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Teil 1
Gott verloren?

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Zum ersten Mal hat mein Sohn Lukas seinen Glauben im zarten Alter von fünf Jahren verloren. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass das ein Alter ist, an dem Kinder noch an so vieles glauben können: den Weihnachtsmann, die Zahnfee, Engel und ganz bestimmt doch an einen lieben Gott, der aus dem Himmel über uns alle wacht.

„Daddy, es kann keinen Gott geben, der uns lieb hat! Wenn Jesus am Kreuz dafür gestorben ist, dass wir uns nicht mehr streiten, dann hat das alles nicht funktioniert.“

Aber Lukas ist auch Pastorenkind, die ja bekanntlich manchmal etwas anders ticken. Entsprechend theologisch – für einen Fünfjährigen dann doch äußerst untypisch – fiel seine Erklärung auch aus. Die Arme verschränkt und das Gesicht tränenverschmiert, erklärte er mir und meiner Frau nach einem fürchterlichen Streit mit seinen beiden Schwestern seinen Übertritt zum Atheismus:

„Daddy, es kann keinen Gott geben, der uns lieb hat! Wenn Jesus am Kreuz dafür gestorben ist, dass wir uns nicht mehr streiten, dann hat das alles nicht funktioniert. Wenn mir immer so viel Schlechtes passiert, dann glaube ich nicht mehr, dass es einen Gott gibt, der gut ist!“

Vielleicht hätte ich in diesem Moment theologisch argumentieren und Lukas zum „Trotzdem-Glauben“ überreden können. Aber mein kleiner Kerl hielt mir in diesem Moment einen Spiegel vor, in dem ich jetzt meine eigenen Zweifel und meinen Frust wiedererkennen konnte …

Etwa ein halbes Jahr zuvor, ein paar Tage vor unserem Umzug nach Deutschland, hatte mein eigener Glaube seinen absoluten Tiefstand erreicht. Loretta und ich fuhren gerade in unserem kleinen weißen Truck am Ufer des Davis Bay vorbei, mit Blick über den Pazifik nach Vancouver Island, den ich immer so sehr genossen hatte. Plötzlich brach meine ganze Wut aus mir heraus:

„Du kannst dir gar nicht vorstellen“, sagte ich zu meiner Frau, „wie ich mich darauf freue, endlich wieder in Deutschland zu wohnen. Dann hab ich meinen letzten Gottesdienst hinter mir und bin endlich frei und muss nie wieder das Innere einer Kirche betreten! Mit diesem ganzen kranken Kirchenzeugs ist es dann endlich vorbei!“

An diesem Tag hätte meine Stimmung kaum mieser sein können, und selbst der schönste Ort der Welt wäre für mich grau gewesen. Knapp dreizehn Jahre hatte ich hier an der Sunshine Coast als Pastor gearbeitet, mit vielen guten Menschen mein Leben geteilt. Doch in diesem Moment wurde meiner Frau die zweifelhafte Ehre zuteil, Zeuge meines ganzen Frusts auf Gott und seine Leute zu werden: „Nie wieder Kirche! Menschen sind doch einigermaßen gut drauf, bis sie Christen werden! Dann will einer besser sein als der andere, und am Ende sind sie alle unglücklich!“ Und um meinem Argument Nachdruck zu verleihen, flog meine Bibel quer durch den Truck. „Und dieses Buch lese ich auch nie wieder! Das ganze Zeug funktioniert sowieso nicht! Gute Ideen, die sowieso kein Mensch anwenden kann!“

Warum so ein Gefühlsausbruch? Man muss dazu sagen, dass ich damals, es war das Jahr 2005, mitten in einem Burnout steckte. Leider war dieser Begriff in kanadischen Kleinstädten kaum bekannt. In evangelikalen Kirchen wurden solche depressiven Stimmungen daher mit einer gelegentlichen Umarmung, einem „Es wird schon wieder“ oder auch einem ernsten Gebet bekämpft – und wenn der Glaube stimmte, natürlich auch sofort geheilt. Das Fiese an diesen Gebeten war, dass man hinterher immer so tun musste, als ob es einem schon viel besser ginge, um nicht auch noch den Glauben des Betenden kaputt zu machen.

Ähnlich reagierte in diesem Moment auch meine Frau Loretta, die meine Zweifel so gar nicht teilen konnte und mir vorschlug, meinen „heilen“ Glauben so lange weiterzuheucheln, bis er wieder gesund wäre – der Kinder wegen. Doch dafür schien es mir inzwischen zu spät. Ich hatte in den letzten Jahren genug heucheln müssen!

