäbigen Schreibtisch. Und Jochen Jürgens, sein Assistent, die Beine vom Tisch baumeln lassend und wie immer unverschämt munter und gut gelaunt.

»Hallo Chef! Aus dem Bett gefallen?«

Berndes ignorierte das Grinsen im Gesicht seines Assistenten. Er hatte es längst aufgegeben, sich über den Jüngeren zu ärgern. Jürgens war rotzfrech, leichtfertig im Umgang mit Vorgesetzten und Vorschriften, ständig in irgendwelche Frauengeschichten verwickelt und schien niemals zu schlafen. Er rauchte wie ein Schlot und Berndes vermutete, er trank zuviel. Aber er war zuverlässig, intelligent und aufmerksam. Und das allein zählte.

»Wo ist der Tote?«, fragte Berndes nur. Jürgens wies mit einem Kopfnicken auf eine weitere Tür, die Berndes bisher übersehen hatte. Sie war in dem gleichen schmutzigen Gelb gestrichen wie die Tapete auch. Dahinter befand sich ein Raum wie ein Schlauch, in dem außer einem Feldbett keine weiteren Gegenstände standen. Auf dem Bett lag ein Mann auf dem Rücken und starrte mit seinem einen Auge ins Leere.

»Werner Hagemann. Frührentner. Früher Binnenschiffer, Boxer, Gelegenheitsarbeiter. Diverse Vorstrafen. Kleinigkeiten hauptsächlich. Hehlerei, Körperverletzung. Hat vor drei Jahren den Job hier übernommen, nachdem er vorzeitig in Rente gegangen war.« Jürgens listete die Daten auf, ohne auf seinen Notizblock zu sehen.

»Was ist mit dem Auge?«

»Unfall auf einem Lastkahn. Hat einen Bootshaken auf die Klüse bekommen …«.

Berndes nickte wie zur Bestätigung. »Todesart?«

»Erwürgt. Mit bloßen Händen.«

Berndes sah seinen Mitarbeiter irritiert an. »Der Mann ist ein Riese, den erwürgt man nicht einfach so.«

»Wir denken, er war da schon bewusstlos. Hat vorher einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Stumpfer Gegenstand, wahrscheinlich der eigene Aschenbecher. Wir haben Haare und Blut daran sichergestellt.«

Jürgens merkte, dass Berndes ihn erwartungsvoll ansah. »Nein, keine Fingerabdrücke.«

Frank Berndes schüttelte resigniert den Kopf. Natürlich nicht. Er nahm die Zigarette, die ihm Jürgens anbot, ließ sich Feuer geben, nahm einen kräftigen Zug, hustete. »Merkwürdig«, sagte er schließlich. »Warum gibt er ihm nicht mit dem Aschenbecher den Rest? Warum nimmt er sich die Zeit, das arme Schwein zu erwürgen?«

Jürgens grinste humorlos. »Vielleicht, weil er Spaß dabei empfindet.«

Genau der Gedanke war dem Kommissar auch gekommen.

»Und der andere?«, fragte er dann.

»Oben im dritten Stock. Und da wird es richtig gemütlich. Großes Kino, dagegen ist das hier die ‚Augsburger Puppenkiste‘.«

»Na dann wollen wir mal«, sagte Berndes und folgte seinem jüngeren Kollegen. Sein Zahn rief sich schmerzhaft in Erinnerung und ließ nichts Gutes erwarten.

Auf der Treppe kam ihnen ein Geist im Smoking entgegen. Professor Jonas, etwa sechzig Kilogramm Lebendgewicht bei knapp zwei Metern Größe, war der Pathologe vom Dienst. Er hatte nach einem gelungenen Opernbesuch und anschließendem Late-Night Umtrunk gerade im Taxi nach Hause gesessen, als ihn die Pflicht per Handy rief. Seine Stimmung stand der von Berndes in nichts nach. Das und die Hakennase, in Verbindung mit den kleinen dunklen Augen, verliehen ihm mehr denn je etwas Raubvogelartiges.

»Auch schon da?«, blaffte er Berndes an. »Ich hoffe, man hat Sie nicht zu rüde geweckt.« Sein sarkastischer Tonfall strafte seine Worte Lügen.

»Ich freue mich auch, Sie zu sehen«, entgegnete Berndes kalt. »Schon was, das Sie uns sagen können?«

»Steht morgen alles in meinem Bericht. Besser gesagt, heute. Nach der Autopsie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen…«.

Der Arzt hatte die unterste Stufe schon erreicht, als ihn Berndes aufhielt. »Kommen Sie, Jonas! Werfen Sie uns in Ihrer unendlichen Güte ein paar Brocken hin.«

Der Pathologe seufzte laut, ging aber nicht weiter. Schließlich drehte er sich widerwillig um.

»Nun gut, wenn ich dann endlich schlafen gehen kann: Der Tod ist etwa vor ein bis zwei Stunden eingetreten, grob geschätzt. Arbeitsmittel: wahrscheinlich ein Messer oder ein anderes scharfkantiges Instrument ähnlicher Art. Todesursache ist übrigens nicht der Verlust der Männlichkeit, auch wenn dieser nach einer Weile infolge des Blutverlustes zum Exitus geführt hätte, sondern akutes Herzversagen.« Er funkelte Berndes an. »Genug Brocken? Alles andere dann später.« Sprach’s und war verschwunden.

Berndes sah ratlos zu Jürgens, der ihm grinsend zuzwinkerte:

»Der scheint Sie ja echt zu mögen, Chef! Aber keine Angst: Sie werden gleich verstehen, was er gemeint hat.«

Damit federte er die letzten Stufen hinauf, öffnete die erste Tür links der Treppe, stand dort Spalier und bedeutete seinem Vorgesetzten mit einer fließenden Bewegung seines Armes, einzutreten.

