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Teil eins Die frühen Jahre
(1962–66) 1 Zwei Diktatoren
ОглавлениеIm Herzen Beijings wirft ein gewaltiges, monolithisches Gebäude mit Pfeilern und Säulen aus Marmor seinen Schatten über den Tian’anmen-Platz, so wie die Kommunistische Partei Chinas das politische Leben des Landes dominiert. Die Große Halle des Volkes wurde in Rekordzeit errichtet, um für den zehnten Jahrestag der Chinesischen Revolution fertig zu sein, der mit großem Trara im Oktober 1959 gefeiert wurde. In diesem großartigen und einschüchternden, stark von sowjetischer Architektur beeinflussten Bauwerk befindet sich ein großer Versammlungsraum, der über zehntausend Delegierten Platz bietet. Ein riesiger roter Stern umgeben von Hunderten von Lichtern scheint von der Decke herab. Alles ist in Rot getaucht, von den Bannern und Vorhängen auf dem Podium bis zu den dicken Teppichen auf der Galerie und den Balkonen. Daneben gibt es Dutzende höhlenartiger, nach den Provinzen des Landes benannter Räume, sodass das Gebäude eine größere Grundfläche hat als die Verbotene Stadt, jenes ausgedehnte alte Viertel mit seinen Pavillons, Höfen und Palästen für die Kaiser der Ming- und Qing-Dynastien, das ebenfalls am Tian’anmen-Platz liegt.
Im Januar 1962 reisten etwa 7000 Kader aus allen Landesteilen an, um an der größten Konferenz teilzunehmen, die je in der Großen Halle des Volkes stattgefunden hatte. Sie waren nach Beijing gerufen worden, da die Führung ihre Unterstützung benötigte. Seit mehreren Jahren hatten sie unter schonungslosem Druck gearbeitet, während der Vorsitzende Mao von der Stahlerzeugung bis zur Getreideproduktion immer höhere Planziele gesetzt hatte. Wer diese nicht erfüllen konnte, wurde als „Rechtsabweichler“ bezeichnet und aus der Partei ausgeschlossen. Ersetzt wurden sie durch harte, skrupellose Männer, die ihre Segel nach dem rauen Wind setzten, der aus Beijing blies. Viele logen über ihre Leistungen, erfanden Produktionszahlen, die sie ihren Herren in den höheren Rängen der Macht berichteten. Andere implementierten eine Terrorherrschaft, unter der die von ihnen beaufsichtigten Landbewohner sich zu Tode schufteten. Jetzt wurden sie für die Katastrophe verantwortlich gemacht, die Mao mit dem „Großen Sprung nach vorn“ ausgelöst hatte.
Vier Jahre zuvor, 1958, hatte Mao sein Land in einen Rausch versetzt. Die Landbevölkerung wurde in riesigen Volkskommunen zusammengetrieben und so der große Sprung vom Sozialismus in den Kommunismus eingeläutet. Die Menschen wurden zum Fußvolk einer permanenten Revolution, dazu gezwungen, eine Aufgabe nach der anderen anzupacken, von riesigen Wasserbauprojekten in den eher ruhigen Wintermonaten bis zur Stahlproduktion in Hinterhöfen im Sommer. „Drei Jahre harter Kampf, um das Gesicht Chinas zu verändern“ war ein Motto des „Großen Sprungs nach vorn“, während die Aussicht auf ein Schlaraffenland für alle lockte. „Großbritannien einholen und die USA überholen“, war ein anderes. Bei aller Propaganda, die kapitalistischen Volkswirtschaften hinter sich zu lassen, war das eigentliche Ziel Maos, die Sowjetunion zu überflügeln. Schon seit Stalins Tod im Jahr 1953 wollte Mao die Führung im sozialistischen Lager übernehmen.
