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KAPITEL 4
ОглавлениеZurück im fensterlosen Raum. Wie viel Zeit seit dem letzten Mal vergangen war, konnte Kissinger nicht sagen, sein Zeitgefühl ging mehr und mehr verloren. Die Tür öffnete sich. Agent Smith trat ein.
– „Hallo, Kissinger. Sie haben nachgedacht, hoffe ich.“
– „Das habe ich in der Tat. Und hören Sie auf, mich Kissinger zu nennen. Sie verwechseln mich. Und eins kann ich schon mal garantieren: Die Klage, mit der ich Sie überziehen werde, wird sich gewaschen haben. Egal was Sie mir vorwerfen, ich habe das Recht zu telefonieren. Ich verlange SOFORT mein Telefongespräch.“
– „Hmm. Das mit dem Recht ist so eine Sache. Sie sind kein amerikanischer Staatsbürger, Mr. de Luca.“
– „Wen interessiert’s? Der Rechtsstaat garantiert JEDEM einen fairen Prozess. Außerdem habe ich eine Greencard.“
– ‚Hatte eine Greencard‘ – die Vergangenheitsform – wäre wohl die angebrachte Formulierung in diesem Fall. Und was das Thema Grundrechte betrifft, diese sind stark eingeschränkt, wenn es sich wie in Ihrem Fall um einen ‚ungesetzlichen Kombattanten‘ handelt. Terroristen und die Unterstützer von ebensolchen genießen nicht dieselben Rechte wie aufrechte Bürger.“
– „Terroristen? Was soll der Scheiß?“
Agent Smith öffnete seinen Aktenkoffer und zog ein Dossier hervor.
Er öffnete die Akte und holt einige Fotos heraus.
Er übergab Kissinger das erste Foto und sagte:
– „Voilá, Lennart de Luca bei einem Anarchistentreffen, Italien 1989.“
Das Foto zeigte einen sehr jungen Kissinger, wie er in einem Auditorium neben einigen Punks und Hippies saß, sein Blick Richtung Bühne gerichtet, wo jemand eine Rede hielt. Kissinger war sprachlos. Er war dort gewesen, keine Frage. Ihn schockierte, dass so ein Foto überhaupt existierte und dass er jetzt damit konfrontiert wurde. Es stammte aus einer Zeit lange bevor er überhaupt mit Dr. X in Kontakt gekommen war. Dem Umfang des Dossiers nach zu urteilen würden vermutlich noch einige Überraschungen auf ihn warten.
– „Ja, na und? Das war in den Achtzigern ganz normal. Politik. Die Partei, die das veranstaltet hat, war zu der Zeit im italienischen Parlament.“
Agent Smith reichte ihm das nächste Foto.
– „Lennart de Luca zusammen mit Angel Esteban, London, 1987.“
Das Foto zeigte Kissinger mit einem anderen jungen Mann und einer Japanerin bei einem Rockkonzert im Publikum hinter einem Moshpit stehen.
– „Was soll das? Das war bei einem Konzert der Suicidal Tendencies. Ist es jetzt verboten, Konzerte zu besuchen?“
– „Wenn man es mit einem Mitglied einer Familie tut, die im Drogenhandel tätig ist und den internationalen Terrorismus unterstützt, dann schon.“
– „Seit wann wurde ich überhaupt beobachtet? Und warum? Von wem? Vom Geheimdienst?“
– „Immer schon. Wir führen Akten über alle Waisenkinder in unserer Obhut. Speziell bei den nicht in Amerika geborenen. Wir wissen schon, warum. Es bestätigt sich immer wieder, dass wir damit recht haben. Sehen Sie hier.“
Er übergab ein weiteres Foto an Kissinger.
– „Lennart de Luca mit Abdullah Ibn Said, Südengland, Mitte der Achtziger.“
„Das ist doch absurd. Wir haben zusammen studiert. Ich hatte, wenn überhaupt, nur sehr losen Kontakt zu ihm und habe seit Jahrzehnten nichts von ihm gehört oder gesehen.“
– „Das mag alles sein. Ist aber irrelevant. Wieso? Weil es eine Verbindung zwischen Ihnen und international gesuchten Verbrechern und islamistischen Terroristen herstellt. Und das macht Sie zu einem ungesetzlichen Kombattanten im Krieg gegen den Terrorismus. Und das bedeutet, dass Sie Ihren Anruf vergessen können.“
– „Das ist Blödsinn, Mann, und das wissen Sie auch.“
– „Das mag sein. Aber der Bundesrichter, der Ihren Haftbefehl unterzeichnet hat, sieht das anders.“
Kissinger lief es kalt den Rücken runter. Er hatte sich mental auf alles Mögliche vorbereitet, aber das hier? Da hatte sich jemand sehr gut vorbereitet, um ihn in eine Ecke zu manövrieren, aus der er ohne fremde Hilfe nicht herauskommen würde. Als Randnotiz registrierte Kissinger, dass seit Mitte der Achtzigerjahre – lange vor dem elften September – der Begriff „islamistischer Terrorist“ im Vokabular des Staates vorkam. Wie viele Dossiers wie das über ihn existierten wohl?
Es war klar, dass sie wussten, dass er kein Terrorist war. Es war auch klar, dass er Zeuge einer Machtdemonstration geworden war. Man wollte ihm etwas klarmachen.
– „Was wollen Sie?“
– „Wir wollen Maurice Feinstein. Wir wollen, dass Sie auspacken, Kissinger.“
– „Wen?“
– „Ich hatte gehofft, dass die Verhältnisse jetzt klar wären und wir uns die Spielchen sparen können. Ihn schützen zu wollen ist auch nicht angebracht. Feinstein ist der Grund, warum Sie hier sind. Wir haben ihn vor die Wahl gestellt: Er oder Sie? Wenn Sie sich Ihre momentane Situation genau ansehen, ist klar, wie die Antwort ausgefallen ist, oder? Aber gut, ich habe Zeit und Sie laufen mir sicher nicht davon. Freuen Sie auf weitere Quality Time in Ihrer Zelle.“
Agent Smith packte die Fotos wieder in sein Dossier, ließ es in seinem Koffer verschwinden und stand auf, um zur Tür zu gehen.