Der Anblick war grotesk.

Die Leiche von Alexander Brinkmann lag rücklings auf dem Bett, Arme und Beine gespreizt und jeweils mit Seilen an einen Bettpfosten gebunden. Der Gestank nach Kupfer und rohem Fleisch war atemberaubend. Das Gesicht des Toten war verzerrt, die glasigen Augen aufgerissen, der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Zwischen den Beinen und im Brustbereich jeweils riesige Blutlachen. Berndes glaubte etwas Metallisches in der Unterleibsgegend zu erkennen, aber er war sich nicht sicher, weil das Blut keinen klaren Blick erlaubte. Er ging näher heran und zuckte zurück. Sah wie um Hilfe suchend Jürgens an. Setzte an:

»Sagen Sie mir, dass das nicht das ist, was ich denke, dass…«.

»Wenn Sie meinen, dass man ihm den Schwanz abgeschnitten hat-«.

»Jürgens, verdammt! »

»Tschuldigung! … die Genitalien abgeschnitten, dann haben Sie recht.«

»Herrgott, das meine ich nicht. Das, was da rausguckt… ist das ein Kreuz?« Berndes war fassungslos.

»Ja, ist es. Jemand hat ihm ein Kruzifix in den Arsch geschoben. Bis zum Anschlag.«

Jürgens räusperte sich, als er den wütenden Blick seines Vorgesetzten sah. »Tut mir Leid, Chef. Wegen der Ausdrucksweise, meine ich. Aber da können sie schon mal mit einem durchgehen… und das ist ja noch nicht alles.«

Berndes sah ihn nur an.

»Das Abschneiden der Genitalien und das Penetrieren des Afters mit dem Kreuz … da hat er noch gelebt. Gestorben ist er erst, als ihm das Herz herausgeschnitten wurde.«

Jürgens verstummte, ließ das bei Berndes sacken.

»Und wo ist sein Herz jetzt?« Berndes‘ Stimme hatte jede Resonanz verloren.

»Und sein verdammter Schwanz dazu?«

»Wir wissen es nicht, Chef. Der… Schwanz liegt im Abfalleimer. Das Herz ist spurlos verschwunden.«

Akutes Herzversagen, dachte Frank Berndes indigniert. Einen komischen Humor hatten diese Pathologen.

»Kerner fing systematisch an, Angela zu demontieren«. Peter lachte humorlos. »Er drehte die Tatsachen einfach um. Erzählte beiläufig davon, dass er ihre Arbeit sehr schätzte und eigentlich mehr als zufrieden mit ihr sei.« Das eigentlich dehnte Peter unnatürlich aus.

»Leider würde sie Arbeit und Freizeit nicht so richtig trennen können. Er machte dubiose Andeutungen, dass sie versucht habe, eine Gehaltserhöhung zu erschleichen. Wenn nachgefragt wurde, wie das ausgesehen habe, sagte er nur, er sei ein Gentleman und würde demzufolge schweigen.«

»Das ist frech«, sagte Liebrich trocken. »Aber jedes Mal bleibt ein bisschen hängen. Richtig?«

»Richtig. Können Sie sich vorstellen, wie es aussah, als Angela sich mit ihrer Forderung nach einer Gehaltserhöhung an die Leitung wandte?«

»Das hat sie getan? Das ist irgendwie auch dreist, oder?«

»Das ist Angelas Sinn für Fairness. Kerner hatte es ihr versprochen und sie hatte es verdient. Sie war gut. Punkt.«

Liebrich konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ich glaube, ich fange an, deine Angela zu mögen.«

»Jedenfalls war das nur ein Mosaiksteinchen in Kerners Intrigenpuzzle. Er zog alle Register. Unterlagen verschwanden plötzlich, Aufzeichnungen von Angela waren unvollständig, als sie sie der Leitung präsentieren wollte. Dateien auf ihrem Rechner wurden gelöscht. Ihr Zugang zum Netzwerk wurde gesperrt – und jedes Mal sah es so aus, als läge der Fehler bei ihr.«

»Warum hat sie nicht gekündigt?«

»Weil sie nicht einfach weglaufen kann. Sie kann es nicht. Angela ist so. Sie hatte sich etwas aufgebaut, etwas erreicht – und zwar aus eigener Kraft. Warum sollte sie das aufgeben? Weil ihr Chef ihr das Leben zur Hölle machte? Das ist kein Grund. Jedenfalls nicht für Angela.«

Peter spülte sich die mittlerweile trocken gewordene Kehle mit einem Schluck Bier, steckte sich erneut eine Zigarette an, sah versonnen dem Rauch hinterher, bevor er weitersprach.

»Sie müssen verstehen, wie Angela strukturiert ist. Arglist, Intrigen, Lügen… das sind Fremdwörter für sie. Sie ist der offenste, ehrlichste Mensch, den ich kenne. Nur…« Peter zuckte mit den Schultern.