Sogar zu Stalins Lebenszeiten hatte Mao sich selbst als einen besseren Revolutionär angesehen. Er und nicht Stalin hatte 1949 ein Viertel der Menschheit ins sozialistische Lager gebracht. Ein Jahr später hatte er und nicht Stalin die Amerikaner in Korea bis zum Stillstand des Bewegungskrieges bekämpft. Aber Mao war auch ein treuer Anhänger seines Meisters in Moskau. Aus gutem Grund. Von Anfang an war die Kommunistische Partei Chinas von der finanziellen Hilfe und den politischen Leitlinien der Sowjetunion abhängig. Stalin persönlich unterstützte Maos Aufstieg zur Macht. Die Beziehung zwischen den beiden Männern war oft turbulent, doch sobald 1949 die rote Fahne über Beijing wehte, führte Mao sofort eine strenge kommunistische Ordnung nach dem Modell der Sowjetunion ein. Mao war ein Stalinist, der fasziniert war von der Kollektivierung der Landwirtschaft, einem grenzenlosen Führerkult, der Abschaffung des Privateigentums, einer alles durchdringenden Kontrolle der gewöhnlichen Bevölkerung und riesigen Ausgaben für die Landesverteidigung.1
Ironischerweise war es Stalin selbst, der, da er den Aufstieg eines mächtigen Nachbarn fürchtete, der seine Dominanz bedrohen könnte, die Stalinisierung Chinas behinderte. In den Jahren 1929–30 hatte Stalin eine gnadenlose Kampagne der „Entkulakisierung“ in Gang gesetzt, in deren Folge Tausende als „reiche Bauern“ eingestufte Menschen exekutiert und nahezu zwei Millionen in Arbeitslager nach Sibirien und ins sowjetische Zentralasien deportiert wurden. Doch 1950 gab Stalin Mao den Rat, die Wirtschaft der reichen Bauern unbehelligt zu lassen, um Chinas Erholung nach Jahren des Bürgerkriegs zu beschleunigen. Mao ignorierte diesen Rat und forderte die Landbevölkerung auf, sich an der Denunziation, manchmal auch der Ermordung traditioneller Dorfvorsteher zu beteiligen. Das gesamte Vermögen der Opfer wurde der Menge ausgehändigt. Das Land wurde vermessen und an die Armen verteilt. Indem Mao eine Mehrheit in die Ermordung einer sorgfältig bestimmten Minderheit verwickelte, schaffte er es, die Menschen permanent an die Partei zu binden. Für die Anzahl der Ermordeten während der Umverteilung von Land gibt keine verlässlichen Zahlen, doch sehr wahrscheinlich waren es in den Jahren 1947 bis 1952 mehr als 1,5 bis 2 Millionen Menschen. Millionen andere wurden als Ausbeuter und Klassenfeinde gebrandmarkt.
Nach Vollendung der Landreform 1952 wandte sich Mao an Stalin mit der Bitte um einen großen Kredit, um die Industrialisierung Chinas voranzubringen. Stalin, ewiger Gegenspieler, wies seine Bitte zurück mit der Bemerkung, die Wachstumsrate, die China erreichen wollte, sei „übertrieben“. Er ordnete tief greifende Einschnitte an, untersagte mehrere Projekte im Zusammenhang mit der Landesverteidigung und reduzierte die Anzahl der Industrieanlagen, die mit sowjetischer Hilfe gebaut werden sollten. Doch hatte Stalin selbst die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion zwischen 1929 und 1933 geleitet und das den Agrarkollektiven auf dem Land entzogene Getreide dazu benutzt, um eine wachsende Zahl von Industriearbeitern zu ernähren und den Import von Maschinen aus dem Westen zu bezahlen. Diese Praxis führte zu einer Hungerkatastrophe in der Ukraine und anderen Regionen der Sowjetunion. Die Zahl der Todesopfer wird auf fünf bis zehn Millionen Menschen geschätzt.
Stalin war der Einzige, der Mao zurückhalten konnte. Nach dem Tod seines Meisters im März 1953 in Moskau, erhöhte Mao das Tempo der Kollektivierung. Zum Ende des Jahres wurde ein Getreidemonopol eingeführt, das die Bauern zwang, ihre Ernte zu staatlich festgelegten Preisen zu verkaufen. Von 1955 bis 1956 wurden Kollektive, ähnlich den Staatsgütern in der Sowjetunion, eingeführt. Den Bauern wurde das Land wieder weggenommen und die Landbevölkerung zu Schuldknechten im Dienste des Staates gemacht. In den Städten wurden Handel und Industrie zu Staatsaufgaben, da die Regierung private Unternehmen, kleine Geschäfte oder große Industrien gleichermaßen, enteignete. Mao nannte das die „Sozialistische Flutwelle“.
Doch 1956 erlebte Maos Programm der gewaltsamen Kollektivierung einen riesigen Rückschlag. Am 25. Februar, dem letzten Tag des XX. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, verurteilte Nikita Chruschtschow die brutalen Säuberungen, Massendeportationen und die Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren unter Stalin. In einer stundenlangen Rede ohne Unterbrechungen vorgetragen im Großen Kremlpalast, der ehemaligen Moskauer Residenz der russischen Zaren, kritisierte Chruschtschow Stalins Personenkult und beschuldigte seinen früheren Meister, die Landwirtschaft in den frühen 1930er-Jahren zugrunde gerichtet zu haben. Stalin, so sagte er, „ging nirgendwo hin, traf sich nie mit Arbeitern oder Kolchosbauern“ und kannte das Land nur aus „Filmen, in denen die Situation auf dem Land verbrämt und schöngefärbt wurde“. Mao verstand dies als persönlichen Angriff auf seine eigene Autorität. Immerhin war er der Stalin Chinas, und Chruschtschows Rede musste Fragen zu seiner eigenen Führung aufwerfen, insbesondere zu dem Personenkult, der ihn umgab. Innerhalb von Monaten benutzten Premier Zhou Enlai und andere Chruschtschows Kritik der Staatsgüter, um die Geschwindigkeit der Kollektivierung zu drosseln. Es schien, als geriete Mao ins Abseits.
