Читать книгу Charlottas fantastische Reise nach Flüsterleise - Frank Didden - Страница 4
ОглавлениеHallo. Ich begrüße Sie. Wissen Sie vielleicht, wie man ein Buch beginnt? Also, wie man die ersten Zeilen eines Buches zu Papier bringt? In aller Regel, aber das wissen Sie sicher, ist das der kniffeligste Moment, wenn man beginnt, ein Buch zu schreiben. Man könnte jetzt natürlich trefflich die Frage formulieren, warum gerade diese ersten Zeilen von so großer Bedeutung sind, wo doch noch so viele Seiten vor Ihnen liegen, ja, und auch vor mir liegen. So viele Seiten, die geschrieben werden wollen. So viele Seiten, die erzählt werden wollen. Also, die Geschichte, die auf den Seiten geschrieben wird, erzählt natürlich die eigentliche Geschichte. Also, die Wörter erzählen die Geschichte. Mit dem dazugehörigen Satzbau selbstverständlich. Also da wird es erst eine Geschichte, also, na, Sie wissen schon, was ich meine.
Trotzdem bleibt die Frage im Raum stehen, warum dann gerade der Anfang des Buches so wichtig ist. Nun, eigentlich ist es ganz einfach. Die Geschichte gibt es schließlich schon, den Anfang noch nicht. Klingt vielleicht etwas seltsam, ist aber nicht so schwierig, wie es scheint. Sehen Sie, wenn Sie mit einem Fahrrad an den Strand fahren wollen, ist es nicht so schwierig, das Fahrrad zu finden. Sie wissen auch, wo der Strand ist und der Weg dorthin ist Ihnen natürlich auch bekannt. All das wird Ihnen aber nicht helfen, wenn Ihre verflixte, vermaledeite und täglich vom Schelm gejagte Tochter den Schlüssel vom Fahrradschloss versteckt hat. Ähnlich ist es mit dem Anfang eines Buches. Es kann eine noch so tolle Geschichte sein, ohne Schlüssel bleiben Sie zuhause und legen sich in den Garten. Vorausgesetzt, Sie haben einen Garten. Wenn nicht, tut es auch der Balkon. Haben Sie auch keinen Balkon, legen Sie sich in eine Badewanne und imitieren Möwen. Spätestens an diesem Punkt, also wenn Sie nackt in der Badewanne liegen und versuchen ein Federtier nachzuahmen, sollten Sie merken, warum Ihre vermaledeite Tochter den Schlüssel versteckt hat. Nämlich genau aus diesem Grund.
Ist Ihnen etwas aufgefallen? Wir haben einen Anfang. Tolle Sache. Zugegeben, das ist jetzt noch nicht der ganz große Clou, aber wir halten immerhin doch schon mal den Schlüssel für das vermaledeite Schloss in der Hand. Ganz schön vermaledeite Geschichte mit dem vermaledeiten Schloss, wegen diesem vermaledeiten Mädchen. Sie fragen sich sicherlich, warum ich so oft das Wort vermaledeit verwende. Nun, ich könnte jetzt behaupten, ich würde mich so maßlos ärgern, weil ich gerade aus der Badewanne gestiegen bin und zwanzig Minuten versucht habe eine Möwe im Wind zu sein. Eine Vorstellung, die einer Person meiner Statur nicht gerade gut zu Gesicht steht. Ich könnte auch behaupten, dass ich mich maßlos über dieses Kind geärgert habe, weil ich letztlich den Fahrradschlüssel unter der Seife in der Seifenablage der Badewanne gefunden habe. Was für eine Ironie. Ich könnte auch letztlich behaupten, dass dieses vermaledeite Kind mich ständig auf diese Weise ärgert und in mir zunehmend der Groll über diese ständigen Streiche aufsteigt.