»… was eigentlich eine menschliche Stärke ist, ist gleichzeitig ihre größte Schwäche. Es macht sie angreifbar. Sie erwartet von allen anderen Menschen dasselbe, glaubt an Gerechtigkeit. Jedenfalls war das damals noch der Fall. Sie war im Recht, denn Kerner war der, der ein falsches Spiel trieb, nicht sie. Also war Kerner derjenige, der gehen musste. So einfach, so logisch, so falsch.«

»Weil die Institutsleitung ganz anderer Meinung war, nehme ich an.«

»Natürlich. Kerner war unersetzlich. Die größte Koryphäe auf seinem Gebiet. Sie konnte nur verlieren.«

»Sie haben sie entlassen?«

»Soweit kam es nicht«, nahm Peter den Faden wieder auf. »Es war eine Frage der Zeit, aber Kerner unternahm einen letzten Versuch. Er muss mittlerweile wie besessen davon gewesen zu sein, Angela zu kriegen. Jedenfalls kam er zu ihr, um ihr einen Deal vorzuschlagen. Er sagte, sie stünde ihm zu. Er-«

»Sie stünde ihm zu? Das ist krank, das ist widersinnig«, unterbrach Liebrich entrüstet. »Natürlich ist es das. Er hatte jede Verhältnismäßigkeit verloren. Offensichtlich kam es nicht oft vor, dass er einen Korb bekam. Ich glaube, er war schon immer latent geisteskrank. Genie und Wahnsinn sollen doch Hand in Hand gehen. Ein schmaler Grat, auf dem solche Leute wandeln…«.

»Und den Kerner durch Angelas Verweigerung überschritten hat«, ergänzte der Alte.

»Ja. Anders ist das Folgende nicht zu erklären. Er kam also zu ihr, sagte, sie stünde ihm zu, denn er habe sie erschaffen, habe sie zu dem gemacht, was sie sei. Durch ihn habe sie die Chance bekommen, sich in ihrem Job zu beweisen. Sein Genie sei es, das auch auf sie abgefärbt habe. Er habe sie groß gemacht und er würde sie auch wieder ganz kleinkriegen. Es sei an ihr, ihre Dankbarkeit zu zeigen – dann könne alles andere wieder in Ordnung kommen. Lauter so durchgeknalltes Zeug. Angela sagt, er hätte dabei ausgesehen wie Jack Nicholson in ‚The Shining‘.«

»Ich kann mir vorstellen, wie ihre Antwort ausgesehen hat.«

»Das bezweifele ich.« Peter konnte sich ein erneutes Grinsen nicht verkneifen. »Sie ließ ihn nah an sich herankommen, wiegte ihn in dem Glauben, er hätte es geschafft. Und gerade, als sich Triumph in seinem Gesicht breitmachte und er seine Arme um sie legen wollte, hat sie ihm das Knie mitten in seine Kronjuwelen gerammt.«

»Deine Angela erstaunt mich immer wieder«, schmunzelte Liebrich und hob anerkennend die Augenbrauen.

»Drei Mal«, beendete Peter seine Erzählung.

»Jetzt bin ich wirklich beeindruckt«. Liebrich lachte laut los und nach einer Weile tat Peter es ihm gleich.

Fast simultan hoben beide ihre Gläser und prosteten sich zu. Eine kurze Pause in einer Verhandlung, die schwerwiegende Folgen haben konnte. Wie ein Waffenstillstand, dachte Peter. Und irgendwie war es das auch, denn obwohl sie keine Gegner oder Feinde waren, standen sie in dieser einen Sache noch auf verschiedenen Seiten. Der Gefallen, um den Peter seinen Mentor gebeten hatte, schien monströs. Es ging um etwas, von dem ihm Liebrich vor langer Zeit einmal erzählt hatte. Eine Art ultimative Waffe, ein Mittel, das man nur einsetzte, wenn alle anderen Methoden versagten. Wenn Peter seinen alten Freund überzeugen, wenn er jeden Zweifel an der Schuld Kerners auslöschen konnte, dann würde die Verantwortung nicht mehr bei ihnen liegen. Dann würde sie in die Hände einer Organisation gelegt, deren Größe und Macht Peter immer noch nicht annähernd einschätzen konnte.

Es musste ihm gelingen, dem alten Polizisten glaubhaft zu machen, welche potentielle Gefahr Kerner darstellte. Dass er eine tickende Zeitbombe war, die jederzeit losgehen konnte. Dann würde Angela in Zukunft ruhiger schlafen können. Wenn Liebrich zu der Einsicht käme, dass es mit den üblichen Mitteln der Justiz nicht gelingen konnte, eine Lösung zu finden., käme eine neue Option ins Spiel. Dann geriete etwas in Gang gesetzt, auf das sie keinen Einfluss mehr hätten.

Alles hing davon ab, Liebrich zu überzeugen und Peter würde alles dafür tun. Denn wenn er das schaffte – dann würde er auch sich selbst überzeugen können. Und das hoffte er mehr als alles andere.

»Vielleicht war das der letzte Auslöser«, fuhr Peter schließlich fort. »Das endgültige Reißen der dünnen Linie zwischen potentiellem und echtem Wahnsinn.« Er sah Liebrich fast herausfordernd an. Der zuckte nur die Schultern. »Weiter, Junge! Was geschah dann?«

»Kerner hatte wutentbrannt das Büro verlassen. Angela packte ihre Sachen zusammen, regelte noch einige Dinge, fuhr in die Stadt, trank einen Kaffee, schlenderte ziellos durch die Gegend. Was man eben so macht, wenn man seine Gedanken ordnen will. Sie brauchte ein wenig Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen. Nicky musste sie erst gegen sechs von der Schule abholen. Er spielte damals immer noch eine Runde Tischtennis mit ein paar Freunden. Die Schule bot solche beaufsichtigten Sportnachmittage für Kinder von berufstätigen Eltern an. Als sie dann in der Schule ankam, war Nicky nicht mehr da. Die Lehrerin, die die Aufsicht hatte, sagte ihr, dass Kerner ihn abgeholt habe.«

»Und der konnte den Jungen einfach so abholen?« Liebrich zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

»Das war nicht wirklich ungewöhnlich. Kerner hatte das schon des Öfteren getan, mit und ohne Angela. Wenn ein gemeinsames Essen anstand, zum Beispiel. Kerner war in der Schule also durchaus bekannt.«

»Aber was hatte er vor? Welchen Sinn sollte es haben, den Jungen zu entführen - zumal er wissen musste, dass ihn die Lehrerin sofort identifizieren könnte?«

»Ein Machtbeweis, ein Zeichen… » Peter merkte erst beim Ansetzen des Glases, dass es schon wieder leer war, stellte es unschlüssig wieder auf den Tisch. Der Alte betrachtete ihn einen winzigen Moment prüfend, als wäge er etwas ab. Dann schenkte er unaufgefordert nach.