Maos Reaktion auf die Entstalinisierung kam am 25. April 1956. Bei seiner Rede auf einer Sitzung des Politbüros machte er sich zum Fürsprecher des einfachen Mannes. Der Vorsitzende gab sich als Schutzherr demokratischer Werte aus, um die moralische Führung der Partei zurückzugewinnen. Mao überbot Chruschtschow. Zwei Monate zuvor war er in die Defensive gedrängt worden, scheinbar ein alternder realitätsferner Diktator, der sich an ein Modell klammerte, das in der Vergangenheit versagt hatte. Jetzt gewann er die Initiative zurück und schlug dabei einen viel liberaleren und versöhnlicheren Ton an als sein Gegenspieler in Moskau. Eine Woche später, am 2. Mai, ermunterte er die Intellektuellen zur freien Meinungsäußerung und forderte die Partei auf „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“.
Immer noch war Mao gezwungen, seinen Kollegen weitreichende Zugeständnisse zu machen. Beim VIII. Parteitag, im September zusammengetreten, um das erste neue Zentralkomitee seit 1945 zu wählen, wurde die „Sozialistische Flutwelle“ stillschweigend fallen gelassen, alle Bezüge auf die Mao-Zedong-Ideen aus den Statuten gelöscht und der Personenkult verurteilt. Kollektive Führung wurde gelobt. Unter Druck von Chruschtschows Geheimrede hatte Mao kaum eine andere Wahl, als diese Maßnahmen hinzunehmen. Obwohl er den Vorsitz der Partei behielt, deutete er an, dass er das Amt des Staatspräsidenten, eine weitgehend zeremonielle und von ihm wenig geliebte Position, aufgeben wollte. Um die Loyalität seiner Kollegen zu prüfen, deutete er an, er wolle aus Gesundheitsgründen in die zweite Reihe treten. Doch anstatt ihn anzuflehen, zu bleiben, schufen Liu Shaoqi und Deng Xiaoping die neue Position eines Ehrenvorsitzenden, die Mao übernehmen sollte, sobald er als Parteivorsitzender zurückgetreten war. In vertrauter Gesellschaft ließ der aufgebrachte Mao seiner Wut freien Lauf.2
Der Aufstand in Ungarn ermöglichte es Mao, wieder die Oberhand zu gewinnen. Als Anfang November 1956 sowjetische Truppen die Aufständischen in Budapest niederschlugen, beschuldigte der Vorsitzende die kommunistische Partei Ungarns, das Unglück selbst über sich gebracht zu haben. Sie hätte nicht auf die Beschwerden der Bevölkerung gehört und zugelassen, dass diese schwelten und schließlich außer Kontrolle gerieten. Die Gefahr in China, meinte er, waren nicht so sehr soziale Unruhen, sondern das starre Festhalten an der Parteipolitik. „Die Partei muss einige Lektionen lernen. Es ist gut, dass die Studenten gegen uns demonstrieren.“ In einer großen Abrechnung forderte er die Partei auf, kritische Stimmen von Außenseitern willkommen zu heißen: Er wollte, dass die kommunistische Partei kritische Ansichten von Außenseitern als eine große Abrechnung willkommen heißen sollte: „Wer die Massen beleidigt, soll von den Massen liquidiert werden.“3
Durch Maos Aufruf im Mai zu einer offeneren Debatte ermutigt, begannen unzufriedene Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, ihre Meinung zu äußern. Der Aufstand in Ungarn schürte Unruhen in der Bevölkerung, da Studenten und Arbeiter sich in ihrem Widerstand gegen den Staat auf Budapest beriefen. Hunderte Studenten versammelten sich vor dem Bürgermeisteramt in Nanjing und riefen Parolen, in denen sie Demokratie und Menschenrechte forderten. Im ganzen Land riefen die Arbeiter in den Städten den Streik aus, beschwerten sich über sinkendes Realeinkommen, schlechte Wohnverhältnisse und schwindende Sozialleistungen. Einige Demonstrationen in Shanghai zogen Tausende von Unterstützern an.