– „Warten Sie“, sagte Kissinger. „Setzen Sie sich wieder. Lassen Sie uns reden.“
Agent Smith hielt kurz inne und musterte de Luca. Dann setze er sich wieder und sagte:
– „Okay. Aber ich will keinen ‚Ich weiß nicht, ich kann nicht, das ist eine Verwechslung‘-Bullshit mehr hören.“
– „Na gut. Aber ich gebe zu Protokoll, dass ich nichts gestehe. Wir unterhalten uns rein hypothetisch.“
– „Also gut. Wir wollen Maurie Feinstein. Sie sollen ihn uns liefern. Im Gegenzug bewahre ich Sie vor dem elektrischen Stuhl und kann vielleicht sogar dafür sorgen, dass Sie irgendwann noch mal das Tageslicht sehen.“
– „Das ergibt doch keinen Sinn. Erst sagen Sie mir, Feinstein hätte mich an Sie unter falschen Voraussetzungen verkauft. Und im nächsten Moment eröffnen Sie mir, dass Sie wollen, dass ich IHN hinhänge. Das ist Blödsinn. Aber gut, in Ordnung, einfach der Diskussion willen: Nehmen wir an, ich wäre der, für den Sie mich halten, und hätte die Dinge getan, die Sie mir vorwerfen. Dann würden Sie auch wissen, in welcher Welt ich mich bewege und dass ich einem Kodex folge. Ich würde niemals einen Ehrenmann verraten. Aus vielerlei Gründen.“
– „Feinstein ist also ein Ehrenmann?“
– „Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, es könnte so sein, rein hypothetisch. In der Welt, in der ich mich demnach bewegen würde, wäre der Kodex alles, was zählt. Wenn ich der wäre, für den Sie mich halten, dann würde ich Ihnen auch sagen, dass Sie mit mir machen könnten, was Sie wollten, ich würde wahrscheinlich irgendwann unter Folter und Verhör zusammenbrechen und einzelne Dinge verraten, aber ich würde niemals jemanden ans Messer liefern.“
– „Sie haben die Wahl: Entweder Sie spielen mit oder Sie lassen es bleiben. Wenn Sie nicht kooperieren, lassen wir Sie in Ihrer Zelle verrotten, mit dem absoluten Minimum an Nahrung und Wasser, bis Sie wahnsinnig werden und der einzige verbleibende Gedanke in Ihrem Schädel der ist, wie Sie ihn sich wegpusten könnten. Und irgendwann – nach Jahren – erlöst Sie dann der elektrische Stuhl. Oder Sie spielen mit und wir können die Dinge möglich machen, die Sie sich wünschen.“
– „Der Film, den Sie mir gezeigt haben, ist eine Fälschung, und das wissen Sie auch. Kein Richter und keine Jury lassen sich von so etwas an der Nase herumführen.“
– „Ich höre schon wieder das Wort ‚Richter’, ich höre das Wort ‚Jury’. Außerdem haben wir einen Zeugen. Haben Sie eigentlich zugehört, als ich erklärt habe, dass für Sie jetzt andere Regeln gelten? Es muss aber nicht so kommen. Kooperieren Sie, und wir geben Ihnen Ihr Leben zurück. Und erfüllen Ihnen zudem noch ein paar Wünsche. Onkel Sam kann sehr großzügig sein.“
– „Geld interessiert mich schon lange nicht mehr.“
– „Ich weiß, das meine ich auch nicht. Wir können die Dinge wahr machen, die Sie wirklich interessieren. Die Uffizien, das Reina Sofia, das Guggenheim, außerhalb der Öffnungszeiten. Und wir wissen von Stella.“
Fuck. Kissinger gab sich die größte Mühe, seine Wut nicht zu zeigen. Sie hatten ihn wirklich am Arsch. Agent Smith lächelte. Und Kissinger hatte trotz allem keine Wahl.
– „Es bleibt dabei. Ich werde niemanden verraten.“
– „Obwohl Sie zweifelsfrei wissen, dass derjenige Sie verraten hat, wollen Sie ihn trotzdem nicht ans Messer liefern, wenn Sie die Chance dazu bekommen?“
– „Ja, so ist es. Ich kann nicht anders. Ich komme sowieso in die Hölle, da kann ich mir wenigstens den Kreis aussuchen. Und Judecca wird es nicht sein.“
– „Ich verstehe nicht.“
– „Tja, Agent Smith, ganz offensichtlich stoßen auch Sie irgendwann an Ihre Grenzen.“
Agent Smith lächelte jetzt über das ganze Gesicht.
– „Okay. Akzeptiert. Ich muss jetzt los. Bis zu unserem nächsten Gespräch wird nicht mehr so viel Zeit vergehen. Kann ich irgendetwas tun, um Ihren Aufenthalt hier etwas angenehmer zu machen?“
Kissinger wurde von dieser Frage und Smiths plötzlichem Stimmungswechsel völlig überrascht. Er antwortete, ohne nachzudenken, ohne zu taktieren.
– „Etwas Anständiges zu essen und was zu lesen, das wäre toll. Eine Zeitung vielleicht. Und Musik. Geben Sie mir mein Telefon.“
– „Das geht nicht. Wir können Sie nicht telefonieren lassen.“
– „Dann nehmen Sie die Karte raus.“
– „Ich sehe zu, was ich tun kann.“