»Angela rief sofort bei Kerner an, stellte ihn zur Rede. Er lachte nur, sagte etwas in der Art: ‚Man muss sich nehmen, was einem gehört. Jeder auf seine Art. Du willst deinen Sohn? Komm und hol ihn!‘ Angela sagt, es war weniger was, als vielmehr wie er es gesagt hat, was sie panisch werden ließ. Etwas in seiner Stimme … in seinem Tonfall.«

»Und dann hat sie, was im Übrigen sehr vernünftig war, die Polizei gerufen«, führte Liebrich Peters Geschichte weiter.

»Richtig. Ab dann kam ich ins Spiel. Ich war mit Karl – Karl Elster – auf dem Weg zurück ins Revier, als uns die Zentrale rief. Wir sind sofort zu Kerner raus. Als wir in seine Straße einbogen, hatten sich schon die ersten Schaulustigen versammelt. Ich musste wie ein Irrer auf die Bremse latschen, um nicht jemanden zu überfahren. Auf der Straße lag in einer riesigen Blutlache der Junge… Nicky, aber das wusste ich damals natürlich noch nicht.«

Peter stockte, in Gedanken sieben Jahre in die Vergangenheit gereist. Wie oft hatte er den Anblick eines toten Menschen erleben müssen? Eines Sterbenden? Eines toten Kindes? Jedes Mal ein Mal zuviel. Jeder Tote schon eine Tragödie, jedes Kind noch einmal eine Schippe drauf auf den verdammten Rucksack, den er zu tragen hatte. Jedes Mal hinterließ etwas in seinem Inneren, etwas Böses, Schwelendes. Etwas, das größer wurde wie eine Krebsgeschwulst, bösartig und wachsend, das gesunde Gewebe dabei zerstörend. Peter hätte dieses Gefühl nicht beschreiben können. Aber es war da – und es wurde stärker.

Er trank wieder, schüttelte sich, wie um die Erinnerung abzustreifen. Atmete tief durch, während Liebrich ihn beobachtete. Dann hatte er sich gefangen, erzählte weiter:

»Ein Krankenwagen war schon unterwegs, von Nachbarn gerufen. Der Junge lag dort, bleich und wächsern im Gesicht, die Augen weit aufgerissen, die Glieder unnatürlich verrenkt. Wir erkannten sofort, dass er tot war. Ich sah mich um, sah in Gesichter, die diese typische Mischung aus Schock, Betroffenheit und Sensationsgeilheit hatten. Aber das brauche ich Ihnen nicht zu sagen.«

Liebrich schüttelte müde den Kopf. Das Phänomen hatte er selbst oft genug erlebt. Was zog Menschen so magisch an den Ort einer Katastrophe? Welcher Reiz lag darin, die Opfer eines Verkehrsunfalls zu betrachten, abgerissene Gliedmaßen und aufgeplatzte Köpfe zu sehen? Oder einen kleinen Jungen, der aus dem dritten Stock in den Tod gestürzt war… Liebrich hatte es in all den Jahren nicht verstanden, nicht verstehen wollen. Die Erklärungsversuche der Psychologen hatte er beiseite gewischt. Für ihn war diese morbide Lust am Elend Anderer Ausdruck einer kranken Gesellschaft in einer siechenden Welt.

»Im dritten Stock brannte Licht, die Balkontür war geöffnet… laute, klassische Musik, pompös und martialisch. Vielleicht Wagner…«, fuhr Peter fort. »Karl hat das Treppenhaus gesichert, ich bin im Fahrstuhl nach oben. Die Tür zum Appartement stand offen, wir also rein…«

»Die Tür stand offen?«, unterbrach der Alte. »Warum?«

»Weiß ich nicht. Ich hab es nie für relevant gehalten… denken Sie, dass…?«

»Nein, nein«, entgegnete Liebrich. »Erzähl nur weiter!« Aber er schien nicht wirklich überzeugt, sah nachdenklich auf das Glas in seiner Hand.

»Wir gingen also rein«, setzte Peter wieder an. »Die Wohnung war Luxus pur… Teppiche so dick wie mein Unterarm, die Einrichtung Designermöbel, komplett in schwarz und weiß, minimalistisch und mit Sicherheit scheißteuer. Ich fand es abstoßend hässlich. Kerner saß reglos in seinem Sessel, völlig zugedröhnt, die Haare wirr im Gesicht, noch Spuren von Koks um die Nase. Ich hab die ohrenbetäubend laute Musik ausgemacht, während Karl sich in den anderen Zimmern umsah und dann auf Kerner aufpasste. Auf dem Balkon ein Stoffteilchen, das an der Brüstung hängen geblieben war. Vom T-Shirt des Jungen, wie sich später herausstellte. Ich sah hinunter, sah den Jungen da liegen, die gaffende Meute… und dann lachte Kerner dieses irre Lachen. Ich bin wieder rein, wollte nur eins: Dass er mir einen Grund gab, ihn zu schlagen …«.

Peter steckte sich eine Zigarette in den Mund, ohne sie anzuzünden.

»Und, hat er dir einen Grund gegeben?«

Liebrich gab Peter Feuer und der zog gierig an seiner Zigarette. »Er hat mich angegrinst.«

»Das ist ein Grund«, sagte der Alte.