Die Unruhen waren nicht auf die Städte beschränkt. Ab dem Winter 1956/57 begannen die Bauern, sich aus den Kollektiven zurückzuziehen, schimpften über die Partei und schlugen örtliche Kader, die sich ihnen in den Weg stellten, zusammen. In Teilen der Provinz Guangdong, nahe der Grenze zu Hongkong, holte sich fast ein Drittel der Dorfbewohner das Land mit Gewalt zurück und alle begannen, ihr eigenes Getreide anzupflanzen. Auch in anderen Landesteilen verließen die Dorfbewohner die Kollektive in Scharen, nahmen ihr Vieh, ihr Saatgut und ihre Geräte mit, entschlossen, es aus eigener Kraft zu schaffen.4
Da der Vorsitzende sich zum Fürsprecher des Volkes gemacht hatte und die demokratischen Rechte der Bevölkerung auf freie Meinungsäußerung verteidigt hatte, war die Partei nicht in der Lage, scharf gegen den Widerstand der Bevölkerung vorzugehen. Im Februar 1957 ging Mao noch weiter und ermutigte diejenigen Intellektuellen, die sich bisher herausgehalten hatten, ihre Meinung zu sagen. Mit aufrichtig klingender Stimme zählte er Beispiele gravierender Fehler auf, die von der kommunistischen Partei begangen worden waren, beschuldigte sie mit scharfen Worten des „Dogmatismus“, des „Bürokratismus“ und des „Subjektivismus“. Mao appellierte an die gesamte Öffentlichkeit, ihre Beschwerden vorzubringen, um die Parteifunktionäre bei der Verbesserung ihrer Arbeit zu unterstützen, sodass soziale Ungerechtigkeiten beseitigt werden könnten. In Vorwegnahme dessen, was während der Kulturrevolution geschehen sollte, benutzte Mao die Studenten und die streikenden Arbeiter, um seine Genossen davon in Kenntnis zu setzen.
Bald brach eine Flut von Kritik los, doch Mao hatte sich schwer verrechnet. Er hatte sich eine Welle von Schmeicheleien erhofft, in der Aktivisten seinen Stichworten folgen und eine Partei abstrafen würden, die ihn umgangen und seine Mao-Zedong-Ideen aus den Statuten gestrichen hatten. Stattdessen schrieben die Menschen markige Parolen zugunsten der Demokratie und der Menschenrechte, einige verlangten sogar, die kommunistische Partei solle abtreten. Seit dem Sommer 1956 hatten Studenten sporadisch gestreikt und demonstriert, doch nun gingen Zehntausende auf die Straßen. Am 4. Mai 1957 versammelten sich mehr als 8000 Studenten in Beijing in Erinnerung an den Jahrestag der „Vierten-Mai-Bewegung“, eines Studentenaufstands von 1919. Sie errichteten eine „Mauer der Demokratie“, bedeckt mit Plakaten und Parolen, voller Vorwürfe gegenüber der Kommunistischen Partei über die „Unterdrückung der Freiheit und der Demokratie in allen Bildungseinrichtungen des Landes“. In Shanghai wurden örtliche Kader verunglimpft, beleidigt und von der wütenden Menge verhöhnt. Arbeitsunruhen in Hunderten von Betrieben, an denen sich mehr als 30.000 Arbeiter beteiligten, stellten alles in den Schatten, was das Land, selbst während der Hochphase des nationalistischen Regimes in den 1930er-Jahren, je gesehen hatte.5
Mao war vom Ausmaß der Unzufriedenheit der Bevölkerung getroffen. Er betraute Deng Xiaoping mit einer Kampagne, die ein halbe Million Studenten und Intellektuelle als „Rechtsabweichler“ denunzierte, die darauf aus seien, die Partei zu zerstören. Viele wurden zur Zwangsarbeit in entlegene Regionen der Mandschurei und Xinjiangs deportiert.
Maos riskantes Unternehmen war fehlgeschlagen, doch zumindest waren er und seine Mitstreiter wieder vereint, fest dazu entschlossen, das Volk zu unterdrücken. Das Steuer der Partei wieder fest in der Hand, war es Maos Absicht, die radikale Kollektivierung auf dem Land durchzusetzen. In Moskau, wohin er und andere Führer kommunistischer Parteien aus der ganzen Welt zur Feier des vierzigsten Jahrestags der Oktoberrevolution im November 1957 eingeladen worden waren, leistete er als Paradestück den Treueschwur auf Chruschtschow und erkannte ihn so als Führer des sozialistischen Lagers an. Doch er forderte seinen Gegenspieler in Moskau auch heraus. Als Chruschtschow bekannt gab, die Sowjetunion werde die Vereinigten Staaten bei der Pro-Kopf-Produktion von Fleisch, Milch und Butter einholen, verkündete Mao dreist, China werde Großbritannien – damals noch eine bedeutende Wirtschaftsmacht – bei der Stahlproduktion innerhalb von fünfzehn Jahren überflügeln. Und da hatte der „Große Sprung nach vorn“ gerade erst begonnen.
