Читать книгу Charlottas fantastische Reise nach Flüsterleise - Frank Didden - Страница 6

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An jenem Tag führte Charlottas Weg nicht ganz in die gleiche Richtung, wie an den vergangenen Tagen, wenn sie zu ihrem Opa fuhr. An diesem besonderen Tag schob sie ihr Fahrrad durch die kleine, an das Grundstück ihres Opas angrenzende Wiese. Warum sie das tat und nicht den normalen Weg fuhr? Der Grund war denkbar einfach. Bauarbeiten. Bauarbeiten hatten den kleinen Fußweg kurz vor Opas Haus abgesperrt. Vermaledeite Bauarbeiten waren der Grund, warum das Kind nicht einfach auf dem Fußweg bleiben konnte. Sicherlich, Sie hätte, wie es auf den Schildern ausgewiesen war, die Straßenseite wechseln können. Sie hätte auf der anderen Seite den Fußweg nutzen können, so wie es von den offiziellen bauamtlichen Behörden gedacht war. Denn schließlich war das die beste und auch sinnvollste Lösung für die kurze Zeit dieser kleinen Gehwegbehinderung. Eine gute und sinnvolle Lösung. Eine Lösung, die im Übrigen auch Friedolin für gut und sinnvoll ansah. Und Friedolin, das sei nur kurz am Rande erwähnt, sollte es schließlich wissen, denn nach vierzigjähriger Tätigkeit im behördlichen Bauwesen, konnte er mit messerscharfer Logik eine gute Lösung von einer schlechten trennen. Die Straßenseite wechseln und den Gehweg auf der gegenüberliegenden Seite nutzen: gute Lösung. Mit einem kleinen Kinderfahrrad durch mannshohes Gras plumpsen: schlechte Lösung. Friedolin wusste das!

Was der vermaledeite Friedolin und sein vermaledeiter Vorgesetzter auf dem vermaledeiten Amt nicht annäherungsweise auf ihrem messerscharfen Denkradar angezeigt bekamen, waren zwei vollkommen unvorhersehbare Dinge. Erstens: Ab dem frühen Nachmittag ist in der angrenzenden Straße mit Berufsverkehr zu rechnen. Zweitens: Kleine, achtjährige Menschenkinder neigen dazu, Straßen mit entsprechend hohem Verkehrsaufkommen von daherdonnernden schweren 20-Tonnen-Lastern sehr zur Beruhigung und dem Stolz ihrer Eltern nicht zu überqueren.

Und genau das war es dann auch, was Charlotta tat. Sie folgte nicht den Anweisungen der Schilder, sondern stieg am Rand der Baustelle von ihrem kleinen Fahrrad ab und schob es durch die angrenzende Wiese. Das Gras stand hoch genug, dass das Kind darin für Außenstehende völlig verschwand. Aber das störte die Kleine selbstverständlich gar nicht, denn Kinder finden sowas bekanntlich spannend. Ungemein spannend sogar. Andere würden über den vermaledeiten Ben schimpfen, dessen Auftrag für diesen Tag eigentlich das Mähen der entsprechenden Wiese gewesen wäre. Leider wurde Ben kurz vorher bei Günther aufgehalten. Also vielmehr bei der vermaledeiten Frau von Günther, der gerade auf Geschäftsreise war. Aber das will ich ihnen an dieser Stelle ersparen.

Charlotta schob ihr Fahrrad also durch den Dschungel neben Opas Haus. Sie schob und spielte Abenteurerin. Das ging immer. Abenteuer spielen. Abenteuer erleben. Egal, wo sie es spielen konnte, sie spielte es fast immer. Mal war sie eine unerschrockene Kämpferin im Dschungel des Amazonas, mal war sie eine Astronautin auf dem Weg zu fernen Sternen. Und heute konnte sie ihr Abenteuer in dieser tollen Wiese spielen. Heute war sie Astronautin. Mit ihrem raumschiffgleichen Kinderfahrrad durchquerte sie fremde Welten, kämpfte sich durch unwirtliche Landschaften und traf seltsame Wesen. Und so flog sie, schwebte sie, übersah einen kleinen Stein im hohen Gras und stolperte schließlich der Nase nach hin.

»Ssssssssssssscccccccccccccchhhhhhhhhhhhh ………«

Der lange Ton war leise, doch deutlich zu hören. Selbstverständlich wusste Charlotta nicht, worum es sich bei diesem Ton handelte. Wie sollte das Kind das auch wissen? Wie sollte sie es ahnen? Wie sollte sie wissen, dass just in dem Augenblick, wo sie mit ihrem Fahrrad-Raumschiff auf der Wiese neben Opas Haus eine Bruchlandung hingelegt hatte, Kossin es ihr gleichgetan hatte. Dieser vermaledeite Kossin. Ein unbeschreiblich gewaltiges und riesiges Universum. Ein Universum, das in seiner Größe und Vielfalt nicht in Worte zu fassen ist und dieser vermaledeite Kossin landet mit seinem Raumschiff Bruch auf Opas Nachbarwiese. Und nicht nur das, nein, auch noch direkt vor der Nase dieses kleinen Menschenkindes. Wegen einer Baustelle. Wegen Berufsverkehr. Wegen Lastwagen im Berufsverkehr und einem fragwürdigen Gärtner.

