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3 Krieg an der Kulturfront

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Beim „Parteitag der Sieger“ hatte Stalin erklärt, heftige Kämpfe stünden bevor. Im Kurzen Lehrgang klingt das folgendermaßen:

„Er mahnte die Partei, daran zu denken, dass die Feinde der Partei, die Opportunisten aller Spielarten, die Vertreter nationalistischer Abweichungen aller Art, zwar geschlagen sind, dass aber die Überreste ihrer Ideologie in den Köpfen einzelner Parteimitglieder noch fortleben und sich nicht selten bemerkbar machen. Die Überreste des Kapitalismus im Wirtschaftsleben und besonders im Bewusstsein der Menschen sind ein günstiger Boden für das Aufleben der Ideologie der geschlagenen antileninistischen Gruppen. Das Bewusstsein der Menschen bleibt in seiner Entwicklung hinter ihrer ökonomischen Lage zurück. Deshalb erhalten sich die Überreste bürgerlicher Auffassungen in den Köpfen der Menschen und werden sich noch weiter erhalten, obwohl der Kapitalismus in der Wirtschaft schon beseitigt ist.“1

Stalin glaubte, dass der Sozialismus nicht weniger verlangte, als einen kompletten Bruch mit den Einstellungen und Ideen der Vergangenheit. In den Jahren nach dem „Parteitag der Sieger“ wurde der traditionellen Kultur der Krieg erklärt. Private Druckereien wurden geschlossen. Religion wurde ausgemerzt und Intellektuelle „zum Gehorsam geprügelt, andernfalls ausrangiert“. Wer sich dem Krieg an der Kulturfront anschloss, wurde als „Ingenieur der menschlichen Seelen“ bezeichnet. Stalin wurde zum Lenker der Hochkultur, lobte einige Romanautoren als große proletarische Intellektuelle, während er zahllose andere in den Tod schickte. Stalin wollte eine Kultur für die Massen.2

Schon 1942 hatte Mao die Idee, Kunst könne allein um der Kunst willen existieren, beiseite gewischt. Nachdem Zehntausende von Studenten, Lehrern, Künstlern, Schriftstellern und Journalisten nach Yan’an, eine entlegene und isolierte Berggegend in Shaanxi, geströmt waren, wo die Kommunistische Partei ihr Hauptquartier eingerichtet hatte, startete der Vorsitzende eine Kampagne, um jeglichen Einfluss des freien Denkens unter den jungen Freiwilligen auszumerzen. Sie wurden vor Menschenmengen verhört, während Indoktrinationsversammlungen dazu gebracht, Geständnisse abzulegen und dazu gezwungen, einander zu denunzieren, in der Absicht sich selbst zu retten. Einige wurden in Höhlen eingesperrt, bei anderen wurden Scheinhinrichtungen durchgeführt. Mao verlangte von den Intellektuellen absolute Loyalität. „Jede Literatur und jede Kunst ist einer bestimmten Klasse zugehörig, einer bestimmten politischen Linie verpflichtet“, erklärte er.

Nach 1949 scheute die Partei keine Mühe, um unabhängiges Denken zu zerschlagen. Private Zeitungen wurden innerhalb von Monaten nach der Befreiung geschlossen, Tausende von Titeln aus dem Verkehr gezogen. Ganze Bibliotheken wurden verbrannt. Der Rhythmus von Trommeln und der Gesang von Revolutionsliedern ersetzte klassische Musik, die als bourgeois verunglimpft wurde. Jazz wurde verboten. Neue Theaterstücke feierten den Klassenkampf und wurden der Landbevölkerung durch reisende Theatergruppen nahegebracht. Die meisten ausländischen Filme wurden als reaktionär eingeschätzt und durch russische ersetzt, z.B. durch Lenin im Oktober, einen von Stalins Lieblingsfilmen. Religion wurde ebenfalls zum Angriffsziel. Klöster, Tempel, Kirchen und Moscheen wurden in Kasernen oder Gefängnisse umgewandelt. Religiöse Führer wurden verfolgt, ihre Gemeindemitglieder gezwungen, auf öffentlichen Sitzungen ihrem Glauben abzuschwören – nach großem Druck, ganz zu schweigen von direkten Drohungen gegen sie und ihre Familien. Sakralgegenstände aus Metall wurden eingeschmolzen.3