Nach Hause zurückgekehrt, wurden Führer wie Zhou Enlai, die einige Jahre zuvor nicht genügend Enthusiasmus für die „Sozialistische Flutwelle“ gezeigt hatten, zur Rede gestellt und von Mao bei privaten Treffen und Parteikonferenzen erniedrigt. Unter Propagandagetrommel wurden mehrere Parteiführer aus der Provinz und viele ihrer Untergebenen eliminiert und durch enge Anhänger Maos ersetzt, die die Landbevölkerung in riesigen Volkskommunen zusammentrieben, und damit den Sprung vom Sozialismus in den Kommunismus einläuteten. Auf dem Land verloren die Menschen ihr Heim, ihren Grund und Boden, ihre Habseligkeiten und ihre Existenzgrundlage. In den kollektiven Volksküchen wurde das Essen, löffelweise der Leistung entsprechend ausgeteilt, zur Waffe, um Menschen dazu zu zwingen, alles zu tun, was die Partei befahl. Zusammen mit der Abschaffung des Privateigentums und des Anreizes, Profit zu erwirtschaften, führten diese Experimente zu einer stark rückläufigen Getreideproduktion. Doch statt die Alarmglocken zu läuten, wurden örtliche Kader von ihren Vorgesetzten dazu gezwungen, überhöhte Ertragszahlen zu melden. Zum Schutz ihrer Arbeitsplätze lieferten sie einen entsprechend größeren Teil der Ernte an den Staat und setzten die Landbevölkerung auf eine Hungerdiät.
Als die Parteiführer im Sommer 1959 in Lushan, einem Urlaubsort in den Bergen, zu einer Konferenz zusammenkamen, äußerten Marschall Peng Dehuai und andere vorsichtige Kritik am „Großen Sprung nach vorn“. Zur selben Zeit verurteilte Chruschtschow, auf Besuch in der polnischen Stadt Posen, öffentlich die Kommunen unter Stalin. Dies sah nach einem sorgfältig geplanten Angriff auf Mao aus. Der Vorsitzende, der ein Komplott mit dem Ziel, ihn zu stürzen, vermutete, bezeichnete Peng und seine Unterstützer als Anti-Partei-Clique, die sich gegen den Staat und das Volk verschworen hätten.
Eine Hexenjagd gegen „rechte Elemente“ folgte, bei der drei Millionen Kader durch willige Henker ersetzt wurden, dazu bereit, alles zu unternehmen, um die von ihrem Vorsitzenden vorgegebenen Ziele zu erreichen. Unter dem ständigen Druck, den Plan zu erfüllen und ihn zu übertreffen, griffen viele zu immer härteren Zwangsmaßnahmen, was in eine Orgie von Gewalt mündete, die sich noch steigerte, als die Arbeitsanreize beseitigt wurden. An einigen Orten verrohten sowohl die Dorfbewohner als auch die Kader derart, dass die Einschüchterungen ständig verschärft werden mussten, was zu einer Eskalation der Gewaltspirale führte. Wer nicht hart genug arbeitete, wurde an Armen und Beinen aufgehängt und geschlagen; einige wurden in Weihern ertränkt. Andere wurden mit Urin überschüttet oder dazu gezwungen, Exkremente zu essen. Menschen wurden verstümmelt. Ein Bericht, der sich bis in die Führungsspitze, einschließlich des Vorsitzenden Mao, verbreitete, beschreibt, wie einem Mann namens Wang Ziyou ein Ohr abgehackt, seine Beine mit Eisendraht umwickelt und ein zehn Kilo schwerer Stein auf seinen Rücken fallen gelassen wurde, bevor man ihn brandmarkte – als Strafe für das Ausgraben einer Kartoffel.6 Es kam sogar vor, dass Menschen bei lebendigem Leib begraben wurden. Als in einem Dorf in Hunan ein Junge eine Handvoll Getreide stahl, zwang der örtliche Chef Xiong Dechang den Vater, seinen Sohn lebendig zu begraben. Der Mann starb wenige Tage später vor Gram.7
Doch die häufigste Waffe war das Essen, Hunger wurde zur Strafe der ersten Wahl. Im ganzen Land wurde Menschen, die zum Arbeiten zu krank waren, regelmäßig die Nahrung vorenthalten. Die Kranken, die Wehrlosen und die Älteren wurden aus den Volksküchen verbannt und hungerten, bis sie starben, während die Kader Lenins Devise zitierten: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Zahllose Menschen wurden indirekt durch Vernachlässigung getötet, da lokale Kader unter dem Druck standen, sich auf die Zahlen statt auf die Menschen zu konzentrieren, um sicherzustellen, dass sie die Zielvorgaben der Planer in Beijing erfüllten. Das Experiment endete mit einem der größten Massenmorde der Geschichte, mindestens 45 Millionen Menschen kamen durch Arbeit, Hunger oder Schläge zu Tode.8