»Das hab ich auch so gesehen.«

Peter hatte den Ausdruck im Gesicht Kerners wieder vor Augen. Überheblich, seiner selbst sicher, trotz seines Zustands. Alles in dieser Visage sagte: Ihr könnt mir gar nichts… Es war die falsche Botschaft, die der anerkannte Kernphysiker Thomas Kerner aussandte. Peter hatte ihm zwei Zähne ausgeschlagen.

Liebrich sah ihn eine kleine Ewigkeit einfach nur an. Dann gab er sich einen Ruck, trank seinen Whisky mit einem Schluck aus und begann zu sprechen.

»Ich brauche die Akten von damals. Die besorge ich mir morgen. Dürfte kein Problem sein, ich habe immer noch gute Verbindungen. Du solltest Lorenz also keinen Grund liefern, dir weitere Steine in den Weg zu legen. Außerdem muss ich ein paar Telefonate führen. Würde zu gern wissen, warum alle Welt so ein Interesse an Kerner hat. Das milde Urteil, die Bewährung, der Auftritt deines Chefs – das alles stinkt zum Himmel.«

Liebrich schenkte sich und Peter nach. »Lass uns für heute aufhören, mein Junge.« Er prostete dem Jüngeren fast feierlich zu, gönnte ihm ein zaghaftes Lächeln. »Ich teile dir meine Entscheidung morgen mit.«

Peter nickte nur, fühlte sich plötzlich leer und erschöpft. Trank einen Schluck, griff nach seinem Handy, fluchte leise.

»Was ist los? Ärger?«

»Sieht so aus…. Massenweise Anrufe aus dem Revier und von Lorenz. Scheiße…«.

»Ich glaube, ich rufe dir doch ein Taxi… »

Peter wählte einen der aufgelisteten Anrufe aus dem Revier auf seinem Display und drückte auf die Rückruftaste. Während er ungeduldig dem Freizeichen in seinem Hörer lauschte, beschäftigte ihn vor allem eine Frage: Warum war die Tür von Kerners Appartement offen gewesen?

Schließlich wurde abgenommen. »Jürgens.«

Peter mochte den jungen Polizisten. Wahrscheinlich erinnerte er ihn an sich selbst, zu Zeiten, als er die Nächte noch nicht desillusioniert in seinem Wohnzimmer verbracht hatte. Als er unbeschwert und voller Ideale war, den Kopf noch nicht so voller Gedanken, dass er schon wieder leer war. Keine endlosen Nächte allein in seinem Wohnzimmer, der Blick aus dem Fenster, Iron Maiden, Judas Priest oder – an weniger schlimmen Tagen – Rory Gallagher aus der Anlage. Und fast immer der Whisky, Highland Park, wenn möglich. Aber jeder andere tat es auch. Die Musik, der Alkohol und die Dämonen. Das Leben des Peter Johnson heute.

»Jay-Jay, was ist los? Mein Handy ist kurz vorm Platzen…«

»Du bist gut, alter Schotte. Wir versuchen seit Ewigkeiten, dich zu erreichen. Der Alte tobt wie ein Wahnsinniger.«.

Irgendetwas war gewaltig falsch gelaufen, das war Peter auch in seinem leicht betrunkenen Zustand klar.

»Klär mich auf. Kurz und knapp, wenn möglich…«

»Du hast eine Riesenscheiße gebaut. Vogel ist angegriffen worden und schwer verletzt im Krankenhaus. Und jeder fragt sich, wo du warst. Außerdem haben wir einen Doppelmord, eine Riesensauerei. Du wirst einige Fragen ... «

»Wo ist Karl jetzt?«

Peters Magen hatte sich in einem riesigen Stein verwandelt. Er war nicht in der Lage, weiter zuzuhören.

»Im Martin-Luther. Und Du solltest besser nicht Lorenz über den Weg laufen. Peter, pass auf. Die haben dich echt am Arsch.«

»Danke«. Peter legte auf, griff nach den Zigaretten und machte sich fertig.

»Das Taxi ist jeden Moment da«, sagte Liebrich. Sein Blick verriet Sorge. Auch ohne den genauen Wortlaut des Telefonats gehört zu haben, war ihm eines völlig bewusst: Sein junger Freund war in großen Problemen gelandet.

»Das war Jürgens eben... Karl ist im Krankenhaus. Ich mach mich jetzt auf den Weg.«

»Was genau ist passiert?«

Peter erzählte Liebrich in kurzen Sätzen das Wenige, das er erfahren hatte..

»Peter, bevor Du gehst …«.

»Ja?« Es klang schroffer, als er es beabsichtigt hatte. Peter hatte das Gefühl, auf heißen Kohlen zu sitzen.

»Junge, ich verstehe, dass Du jetzt ungeduldig bist und zu deinem Kollegen willst. Aber sei vorsichtig, vor allem im Umgang mit Lorenz. Du kannst jetzt keinen Nebenkriegsschauplatz gebrauchen. Konzentriere dich auf die wichtigen Dinge!«

Peter war schon draußen auf dem Weg zum wartenden Taxi. Aber die Worte hatten ihn noch erreicht.

Thomas Kerner stand im strömenden Regen. Er hatte sein Auto stehen lassen, war die letzten Meter gelaufen. Von seiner rechten Hand wurde Blut gespült, verteilte sich in dem Rinnsal unter seinen Füßen. Er merkte es nicht einmal. Er sah hoch zu dem Appartement, in dem sie wohnte. Alle Lichter waren an. Wahrscheinlich machte sie es sich gerade gemütlich. Beide Hände zuckten nervös. Er war nicht zufrieden, ganz und gar nicht. Den kleinen Junkie zu killen hätte Befriedigung bringen müssen, so hatte er es sich gedacht. Alex hatte ihn verraten und er hatte es ihm heimgezahlt. Das müsste eigentlich ein gutes Gefühl ergeben. Kerner glaubte an Begriffe aus dem Alten Testament. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nicht, dass er besondere religiöse Überzeugungen hatte. Aber das Martialische in der Doktrin eines einzigen Gottes hatte ihn schon immer fasziniert.