Als es mir dann immer schlechter ging und ich keine Kraft mehr hatte, dieses Spiel weiter mitzuspielen, hatte ich mir auf Anraten eines Arztes eine Auszeit genehmigt, was in Nordamerika gleichzeitig das Ende meiner Karriere als Pastor und Gemeindegründer bedeutete. Es gab keinen Plan für die Zukunft, außer einer geplanten einjährigen Auszeit in Deutschland. Alles andere war erst einmal ungewiss. Aber „ungewiss“ war für mich zu dieser Zeit ein wesentlich angenehmerer Gedanke als der Status quo.

Diese Situation war für mich nicht nur das Ende meiner beruflichen Laufbahn, sondern auch das Ende meines Glaubens, das Ende meiner Hoffnung, dass Christsein wirklich funktionieren könnte. Der Grund, warum ich damals nicht alles hingeschmissen habe, waren Freunde, die mich, ohne etwas von meinem Seelenzustand zu wissen, in der nächsten Woche mit ganz viel Liebe überschütteten.

Auf die Frage, warum ich immer noch an Jesus glauben kann, habe ich später mal geantwortet: „Weil er meine Unterhosen gefaltet hat!“

Und nicht in Form leerer Worthülsen oder hohler Seelsorgephrasen, sondern mit ganz praktischen Dingen: packen helfen, das Haus für den Vermieter renovieren, Rasen mähen, Essen vorbeibringen und vieles mehr. Auf die Frage, warum ich immer noch an Jesus glauben kann, habe ich später mal geantwortet: „Weil er meine Unterhosen gefaltet hat!“

Ich hatte Freunde, die die Hände und Füße Gottes waren, und das hat meine Zweifel, ob Jesusnachfolge funktionieren kann, erst mal zunichte gemacht. Auf eine ganz reale Art und Weise war es für mich dann so, als ob Jesus mir tatsächlich geholfen, für mich gepackt, meine Wäsche sortiert, meine Wände gestrichen und sich um mich gekümmert hätte, weil ihm mein kleiner Glaube, den ich gerade wegschmeißen wollte, wohl irgendwie wichtig war.

Es ist schwer zu behaupten, dass die Sache mit Jesus nicht funktioniert, wenn du von seinen Anhängern so geliebt wirst. Folgerichtig hielt ich erst mal weiter die Klappe und ging mit meiner Familie auch hier in Deutschland weiter in die Kirche, wie es sich wohl für einen guten Ex-Pastor gehört. Und so überlebte er also, mein kleiner Funke Hoffnung, dass Vertrauen in Gott doch etwas bewirken kann.

Nur, wie vermittele ich das jetzt meinem Sohn?

„Wenn wir uns immer noch streiten, dann hat das mit Jesus und dem Kreuz nicht funktioniert, und wie kann Gott mich lieb haben, wenn mir so viel Schlimmes passiert!“

Wie beantwortet man einem Fünfjährigen so eine Frage? Zunächst einmal ähnlich, wie es in meinem Fall auch funktioniert hatte: mit praktischer Liebe! Sprich: ein paar Keksen und heißer Milch mit Honig … und für den fünfjährigen Lukas war die Welt, inklusive Gott, erst mal wieder in Ordnung.

Aber nur erst mal. Die Frage blieb bei ihm hängen. Und immer wenn der nächste Sturm kam, war sie wieder da. Wenn Freunde keine echten Freunde waren, wenn das Leben mal wieder gemein war zu ihm … „Wenn alles so weh tut, wie soll ich da an einen Gott glauben können, der gut ist, mächtig und der mich mag?“

Und das Leben tat Lukas oft weh in dieser Zeit, seinen ersten Jahren in Deutschland. Wir waren im Sommer 2005, also nach meinem Burnout, in mein Heimatland gekommen, das meine Kinder bisher nur als Urlaubsziel kannten. Ich genoss es zunächst einmal, mich nach Jahren nicht um eine Kirchengemeinde kümmern zu müssen, schrieb ein bisschen, hielt ein paar Vorträge und war endlich wieder auch im Kopf und im Herzen präsent für meine Familie. Was wir aber komplett unterschätzt hatten, waren die kulturellen Unterschiede zwischen Kanada und Deutschland. Ich habe neulich eine soziologische Studie gelesen, warum Menschen, die in eine andere Kultur ziehen – und das kann schon ein Umzug von Bayern nach Norddeutschland sein –, oft so fertig sind: Die einfachsten Aufgaben wie Einkaufen oder Behördengänge werden zu Stressfaktoren, ganz einfach, weil sie anders sind als das, was man bisher kannte.