Ende 1960 zwang das schiere Ausmaß der Katastrophe Mao dazu, Zhou Enlai und anderen zu erlauben, Maßnahmen einzuführen, welche die Macht der Kommunen über die Landbevölkerung schwächen sollten. Lokale Märkte wurden wieder eröffnet, privates Land wieder zugelassen. Getreide wurde aus dem Ausland importiert. Das war der Anfang vom Ende der Massenhungersnot. Doch als der Druck nachließ, Getreide, Kohle und andere Wirtschaftsgüter an den Staat zu liefern, sahen sich einige der großen Städte mit massiven Engpässen konfrontiert. Im Sommer 1961 erklärte Finanzminister Li Xiannian, dass die leeren Getreidespeicher des Staates das dringlichste Problem seien, mit dem die Partei sich befassen müsse.9 Der ländliche Raum hatte Beijing, Tianjin und Shanghai faktisch abgeschnitten und zwang das Zentrum zum Zuhören.
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Im Januar 1962 während der Siebentausend-Kader-Konferenz, so benannt wegen der Zahl der Teilnehmer, stand Maos Stern tiefer denn je. Wenn es jemals einen Zeitpunkt gegeben hätte, ihn seines Amtes zu entheben, dann während dieser gewaltigen Versammlung, bei der sich Kader aus allen Landesteilen trafen, um Erfahrungen auszutauschen und die Katastrophe zu kritisieren, die der „Große Sprung“ verursacht hatte. Es gab sogar Gerüchte, ein paar Monate vor dem Treffen habe Peng Zhen, der Bürgermeister von Beijing, ein großer dünner Mann mit kraftloser Hand, einen seiner Untergebenen, einen Partei-Intellektuellen namens Deng Tuo, gebeten, ein Dossier mit kritischen Dokumenten zur Hungersnot und zu Maos Rolle dabei, zusammenzustellen. Die Untersuchung wurde mit Wissen von Liu Shaoqi und Deng Xiaoping durchgeführt. Mehrere Treffen waren abseits der Öffentlichkeit abgehalten worden, in einem für die Kaiserinwitwe im Zoo von Beijing im barocken Stil erbauten Palast. Peng Zhen, so hieß es, beabsichtigte, den Vorsitzenden zur Rede zu stellen.10
Jahrzehnte zuvor sah sich Stalin mit einer ähnlichen Herausforderung konfrontiert. Während des „Parteitags der Sieger“, der 1934 im Großen Saal des Kremls stattfand, hatten sich 2000 Delegierte versammelt, um den Erfolg der Kollektivierung der Landwirtschaft und der schnellen Industrialisierung zu feiern. Sie hießen Stalin mit stürmischem Beifall willkommen; doch hinter den Kulissen murrten sie über seine Methoden und fürchteten seinen Ehrgeiz. Mehrere führende Parteimitglieder, die dem Ausmaß des Personenkults um Stalin kritisch gegenüberstanden, trafen sich insgeheim, um seine Ablösung zu besprechen. Es gab Gerüchte, Stalin habe so viele Neinstimmen erhalten, dass einige der Stimmzettel vernichtet werden mussten. Ein Großteil des Dissenses in den Reihen beruhte auf der Hungersnot, für die Stalin verantwortlich gemacht wurde. Jedoch kritisierte niemand den Staatschef direkt.11
In Beijing erhielt Mao ebenfalls Beifall. Viele Delegierte genossen die Chance, sich mit dem Vorsitzenden fotografieren zu lassen.12 Nicht einmal die Spitzen der Führung kritisierten Mao direkt. Doch in seinem offiziellen Bericht vor einem dicht gedrängten Publikum sprach Liu Shaoqi ausführlich über die Hungersnot. Liu war ein strenger, puritanischer Mann, mit einem faltigen und schlaffen Gesicht, der oft die Nächte durcharbeitete. Die meisten Führer waren barhäuptig, doch Liu trug immer eine proletarische Stoffmütze. Ein Jahr zuvor, im April 1961, waren er und andere Führer von Mao aufs Land geschickt worden, um Ermittlungen zur Hungersnot durchzuführen. Liu war aufrichtig schockiert über