Читать книгу Wie Ein Licht Im Dunkeln - Frank Christopher Schroeder - Страница 8
KAPITEL 2
ОглавлениеLange Jahre hatte Kissinger Dr. X die Schuld an seiner Karriere als Auftragskiller gegeben, weil dieser ihn in jener Nacht psychologisch geschickt durch gezielte Fragen auf eine Ja-Straße geschickt hatte.
Er war an die Kreuzung gekommen und der Teufel hatte ihm einen Deal angeboten. Seine Seele gegen alles, was er sich wünschte.
Jetzt aber wurde ihm langsam klar, dass Dr. X nur etwas zum Vorschein gebracht hatte, das unter der Oberfläche immer schon da gewesen war. Kissinger verfügte offensichtlich über ein spezielles Persönlichkeitsmerkmal, durch das er für das Töten prädestiniert war, und Dr. X hatte das erkannt.
Regierungen hatten es schon lange verstanden, dieses rare Persönlichkeitsmerkmal bereits bei Kindern zu erkennen, um diese Kinder dann speziell zu betreuen und dafür zu sorgen, dass sie keine Gefahr für sich selbst oder den Rest der Gesellschaft darstellten. Totalitäre Regimes wie weiland die Sowjetunion wiederum filterten diese Problemkinder auf ihre Art aus.
Versuchten die westlichen Gesellschaften, solche Kinder zu sozialisieren, förderte man in der Diktatur ihre Neigungen und integrierte sie auf andere Art in die Gesellschaft. Spezialeinheiten, Staatspolizei, Killerkommandos, der Bedarf war groß.
Die Privatwirtschaft wiederum bezahlte gut für die Dienste derartig prädisponierter Menschen, auch hier war die Nachfrage groß. Es gab immer etwas zu tun.
D ie Nacht war nicht halb vorbei, da sagte er Ja.
Eine Frage blieb: Was war, wenn das rare Persönlichkeitsmerkmal, das ihn zum Killer hatte werden lassen, so rar gar nicht war? Die Einsamkeit in der Zelle, die Ruhe und die Unsicherheit seiner Situation brachten Kissinger in einen für ihn ungewohnten mentalen Zustand der Selbsterkenntnis. Er fing an, Dinge vor sich selbst zuzugeben, Dinge, die er verdrängt oder übertüncht hatte. Er hatte sich Stück für Stück an das Töten gewöhnt, irgendwann hatte es aufgehört, ihm etwas auszumachen. Er hatte eine Möglichkeit gefunden scheinbar einfach sein Geld zu verdienen. Einen Job. Irgendwann würde ein Punkt erreicht sein, an dem die Entwicklung abgeschlossen sein würde und man schlicht nichts mehr empfand beim Töten und einfach emotionslos und leer handelte, richtig? Falsch. Die Wahrheit war, dass die Entwicklung nicht aufgehört hatte. Das Töten hatte irgendwann angefangen, Kissinger Spaß zu machen. Anfangs nur ein wenig, aber jedes Mal ein bisschen mehr. Er hätte sich schon längst zur Ruhe setzen können, aber er machte immer weiter. Immer noch ein Auftrag, noch ein Job. Das Geld brauchte er schon lange nicht mehr, er besaß mehr, als er je würde ausgeben können. Die Anzahl von Hamburgern, die man essen kann, ist begrenzt.
Kissinger freute sich mittlerweile auf alle Aspekte eines neuen Auftrags. Die Vorbereitung, die Planung, das Warten, die Durchführung, das Adrenalin. Und insbesondere freute er sich auf das Töten. Er merkte es auch daran, dass er es immer öfter so einzurichten versuchte, dass er seine Opfer „von Hand“ erledigen konnte, mit dem Messer oder einem Draht. Das war die nackte, echte Wahrheit und in jenem Moment hatte er sie wortlos ausgesprochen.
Kissinger hatte die Zeichen lange ignorieren können, doch jetzt war es raus.
Es war nicht einmal ein ungewöhnliches Gefühl, es fühlte sich auf eine schwer greifbare Art und Weise natürlich an. War er ein derangierter Freak? Oder war er ein Durchschnittstyp? War er eine Anomalie oder hatte Dr. X nur etwas in ihm geweckt, das in allen Menschen schlummerte?
Wenn nämlich die Lust am Töten ein völlig normaler menschlicher Impuls sein sollte, der nur von der menschlichen Zivilisation im Zaum gehalten wird, so würde das einiges erklären. Die Kriege, die Schlachthöfe, die Ehrenmorde, die ethnischen Säuberungen, die Konzentrationslager, das ganze Grauen, das die menschliche Geschichte schon immer begleitet zu haben schien.
Kissinger musste mit dem Töten aufhören, dieser Tatsache musste er sich stellen. Sonst bestand die Gefahr, dass er irgendwann nicht mehr in der Lage sein würde, seinen sich immer stärker manifestierenden Drang zu kontrollieren.
Und dass er sich dann gegen Menschen wenden würde, die außerhalb des Kodex lagen.
Ich bin nicht dieser Stuhl.
Sie hatten ihn verhaftet und zeitgleich mit Rico aus dem Verkehr gezogen. Er hatte keine Möglichkeit mehr gehabt, sich mit seinem Bruder abzusprechen, und da er jetzt aller Möglichkeiten der Kommunikation beraubt war, konnte er nur mutmaßen, was mit Rico geschah.