Ja, all das könnte ich hier schreiben. Doch nichts davon würde der Wahrheit entsprechen. Die Wahrheit der Geschichte, die hier erzählt werden soll, könnte nicht ferner von dem liegen, was ich gerade so lapidar behauptet habe. Die Wahrheit dessen, was geschehen ist, hat fast nichts mit einem Strand zu tun. Diese Wahrheit hat nicht wirklich etwas mit einem Fahrrad oder einem Fahrradschloss zu tun. Und ganz bestimmt hat die Wahrheit der Geschichte zunächst nichts damit zu tun, wie ich in einer Badewanne den Ruf der Möwe kreische. Doch in einem Punkt liegt sehr viel Wahrheit. Und das ist diese kleine, winzige und beinah unbedeutende Nebensächlichkeit mit diesem vermaledeiten Kind. Ich entschuldige mich, dass mir erneut dieses vermaledeite ›Vermaledeit‹ herausgerutscht ist. Ich verspreche Ihnen, ich werde mich auf den nächsten Seiten im Laufe dieser Geschichte bessern. Womit wir beim eigentlichen Thema angekommen wären: der Geschichte.
Die Geschichte dieses Buches ist natürlich nicht weniger, als die Geschichte an sich. Also nicht bloß irgendeine humorvolle, aber inhaltlich banale Erzählung, wie man Sie an jeder Straßenecke gewitzt bekommt. Auch nicht eine hochspannende, mordsmäßige Geschichte mit offensichtlich ganz nicht offensichtlichem Ende und Mörder. Oder gar die heroische Geschichte eines großen oder einer Schar vieler kleiner Helden auf ihrem unerschrockenen Weg der Standhaftigkeit, oder der Weltherrschaft. Nein, es ist die hochspannende Geschichte einer kleinen, naiven aber dennoch gewitzten Heldin, die natürlich zu Anfang gar nicht weiß, dass sie eine Heldin ist. Im Grunde ist sie nur ein Mädchen. Ein kleines Mädchen. Nicht besonders groß für ihr Alter, aber auch nicht besonders klein für ihr Alter. Nicht besonders schlau für ihr Alter, aber auch nicht besonders dumm für ihr Alter. Nicht besonders hässlich für ihr Alter, aber auch nicht besonders hübsch für ihr Alter. Mama und Papa würden dem wahrscheinlich vehement widersprechen, aber das werden sie nicht. Schließlich ist das nicht ihre Geschichte, sondern meine. Meine Geschichte über ein, ja, vermaledeites kleines Mädchen. Die Geschichte.
Und wenn ich zuvor noch mit den Worten gerungen habe, Ihnen diese Geschichte sinnvoll zu eröffnen, so hat sie doch unlängst begonnen. Hat ihren Weg genommen und ein Ende gefunden. Begonnen hat sie, was sicherlich wenig überrascht, am Anfang. Begonnen hat Sie aber auch an einem sonnigen Tag. Einer der letzten sonnigen Tage, bevor es trübe wurde, regnerisch und sicherlich auch ein wenig stürmisch. Wie dem auch sei, am Anfang der Geschichte war es sonnig. Sonnig und warm. Warm genug, dass man ein Kleid tragen konnte. Sonnig und warm genug, um ein wenig mit dem kleinen Fahrrad durch die größtenteils kleinen Straßen zu fahren. Ein wenig hierhin, ein wenig dahin. Vielleicht auch bis zur übernächsten Gabelung. Opa würde sich bestimmt freuen. Opa freute sich schließlich immer, wenn Charlotta ihn besuchte. Er hatte immer ein paar Kekse für sie, auch wenn ihre Mutter das gar nicht gut fand, wenn sie zwischen den Mahlzeiten zu viel aß. Charlotta würde ihren Opa trotzdem besuchen. Bei so schönem Wetter und einem so schönen Tag, konnte Charlotta einfach nicht anders. Heute war einfach alles so schön. Heute fand Charlotta einfach alles ganz toll und wundervoll und irgendwie phantastisch.
Ja, so begann die Geschichte. Toll und wundervoll für die vermaledeite Heldin. Toll und wundervoll war der Anfang. Doch mit toll und wundervoll alleine kann man keine Geschichte erzählen. Man benötigt noch mehr Wörter. Wörter wie dunkel, schwarz, atemlos, kalt und Tod. Und so wurde in Charlottas Geschichte der wunderbare Tag, noch bevor sie bei Opa ankam, dunkel und kalt und schwarz. Denn konnte jemand ahnen, dass der Tod ihren Weg kreuzte?