Hier ein paar Beispiele aus Lukas‘ Erfahrung: Er und seine Schwester wurden oft als unhöflich abgestempelt, weil sie auf Familienfeiern nicht herumliefen und jedem Verwandten die Hand schüttelten. In Kanada ruft man eben nur ein kurzes „Hi“ und „Bye“ in die Runde, wenn man sein Kommen oder Gehen bekannt geben möchte! Oft spürten sie, dass Erwachsene sie als unhöflich empfanden, obwohl sie gar nicht wussten, was sie falsch gemacht hatten.

Deutschland ist ein Sicherheitsland. Wie hat Grönemeyer es mal umschrieben? „Wir machen vieles richtig, aber wir machen‘s uns nicht leicht!“ Viele Dinge macht man hierzulande halt so, ohne dass sich Außenstehenden der Sinn unbedingt erschließt. So gab es irre lange Diskussionen mit Verwandten und Erziehern, warum es nicht ginge, im Oktober noch in Flip-Flops rumzulaufen. „Man kann sich doch erkälten, man kann auf dem halben Kilometer zum Kindergarten umknicken“, bekamen wir als Begründung vorgehalten. Was in Kanada normal war, wurde plötzlich zum Problem.

Kanadier sind – außer beim Eishockey – sehr höflich und zurückhaltend. Wenn sie nicht auf dem Eis sind, benutzen sie ihre Ellbogen nie. Auch nicht in einer Schlange. Dort stellen sie sich normalerweise lächelnd an, ohne sich vorzudrängeln. Es gibt dort im Straßenverkehr sogar sogenannte Four-Way-Stop-Kreuzungen, wo jeder Fahrer höflich wartet, bis er an der Reihe ist. Diese Methode geht auf, weil dort alle mitmachen. In Deutschland läuft das anders. So standen meine Kinder mit ihrem ersten deutschen Satz „Eine Kugel Banane bitte!“ sehr lange und immer höflich lächelnd in der Schlange vor der Eisdiele und wurden von den Erwachsenen nach hinten durchgereicht. Das kann, auch wenn du höflich lächelst, auf Dauer sehr frustrierend sein. „Kinder, so kommt ihr nie dran! Ihr müsst euch die Leute als Gegner beim Eishockey vorstellen!“, lautete mein hilfloser Ratschlag.

Die Schule! In British Columbia waren die Kindergartenkinder und die Erstklässler in einer gemeinsamen Klasse. Jetzt, als Lukas in Deutschland endlich zu den „Großen“ in die Schule durfte, entschloss diese sich nach nicht einmal zwei Wochen, ihn zurückzustufen und wieder in den Kindergarten zu schicken. Er könne die Sprache noch nicht gut genug, so die Begründung. Wer weiß, vielleicht hatte die Schulleitung ja sogar recht, aber für Lukas fühlte sich das anders an. Degradiert. Statt endlich bei den Großen mitzumischen – Kindergarten mit seiner kleinen Schwester.

Die Sprache! „Warum hast du deinen Kindern in Kanada denn nicht deine Muttersprache beigebracht?“ Gute Frage. Ich hatte nicht geplant zurückzuziehen! Es war irgendwie komisch, abends nach Hause zu kommen und auf einmal mit Deutsch anzufangen! Ich war zu faul! Auf jeden Fall mussten meine Kinder meinen Fehler jetzt ausbaden, und obwohl sie unglaublich schnell lernten, war der Anfang sehr, sehr schwer. Meine Tochter Jubilee kam fast täglich aggressiv und verletzt aus der Schule nach Hause: „Ich bin doof, ich bin hässlich!“, sagte sie immer wieder. Heißt übersetzt: „Die anderen Kinder haben mich auf dem Pausenhof wie immer komplett ignoriert, und weil ich schüchtern bin und die Sprache nicht so gut kann, habe ich mich nicht getraut, sie anzusprechen.“

„Ich bin doof, ich bin hässlich!“, sagte sie immer wieder. Heißt übersetzt: „Die anderen Kinder haben mich auf dem Pausenhof wie immer komplett ignoriert.“

Lukas war zunächst nicht ganz so schüchtern und versuchte es mit Körperkontakt. Wenn die anderen Jungs ihn ignorierten, dann klatschte er sie ab mit den Worten: „Wanna play?“ Was die natürlich nicht verstanden und sich prompt bei der Lehrerin beschwerten. Jetzt war er also auch noch ein Schläger! Zu seinem sechsten Geburtstag versuchten wir dann irgendwie, „Freunde“ für eine Party zusammenzutrommeln. In seiner Heimat hatte er sich vor Kumpels kaum retten können, und jetzt schrieben wir Einladungskarten an alle Jungs in seiner Klasse. Einer hat die Karte vor seinen Augen zerrissen: „Wieso Geburtstagsparty? Ich kenn dich doch gar nicht. Du kannst ja noch nicht einmal richtig Deutsch!“

Mama, wir sind dann mal Gott suchen!

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