Melancholie und Depression gewannen zusehends die Oberhand in Kissingers Gedankenwelt. Er wusste oft nicht, ob er wach war oder schlief oder ob er sich irgendwo dazwischen befand. Er ertappte sich immer öfter dabei, wie er sich in seine Jugendzeit zurückfantasierte. Eine Zeit, die plötzlich unwiderstehlich unschuldig und heimisch wirkte.
Ich bin nicht dieser Tisch.
Jedes System bringt Anomalien hervor. Die menschliche Gesellschaft ist da keine Ausnahme. Sie ist einfach nur ein System unter vielen. Kissinger hatte sich zeitlebens in der Rolle des Rebellen gefallen, des Unangepassten. Jetzt allerdings, in dieser Phase ungewohnter Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, musste er zugeben, dass er sich prinzipiell nicht von der breiten Masse unterschied. Von der „Herde“, wie er sie immer wieder abfällig nannte. Er tat genau dasselbe wie alle, nur unter entgegengesetzten Vorzeichen.
Dieser Tisch ist kein Tisch.
Ein Königreich für einen Whiskey. Oder eine Zigarette. Irgendetwas, das in der Lage war, die Chemie seines Körpers zu verändern.
Wann fängt ein Tisch an, ein Tisch zu sein?
Wann hört ein Tisch auf, ein Tisch zu sein?
An der Wand neben dem kleinen vergitterten Fenster sammelten sich Fliegen. Sie flogen nicht umher, sondern liefen im Lichtkegel durcheinander die Wand entlang. Kissinger hatte den Eindruck, dass es jeden Tag ein paar mehr wurden, aber er konnte sich auch getäuscht haben.
Einen „Tisch“ gibt es nicht.
Von allen Kunstströmungen mochte Kissinger den Kubismus am meisten. Das war schon so, als er noch gar kein kubistisches Bild selbst gesehen hatte, nur darüber gelesen. Zu versuchen, ein Objekt gleichzeitig aus mehreren Perspektiven zu malen, das hatte was. Kissinger hat daraufhin einmal (erfolglos) versucht, eine seiner Zielpersonen von mehreren Winkeln aus gleichzeitig zu erschießen. Wie Kennedy, haha.
Something is wrong, something is terribly wrong …
Kissinger sah sich selbst gerne als eine westliche Inkarnation eines Samurai. Ein Ghost Dog, ein Mann, der von seinem Lehnsherrn Befehle bekam und diese ausführte, koste es, was es wolle. Er hatte die Hagakure gelesen. Er hatte Karate gelernt und angefangen zu meditieren.
Das mit dem Samurai war natürlich Unsinn wie jeder andere Erklärungsversuch auch. Es hatte wohl mit Watanabes Erziehung zu tun, die sowohl Kissinger als auch Rico fürs Leben geprägt hatte. Und die auch dazu geführt hatte, dass Maurie Feinstein sie beide von Japanern weiter ausbilden ließ, nachdem Dr. X sie für ihn angeworben hatte. Doch Kissinger war genauso wenig ein Samurai, wie er ein Kammerjäger war. Von wegen Korrektiv. Er war ganz sicher nicht derjenige, der das natürliche Gleichgewicht wiederherstellte. Er tötete Kriminelle, die andere Kriminelle aus dem Weg geräumt haben wollten. Und rechtfertigte es damit, dass er von seinem „Herrn“ den Befehl dazu bekommen hatte. Dass er quasi keine Wahl gehabt hätte, dass es nicht seine Verantwortung wäre. In der Stille seiner Zelle gestand er sich selbst ein, wie armselig das war.
Ich bin nicht dieser Körper.
Was wir für wahr halten, ist nicht wahr.
Es gibt kein „wahr“.
Der Knackpunkt war immer Kapital beziehungsweise dessen Mangel, gewesen. Bevor Kissinger mit Dr. X in Kontakt gekommen war, passten seine Ansprüche nicht mit seinen Finanzen zusammen. Kissinger hatte stets weitreichende Vorstellungen, doch nur überschaubare Mittel gehabt. Er hatte das Gefühl, seine Zeit verschwendet zu haben. Ein Gefühl der Leere, das weder Alkohol noch Drogen und schon gar keine Frau in der Lage waren zu vertreiben. Kissinger hatte einen Punkt erreicht, an dem er wahrscheinlich alles getan hätte, um der Monotonie des Alltags einer sinnlosen Welt zu entfliehen. Das und die Tatsache, dass er andere Menschen von jeher nicht besonders gut leiden konnte, hatten ihn zu einem dankbaren Opfer gemacht. Und jetzt, da er wusste, dass seine Begegnung mit Dr. X alles andere als ein Zufall gewesen war, von langer Hand eingefädelt von Rico und Feinstein, war alles noch klarer. Kissinger hatte den Misanthropen in sich immer gut übertünchen können, aber Dr. X hatte ihn direkt durchschaut.
Man kann ein Rad ebenso wenig davon abhalten, sich zu drehen, wie man die Sonne davon abhalten kann zu scheinen.
Stella. Kissingers Gedanken schweiften wieder ab. Er wehrte sich nicht dagegen.