Millionen von Lehrern, Wissenschaftlern und Schriftstellern – im kommunistischen Jargon „Intellektuelle“ genannt – sahen sich gezwungen, dem neuen Regime ihre Loyalität zu beweisen. Wie alle anderen nahmen sie an endlosen Indoktrinationsseminaren teil, um sich die Lehre des Marxismus-Leninismus anzueignen und um offizielle Pamphlete, Zeitungen und Lehrbücher zu studieren. Die Parteilinie wurde regelmäßig mithilfe einer Hexenjagd durchgesetzt, bei der Tausende des „bürgerlichen Idealismus“ angeklagt und in Arbeitslager geschickt wurden. So z.B. 1955, als unter dem Vorwand eines Angriffs auf Hu Feng – einen berühmten Schriftsteller, der die lähmenden Literaturtheorien der Partei mit Messern verglich, die in die Gehirne der Schriftsteller gestoßen wurden – mehr als eine Million Menschen, von Grundschullehrern bis zu führenden Parteitheoretikern, sich gegen den Vorwurf des Verrats verteidigen mussten. Viele begingen Selbstmord; noch mehr endeten in einem ständig wachsenden Gulag. Zwei Jahre später, als die „Hundert Blumen“-Kampagne ihr tragisches Ende fand, wurden weitere 500.000 von Deng Xiaoping zu „Rechten“ erklärt.

Obwohl Mao Intellektuelle verächtlich behandelte, versuchte er, wie Stalin, einige wenige als gelegentliche Gefährten zu behalten. Wie Stalin pflegte er sie beim geringsten Anzeichen einer Meinungsverschiedenheit fallen zu lassen. Ein Beispiel ist Liang Shuming, ein bemerkenswerter Denker, der 1918 im Alter von vierundzwanzig Jahren von der Philosophischen Fakultät der Peking-Universität eingestellt wurde, als Mao noch ein unbedeutender Schullehrer war. Während eines kurzen Besuchs in Yan’an im Jahr 1938, überreichte er dem Vorsitzenden einige seiner Arbeiten. Mao fühlte sich geschmeichelt und suchte nach 1949 die Freundschaft mit dem Professor, schickte ihm gelegentlich seinen eigenen Wagen, um ihn nach Zhongnanhai, dem Sitz der Partei, zu bringen. Die Beziehung kühlte ab, als Liang 1952 einen Brief schrieb, in dem er private Unternehmer verteidigte. Ein Jahr später, auf einer Sitzung der Politischen Konsultativkonferenz, einem Beratungsgremium, dafür geschaffen, einen Anschein von Demokratie zu erzeugen, insistierte Liang, dass die Dorfbewohner nach der Landreform „in der neunten Hölle“ lebten. Die Delegierten brüllten ihn nieder, und ein strenger Mao machte ihm Vorhaltungen in einer langatmigen Schrift mit dem Titel „Kritik an Liang Shumings reaktionären Vorstellungen“, in der er den Philosophen hart anging: „Es gibt zwei Methoden, Menschen zu töten: Eine ist, sie mit der Pistole zu töten, die andere mit dem Stift. Die Methode, die sich am raffiniertesten tarnt und ohne Blutvergießen auskommt, ist die mit dem Stift. Ein solcher Mörder bist du.“ Liang war weder der erste noch der letzte Intellektuelle, den Mao umwarb und dann, als seines Vertrauens unwürdig, ausrangierte.4

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Bei der „Konferenz der Siebentausend Kader“ im Januar 1962, bei der Mao gezwungen war, sich von seiner besten Seite zu zeigen, hatte er großmütig zumindest eine teilweise Verantwortung für den „Großen Sprung“ eingeräumt. Dabei hatte er sich auf historische Beispiele von Kaisern bezogen, die auf Abwege geraten waren, da sie nicht auf ihre Berater gehört hatten. Er erzählte die Geschichte von Xiang Yu, einem Kaiser, der es „hasste, auf Meinungen zu hören, die mit seinen nicht übereinstimmten“ und der letzten Endes von seinem Rivalen Liu Bang besiegt wurde, einem „aufgeschlossenen Mann, der Ratschlägen folgte und so entspannt war, wie ein fließender Strom“.5