Die Kippe seiner aufgerauchten Zigarette landete neben seinem rechten Fuß. Er beachtete sie nicht, hatte nur Augen für die Lichter der Wohnung, in der sich Angela jetzt amüsierte. Diese Schlampe…

Peter hatte es gerade vermeiden können, Lorenz über den Weg zu laufen. Er konnte gerade noch stoppen, als der Alte um die Ecke kam. Nicht jetzt. Peter hätte es nicht ertragen. Er wartete ein, zwei Minuten in der Ecke, in die er sich zurückgezogen hatte, bevor er sich wieder in Gang setzte.

Es roch wie immer nach diesem Gemisch aus verbrauchter Luft und Desinfektionsmittel. Die Schwester, die ihm auf seine Frage hin den Weg zu Karls Zimmer beschrieben hatte, hatte ihre Nase gerümpft. Whisky und Bier. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken.

Vor der Tür stand ein Kollege, nickte nur, als er Peter erkannte.

Ein kleines Licht brannte auf dem Nachttisch, tauchte das Zimmer in ein warmes, sanftes Gelb. Karl Elster hatte die Augen geschlossen, eine Art Turban um den Kopf. Sein Atem ging schwer, war mehr ein Röcheln. Peter setzte sich zu ihm, zog sich den einzigen Stuhl direkt ans Bett.

»Alter Schwede«, sagte er leise, fast zärtlich.

»Alter Schotte«, kam es zurück. Es war kaum zu verstehen. Es ging Karl Elster nicht gut, das war deutlich zu merken. Er hob leicht den Kopf, ließ ihn sofort wieder sinken.

»Karl, bist Du okay?«

Elster atmete tief durch. Das Rasseln seines Atems klang unnatürlich laut im Zimmer.

»Nein, ich bin nicht okay«, kam es schließlich zögernd. »Wärst Du an meiner Stelle auch nicht, du Arsch…«

»Karl, ich… -«

»«Jetzt halt einfach mal das Maul, okay? Seit Jahren halte ich dir den Allerwertesten frei, seit Jahren bist Du nur noch zur Hälfte da. Seit Du diese Trine kennen gelernt hast, säufst Du wie ein Loch, bist ständig abwesend, nicht mehr Du selbst. Du –«

»Rede nicht so von Angela!«

»Ich rede wie ich will! Ich wäre fast krepiert, weil Du wieder mal was Besseres in Sachen Angela Hansen zu tun hattest. Weißt Du eigentlich, wie oft Du in den letzten Jahren nicht da warst, weil Angie Wehwehchen hatte?«

Karl atmete aus, als würde er den letzten Atemzug tun.

»Du bist nicht mehr zuverlässig, Peter«. Elster mühte sich, seine Schmerzen zu verdrängen, sah zur Decke, als würde er dort die absolute Erkenntnis erlangen.

»Und ich war in meiner Gutmütigkeit so blöd, dir das alles viel zu einfach zu machen. Aber das Ding heute hat mir die Augen geöffnet. Ich will nicht mehr dein Partner sein.«.

Peter hatte das Gefühl, einen weiteren Schritt über die imaginäre Brücke gemacht zu haben. Es schien keinen Weg zurück zu geben.

»Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich dir blind vertraut. Wenn Du raus gehst in diese Scheiße, dann ist das nötig, Peter. Dann brauchst Du jemand, auf den Du dich immer, in jeder Situation verlassen kannst. Das kann ich bei dir nicht mehr, tut mir leid.«

»Warum haben sie das gemacht, Karl?« Peter sagte es so nüchtern, als hätte er gar nicht zugehört. Er gab sich ruhig, aber im Inneren wütete ein Sturm. »Es macht keinen Sinn, oder?«.

»Sie haben es gemacht, weil sie es machen können. Verstehst Du das nicht?«

Elster schloss die Augen, tat so, als würde er schlafen.

»Du bist ein Arschloch, Karl Elster. Gib mir wenigstens ein paar Infos, wenn du ansonsten zickst wie ein Waschweib.«

»Folgende Infos, und das sind die letzten, die du von mir kriegst: Da ist irgendein Bandenkrieg am Gange… und sie haben irgendwann beschlossen, sich unsere blöde Observation nicht mehr gefallen zu lassen, so einfach ist das. Die haben sich mich ausgeguckt. Ich hab diesen Bastard verdammt gut gesehen, als er an meinem Auto vorbeigegangen ist. Der hat mich abgeschätzt… wie ein Boxer den anderen.«

»Und der Mord?«

»Irgendeine andere Gang, die selbst gern die Sahnetörtchen haben will ... das war reiner Zufall.«

»Der Tote?«

»Na wer wohl? Pastenko…. Zur Hälfte. Also mehr die untere. Ist nicht mehr so viel von ihm da. Michailovich muss am Überkochen sein.«

»Warum? Plötzliche menschliche Gefühle?«

»«Mann, Peter, du bist so ein armer Wichser. Vielleicht gibt es das auch unter denen. Die waren so was wie Freunde, was weiß ich? So was wie wir mal …«.