den verheerenden Zustand, in dem er sein Heimatdorf vorfand. Jetzt berichtete er, dass die Bauern in Hunan glaubten, die Katastrophe sei zu 70 Prozent von Menschen verursacht und zu 30 Prozent auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Allein die Verwendung des Ausdrucks „von Menschen verursachte Katastrophe“ (renhuo) schlug ein wie eine Bombe und ließ das Publikum nach Luft schnappen. Liu verwarf auch den Ausdruck „Neun Finger gegenüber einem“, Maos Lieblingsredewendung zur Hervorhebung von Erfolgen gegenüber Rückschlägen. Die Anspannung war spürbar. „Ich frage mich, ob wir sagen können, dass im Allgemeinen das Verhältnis zwischen Erfolgen und Rückschlägen bei sieben zu drei liegt, obwohl die Regionen sich unterscheiden. Ein Finger gegenüber neun Fingern gilt nicht für jeden Ort. Nur in wenigen Regionen entsprechen Fehler einem Finger und Erfolge neun Fingern.“ Mao unterbrach Liu, sichtlich verärgert: „Es sind mitnichten nur wenige Regionen, in Hebei zum Beispiel ist nur in 20 Prozent der Regionen die Produktion zurückgegangen und in Jiangsu haben 30 Prozent aller Regionen ihre Produktion Jahr um Jahr erhöht!“ Liu ließ sich nicht einschüchtern und fuhr fort „Überhaupt können wir nicht sagen, es sei nur ein Finger, es sind eher drei und an einigen Orten sind es sogar mehr.“13
Und doch versuchte Liu den „Großen Sprung“ zu verteidigen. Wie in Moskau, mehr als dreißig Jahre zuvor, beeilte sich jeder Delegierte zu erklären, dass die „allgemeine Linie“ korrekt sei. Nur deren Umsetzung sei fehlerhaft.
Insbesondere ein Mann setzte sich massiv für den Vorsitzenden ein. Lin Biao wurde weithin als einer der brillantesten Strategen des Bürgerkriegs angesehen. Er war ein hagerer Mann mit kreideweißem Teint, der unter einer Vielzahl von Phobien litt, u.a. vor Wasser, Wind und Kälte. Allein das Geräusch laufenden Wassers verursachte bei ihm Durchfall. Er nahm nichts Flüssiges zu sich und war, um nicht zu dehydrieren, darauf angewiesen, dass seine Frau ihn mit in Wasser getauchten Dampfbrötchen fütterte. Meistens trug er seine Militärmütze, um seinen knochigen, kahlen Kopf zu verbergen. Lin meldete sich oft krank, doch im Sommer 1959 hatte er sein maulwurfsähnliches Dasein verlassen, um zur Verteidigung des Vorsitzenden auf der Konferenz von Lushan aufzutreten. Als Belohnung dafür erhielt er Peng Dehuais Posten als Verteidigungsminister. Jetzt sang er wieder ein Loblied auf den Vorsitzenden und bejubelte den „Großen Sprung nach vorn“ als eine beispiellose Errungenschaft in der Geschichte Chinas: „Die Ideen des Vorsitzenden Mao sind immer richtig … Er hat noch nie den Kontakt mit der Realität verloren … Ich fühle zutiefst, dass wir unsere Arbeit in der Vergangenheit immer dann gut gemacht haben, wenn wir die Ideen des Vorsitzenden Mao vollständig umgesetzt und nicht dagegen gearbeitet haben. Jedes Mal, wenn die Pläne des Vorsitzenden Mao nicht genügend respektiert oder behindert wurden, gab es Probleme. Im Wesentlichen zeigt uns das die Geschichte unserer Partei während der letzten Jahrzehnte.“14
Mao war zufrieden mit Lin, doch misstrauisch gegenüber allen anderen. Er zeigte sich von seiner besten Seite, benahm sich wie ein väterlicher, gütiger älterer Herr, „ein sanfter Riese, der große Reden über die Geschichte Chinas hielt, der klassische Literatur zitierte, ein olympischer Gott, der bereitwillig zugab, dass auch er sich irren konnte“.15 Er versuchte, die Delegierten zu entwaffnen und sie zu beruhigen. Er förderte ein offenes und demokratisches Klima, in dem alle ohne Furcht vor Strafe sprechen konnten. Er versuchte herauszufinden, wo die anderen standen. In kleineren Diskussionsgruppen, die neben den hauptsächlichen Parteiansprachen stattfanden, äußerten einige Delegierte gefährlich kritische Ansichten. Einige Provinzführer glaubten, die gesamte Hungersnot sei eine von Menschen verursachte Katastrophe gewesen. Andere fragten sich, wie viele Millionen umgekommen waren, und verglichen Aufzeichnungen aus ihren jeweiligen Provinzen. Einige äußerten die Meinung, dass der Vorsitzende die Schuld kaum von sich weisen könne: „Bei einem so großen Problem sollte der Vorsitzende Mao die Verantwortung übernehmen.