Charlotta blinzelte, als sie das kleine dreiäugige, blaue Wesen, das nicht größer war, als ein Fingernagel, sie ebenfalls anblinzelte. Das Mädchen hustete.

»Ssscchhhh«, ertönte es von dem Wesen.

»Entschuldigung«, entgegnete Charlotta.

»Ssscchhhh.«

»Ent…«, setzte das Mädchen an und verkniff sich den Rest.

Das kleine Wesen schien zu röcheln und ebenfalls zu husten, so vermutete Charlotta wegen der Bewegungen des kleinen Dings, doch hören konnte sie vergleichbare Geräusche nicht. Das Wesen lag direkt vor ihrer Nase in einer kleinen Erdmulde. Es schien zu leiden. Etwa eine Kindesarmlänge hinter dem Wesen lag in einer weiteren Erdmulde eine metallische Kugel, kaum größer als eine Murmel. Die Erde um die Kugel schien leicht zu dampfen. Charlotta staunte.

»Kossin«, stöhnte das kleine Wesen mit leiser, fast nicht hörbarer Stimme und versuchte sich dabei mühsam aufzurichten. Erfolglos.

»Mein Name … ist Kossin.«

»Charlotta«, flüsterte das Mädchen leise.

»Sscchhhhhh«, ertönte Kossins Stimme und Schmerz schien durch seinen kleinen Körper zu gehen.

»Entschuldigung«, erwiderte Charlotta mit dem leisesten Flüstern, das ihr möglich war.

»So … ist … besser.«

»Gerne.«

»Du … musst helfen.«

»Helfen?«, fragte das Mädchen. »Wer bist du denn?«

»Kossin«, er hustete. »Keine Zeit.«

Das blaue Wesen schien sich in der Mulde zu krümmen. Charlotta wollte ihm helfen, doch wagte das Mädchen es nicht, das kleine Wesen zu berühren. Wie konnte sie ihm helfen?

»Du musst«, Kossin röchelte, »nach Metallerra.«

»Was?«

»Sssccchhh. Nach Metallerra und ...«

»Metallerra, und?«

»Nimm Ewöm!«

»Ewöm?«

Wieder schien Schmerz den kleinen Körper zu durchfahren. Unbeschreiblicher Schmerz, der sich in einem Schrei äußerte. Ein Schrei, der so leise war, dass es Charlotta schwerfiel, ihn als solchen zu erkennen. Und doch schien es dem Mädchen, dass es ein Schrei war. Kossins Schrei. Sein letzter Schrei, denn mit einer letzten Bewegung seines kleinen Körpers drehte er sich zu der kleinen Murmel aus Metall. Ewöm. Das schien Ewöm zu sein. Danach bewegte sich Kossin nicht mehr. Verstört, verwirrt und ein wenig traurig blickte Charlotta auf das winzige, kleine Wesen. Kossin war sein Name gewesen. Kossin war tot.

Nun ist der Tod sicherlich eine sehr schmerzhafte Angelegenheit, auch für jene, die nur Zuschauer des Todes sind. Dass allerdings ausgerechnet der vermaledeite Tod dieses Kossins direkt vor der Nasenspitze dieses unsäglichen Kindes stattfinden musste, ist noch schmerzhafter. Noch schmerzhafter für alle. Ja, ich bin geneigt zu sagen: Vermaledeit noch eins!

Wie sehr wäre es wünschenswert gewesen, diesem kleinen Mädchen doch einfach ihren so tollen und sonnigen und warmen Tag zu lassen. Es wäre ihr so zu wünschen gewesen. Aber anstatt die Welt dieses Kindes heil und kindlich zu lassen, ja, anstatt die Welt dieses Kindes schön und friedlich zu lassen, ja, anstatt dessen, kam Friedolin mit seiner Baustelle. Zwei Wochen vor seinem Ruhestand, den man ihm auch zwei Wochen früher gegönnt hätte. Anstelle eines wundervollen Tages für Charlotta kam Ben, mehrmals, nur nicht um die Wiese bei Opas Haus zu mähen. Und anstelle von leckeren Keksen aus Opas stets für seine Enkelin gefüllten Keksdose, schlug Ewöm zu Charlottas Nase ein, wegen einsetzendem Berufsverkehr.

Wäre nicht diese kleine Umleitung eines Gehweges gewesen, wäre diese Geschichte längst zu Ende und wir alle könnten Kekse knabbern und Tee oder Milch oder Kaffee oder Saft trinken. Ja, vielleicht könnte auch so mancher nun entspannt in einer Badewanne liegen, die Augen schließen und sich den Flug der Möwe mit dem Klang ihres sanften Schreis vorstellen. Oder besser noch, ihn nachahmen. Das Kreischen der Möwe im Wind der Badewanne.

Charlottas fantastische Reise nach Flüsterleise

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