»Warum gerade, als Du mal von der Leine gelassen warst. Als Vater Peter nicht dabei war?«

»Mensch, ich hau dir eine rein, jetzt ... und wenn es das Letzte ist, das ich tue. Du hast dich zu einem echten Scheißkerl entwickelt. Und jetzt entwickele ich mich gerade zu jemandem, der dich nicht mehr braucht.«

Peter beschloss, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen und es dabei zu belassen. Irgendwie schien alles auseinanderzufallen. Er war auf dem Weg aus dem Polizeidienst heraus ein weiteres Stück gegangen – und wusste trotzdem nicht, wo er stand.

»Pass auf dich auf…«. Das war schwach und er spürte, wie Karls Blick sich in seinen Rücken bohrte, als er die Tür hinter sich zuschwingen ließ.

Peter schlurfte wie betäubt die Treppen herunter, statt den Lift zu nehmen.

Draußen steckte er sich eine Zigarette an. Es wehte ein kräftiger Wind, aber es gab keinen Regen. Eigentlich gab es gar kein Wetter. Es war schwarz und kühl, ohne jedes Flair. Es passte zu dem, was Peter empfand.

Sein Handy klingelte. Er sah auf das Display, erkannte, dass der Anruf von Karl kam und zögerte. Dann drückte er den »Abweisen« Knopf. Er hatte das dringende Bedürfnis nach einem Drink. Und er musste jetzt Angela sehen.

Karin musste selber lachen. Sie trampelte die Treppen mehr herunter, als sie sie lief. Doch ein Tropfen zu viel. Angela hatte ihr ein Taxi vorgeschlagen, aber das war wohl mehr als Blödsinn. Dieser Idiot von Kerner – pah. Nichts, was eine Karin Kabrinsky nicht in den Griff bekommen würde. Ihr Auto stand schließlich gleich um die Ecke. Um welche Ecke?

Scheiße. Karin war ernsthaft verwirrt. Es war kalt, es war dunkel. Und ihr gottverdammtes Auto war nicht da. Sie ergab sich in die Situation. Zu viel Wein, zu wenig Durchblick. Es war wohl sowieso keine gute Idee, noch zu fahren. Sie griff zum Handy, drückte auf die einprogrammierte Nummer für die Taxizentrale und wartete. Das Freizeichen kam und wie immer kam es zu oft. Sie wartete, fragte sich, was denn jetzt wieder los war. Setzte sich auf den kalten Boden. Irgendwo war eben noch der Mond über ihr gewesen, das wusste sie, aber wo? Dicke Wolken hingen am Himmel. Der Himmel über Berlin. War das nicht ein Filmtitel? Karin suchte fast panisch ihr Erinnerungsvermögen durch, fand den Punkt einfach nicht. Wim Wenders? Wie hieß der andere? Der, der auch selbst spielte. Irgendwo aus dem Norden. Hark Bohm? Plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Es ging um zwei Engel, gespielt von Otto Sander und Bruno Ganz. Sie liebte die beiden, aber sie hasste Wenders. Zu deutsch, zu schicksalsschwanger. Zu pathetisch. Zu langatmig. Paris, Texas. Das war doch der Film, der Nastassja Kinskis Karriere ein jähes Ende bereitet hatte. Aus genau diesen Gründen. Scheiße, sah dort der Mond auch so mickrig aus?

Sah der Mond immer aus wie diese kleine Scheibe? Verdammt, das musste die frische Luft sein. Sie war um einiges betrunkener, als sie gedacht hatte. Karin war plötzlich unsicher. Und sie hatte ihre trunken absurde Frage offensichtlich laut ausgesprochen.

»Suchen Sie den Mond?«, fragte der Mann, der plötzlich vor ihr stand. »Ich kann ihn spüren. Er kommt gleich wieder…«

Das war verrückt. Sie sah auf, konnte das Gesicht des Mannes aber nicht erkennen.

»Ich hoffe, du bist dann weg«, sagte Karin und macht eine wegwerfende Handbewegung.. Aber irgendwie war ihre Energie in den letzten Stunden versickert, sonst wäre ihre Reaktion auf einen völlig Fremden, der wirres Zeug redete, anders ausgefallen.

»Ich hol ihn dir, den Mond«, lächelte Thomas Kerner. Dann schlug er ihr seine Rechte mitten ins Gesicht. Sie spürte erst nichts außer totaler Überraschung. Erst mit dem zweiten und dritten Hieb kamen auch die Schmerzen.

Peters Handy klingelte wieder, als er im Taxi auf dem Weg zu Angela war. Das Display zeigte, dass der Anruf von Karl kam. Er zögerte, dann nahm er den Anruf an.

»Ja?« Peter wurde hin und hergeschaukelt, als der Fahrer die Kurven in atemberaubendem Tempo nahm. Er hatte seinen Dienstausweis vorgezeigt und den eingeschüchterten Taxifahrer angewiesen, so schnell wie möglich zu fahren. Ein Bulle unter Einfluss von Alkohol, der seinen Status ausnutzte, um schneller zu seiner Herzensdame zu kommen. Er wusste, dass es nicht richtig war. Es war ihm egal.

»Eins wollte ich dir noch sagen, Peter!«

Karls Stimme klang angestrengt und so leblos wie ein Musikstück, aus dem man die Bassspur entfernt hatte.

»Wenn du noch nicht völlig das Interesse an deinem Job verloren hast, dann lass dir was einfallen! Und zwar was Gutes! Lorenz hat dermaßen getobt, dass ihn die Krankenschwester aus dem Zimmer gejagt hat. Der schmeißt dich hochkant raus, wenn du nicht mit einer halbwegs glaubwürdigen Erklärung ankommst ...«

Peter ließ das einen Augenblick sacken. Es war keine Überraschung für ihn, er hatte damit gerechnet. Dann wurde ihm also die Entscheidung abgenommen. Auch gut, dachte er und ein Hauch Bitterkeit durchbrach seine sorgsam aufgebaute Lethargie.