“16 Ein Delegierter wies darauf hin, dass die Volkskommunen die Idee des Vorsitzenden gewesen waren. Mao las die Mitschriften dieser Debatten mit großer Verachtung: „Sie beklagen sich den ganzen Tag, und abends sehen sie Theaterstücke an. Sie essen drei Mahlzeiten am Tag und furzen herum. So stellen sie sich den Marxismus-Leninismus vor“.17
Mao bot jedoch eine symbolische Entschuldigung an, er gab zu, dass er als Parteivorsitzender zumindest teilweise verantwortlich war. Es war ein schlauer Schachzug, einer, der andere Funktionäre dazu verpflichtete, ihm zu folgen und ihre eigenen Fehler zuzugeben. Ein Chor der Geständnisse folgte. Zhou Enlai, zum Beispiel, übernahm persönlich die Verantwortung für überhöhte Getreidebeschaffungen, aufgeblähte Produktionszahlen, das Abziehen des Getreides aus den Provinzen und steigende Lebensmittelexporte. Er war ein treuer und geschickter Mitarbeiter mit stark ausgeprägten Gesichtszügen, großen Augen unter buschigen Augenbrauen und leicht femininen Umgangsformen, der sich als erstklassiger Verwalter unentbehrlich gemacht hatte. Früh in seiner revolutionären Karriere hatte Zhou beschlossen, Mao nie infrage zu stellen, obwohl sein Meister ihn noch immer regelmäßig vor anderen Funktionären demütigte, so wie in den ersten Monaten des Jahres 1958, als Mao Zhou wegen nicht ausreichender Begeisterung für die Kollektivierung der Landwirtschaft kritisierte. Zhou arbeitete unermüdlich an dem „Großen Sprung“, um sich zu beweisen. Jetzt erklärte er, dass „Missstände und Fehler der letzten Jahre genau dann eintraten, wenn wir gegen die Generallinie und die wertvollen Anweisungen des Vorsitzenden Mao verstoßen haben“.18 Wang Renzhong, ein unterwürfiger Anhänger Maos und Parteisekretär in Hubei, gestand, seine Provinz habe Beijing in die Irre geführt, indem sie Produktionszahlen aufgeblasen hätte. Liu Zihou akzeptierte, dass Hebei, die Provinz, für die er zuständig war, sich die Rekordernten mehrerer Landkreise, die Beijing als Vorbild gepriesen hatte, selbst ausgedacht hatte. Zhou Lin, der Chef von Guizhou, ging noch weiter und gab zu, dass unter seiner Führung die Dorfbewohner zu Unrecht für das angebliche Verstecken von Getreide verfolgt worden waren.19
All diese Schuldeingeständnisse zielten darauf, die Aufmerksamkeit von Mao weg zu lenken. Wichtiger noch, sie untergruben Peng Zhens Versuch, den Vorsitzenden zu diskreditieren. Der umfangreiche, vom Bürgermeister von Beijing angeblich schon Monate zuvor erstellte Bericht, sah nie das Tageslicht. Statt sicherzustellen, dass ihr Führer nie mehr in der Lage sein würde, eine Katastrophe herbeizuführen, erlaubte die Partei ihm in Wirklichkeit, sein Gesicht zu wahren.
Mao überlebte die „Konferenz der Siebentausend Kader“. Doch mehr als je zuvor fürchtete er, die Kontrolle über die Partei zu verlieren. Damals in der Sowjetunion wurde der „Parteitag der Sieger“ zum Parteitag der Opfer. Während der darauffolgenden vier Jahre wurden mehr als die Hälfte der zweitausend Delegierten entweder ermordet oder in den Gulag geschickt. Stalin war unübertroffen darin, seine Gegner in der Zeit des „Großen Terrors“ zur Strecke zu bringen. Wie der Historiker Robert Service anmerkte, war „seine Brutalität so mechanisch wie eine Dachsfalle“.20 Mao würde sich viel launenhafter verhalten, die Gesellschaft absichtlich auf den Kopf stellen und die Gewalt von vielen Millionen Menschen schüren, um seine Position im Zentrum zu erhalten.