»War’s das jetzt?«, fragte er schließlich in die entstandene Stille hinein.

Am anderen Ende konnte er Karl tief durchatmen hören. Es klang wie ein resigniertes Seufzen und in Gedanken sah er den alten Freund die Augen verkippen und den Kopf schütteln.

»Fuck you, Peter Johnson!«, sagte Karl nur und legte auf.

»Ja. Fuck You Too, Pal!«. Peter sagte es tonlos ins Leere.

Alles hatte seine Grenzen. Auch das Bewusstsein, selber Mist gemacht zu haben. Peter war nicht bereit, den reuigen Büßer zu geben. Nicht jetzt! Fuck you, Karl. Fuck you, Lorenz! Fuck you all …

Er schob das ungute Gefühl, den Anflug von Bedauern und schlechtem Gewissen beiseite und starrte angestrengt auf die Straße.

»Fahr schneller!«, raunzte er schließlich den Fahrer an.

Aber Karls Worte hallten immer noch nach, wie das Echo einer Melodie, die kein anderer hört. Verdammt, darum konnte er sich später kümmern. Jetzt hatte Angela oberste Priorität. Sie und Kerner.

Der Wagen schoss um die Ecke, dann waren sie auch schon in Angelas Straße. Die Scheinwerfer des Taxis erfassten eine Gestalt am Straßenrand, die über etwas - oder jemanden - gebeugt war. Als sie sich aufrichtete und zu ihnen umdrehte, konnten sie erkennen, dass es sich um einen Mann handelte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Gesicht vom Lichtstrahl erleuchtet. Peter glaubte, in einen Albtraum gerissen worden zu sein, als er das diabolische Grinsen in einem zur Fratze verzerrten Gesicht erblickte. Dann machte der Mann einen Schritt auf sie zu. Der Fahrer riss den Wagen in einer verzweifelten Reaktion herum, machte eine Vollbremsung. Mit blockierenden Rädern schleuderte das Taxi nach links, krachte gegen die Bordsteinkante, wurde zurückgeschleudert und kam schließlich zum Stehen. Peter, durch den Aufprall gegen den Vordersitz gepresst, handelte instinktiv. Den Gurt abzustreifen, die Tür aufzureißen und sich aus dem Taxi zu katapultieren, passierte in einer einzigen fließenden Bewegung.

Mit angespannten Muskeln stand er auf der Straße, den Angriff des Mannes erwartend. Mit schnellen Blicken erfasste er die Situation, nahm seine Umgebung in sich auf. Dann entspannte er sich. Nichts.

Der Kerl schien wie vom Erdboden verschluckt.

Aber etwas anderes war ihm aufgefallen, als er das Areal um sich herum gescannt hatte. Sein Magen verkrampfte sich zu einem Stein, als er sich der Stelle näherte.

Das blutige Etwas zu seinen Füßen regte sich. Der Polizist in ihm übernahm jetzt das Kommando. Er brachte Karin in eine stabile Seitenlage, benutzte seine Jacke als Kopfkissen für sie. Sie hatte das Bewusstsein verloren und er wollte verhindern, dass sie an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken könnte. Das letzte Mal, als er sie bei Angela gesehen hatte, war sie eine hübsche, wenn auch übertrieben zurechtgemachte Frau gewesen. Jetzt sah sie aus, als wäre sie mit dem Gesicht in einen Fleischwolf geraten. Er hielt vorsichtig ihren Kopf, gleichzeitig rief er den Rettungswagen. Dann gab er Karin einen Kuss auf die Stirn und dazu ein Versprechen:

»Nie wieder, Karin. Das wird nie wieder passieren.« Gebetsmühlenartig wiederholte er diese Sätze, als sei er in Trance geraten. Der Taxifahrer, der sich geschockt, aber unverletzt zu ihm gesellt hatte, warf ihm irritierte Blicke zu.

Als die Sirene des Krankenwagens endlich zu hören war, rappelte Peter sich auf.

»Es wird alles gut werden, Karin. Alles wird gut ...«

Er hatte ihr das Gesicht vorsichtig mit einem Taschentuch gesäubert. Ihre Verletzung hatte am Anfang schlimmer ausgesehen, als sie war. Er wusste, die Wunden waren nicht tödlich und Karin würde sich bald erholen. Aber er war sich auch bewusst, dass es reine Glückssache war, dass sie noch lebte. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um den Mistkerl zu stören.

Eine Minute später und Kerner hätte sein Werk vielleicht vollendet gehabt. Peter hätte es nicht beschwören können, dafür war der Moment zu kurz und die Fratze zu verzerrt gewesen. Aber es gab keinen Zweifel für ihn, wer der Angreifer gewesen war.

Er hatte nicht geplant, in dieser Nacht hier zu sein. Erst die Umstände mit Karls Verletzung hatten dazu geführt, dass er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war. Das Leben konnte schon merkwürdige Züge zeigen.

Als der Krankenwagen hielt, gab er eine kurze Beschreibung dessen, was geschehen war und drückte einem der Sanitäter seine Karte in die Hand.

»Keine Angst, wir kümmern uns um sie«, sagte der Mann lakonisch und machte sich mit seinem Kollegen daran, Karin auf eine Trage zu verfrachten.

Peter sah dem Rettungswagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann gab er auch dem Taxifahrer seine Karte und den guten Rat, sich am nächsten Tag auf der Wache wegen des beschädigten Taxis zu melden. Lorenz wird sich vor Begeisterung nicht wieder einkriegen, dachte er und fast hätte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausgebreitet.

Dann machte er sich auf den Weg nach oben, zu Angela.

Wer bist Du wirklich?

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