Doch acht Monate später, als Mao die „Sozialistische Erziehungskampagne“ in die Wege leitete, schmetterte er den Antrag auf Rehabilitierung Marschall Peng Dehuais ab, der auf der Konferenz von Lushan im Jahr 1959 sein größter Kritiker gewesen war. Fast zur gleichen Zeit bastelte Kang Sheng, der eine leitende Funktion in der Gruppe Kultur und Erziehung des ZK, dem ideologischen Steuerungsausschuss, innehatte, an der Idee eines Komplotts auf höchster Ebene gegen die Partei. Kang, ein hochgewachsener, leicht gebeugter Mann mit spärlichem Schnurrbart und finsterem Blick, war in Moskau von Nikolai Jeschow, dem Chef der Geheimpolizei, ausgebildet worden. Während der großen Säuberungen, die Stalin 1934 in Gang gesetzt hatte, arbeitete er bei der Eliminierung Hunderter chinesischer Studenten in der Sowjetunion eng mit der sowjetischen Geheimpolizei zusammen. Einige Jahre später schickte Stalin ihn mit einer Sondermaschine nach Yan’an. Schnell schloss er sich Mao an, nutzte dann das in der Sowjetunion erworbene Wissen, um den Sicherheits- und Nachrichtendienst zu leiten. Er war verantwortlich für die Verfolgung der Intellektuellen in Yan’an, und seine Methoden waren derart brutal, dass er 1945 zurückzutreten musste. Während der 1950er-Jahre trat er kaum in der Öffentlichkeit auf. Er litt unter Epilepsie und wiederkehrenden Psychosen und wurde auf dem VIII. Parteitag 1956, bei dem die Mao-Zedong-Ideen aus den Statuten gestrichen wurden, noch weiter degradiert.6

Doch Mao schützte diesen Meister der Intrige und benutzte ihn jetzt, um die Kontrolle über die Partei zurückzugewinnen. Kang behauptete, ein biografischer Roman über einen gefallenen Parteiführer namens Liu Zhidan, sei in Wirklichkeit ein Versuch, Peng Dehuai zu rehabilitieren. Kang steckte Mao einen Zettel zu: „Romane für parteifeindliche Aktivitäten zu nutzen, ist eine großartige Erfindung“. Mao las diese Notiz vor, was Kang als Erlaubnis interpretierte, mehrere Funktionäre zu beschuldigen, sie seien Teil eines Komplotts. Der Drahtzieher, so behauptete er, sei Xi Zhongxun, ein langjähriges Parteimitglied, das manchmal, wenn Zhou Enlai abwesend war, als Premier fungierte, und bei dem Lushan-Plenum für Peng Dehuai Partei ergriffen hatte. Unter Maos wachsamem Auge wurde Xi aus seinen führenden Positionen entfernt.7

Jetzt sprach Mao über die Bedeutung des Klassenkampfs für die Ideologie. „Romane zu schreiben ist heutzutage wohl sehr beliebt? Romane für parteifeindliche Aktionen zu nutzen, ist eine großartige Erfindung. Wer ein politisches Regime stürzen will, muss eine öffentliche Meinung herstellen und vorbereitende ideologische Arbeit leisten. Das gilt sowohl für die konterrevolutionären als auch für die revolutionären Klassen.“8

Das schiere Ausmaß des ideologischen Verfalls wurde während der „Sozialistischen Erziehungskampagne“ deutlich. Im Juni 1963 warnte die Führung: „In diesem Augenblick herrscht im Land ein ernster, heftiger Klassenkampf bezogen auf Ideologie, Erziehung, Theorie, Wissenschaft, Kunst, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Verlagswesen, Gesundheit, Sportunterricht sowie in anderen Bereichen, und alle diese verdienen unsere Aufmerksamkeit.“ In den Städten der Heimatprovinz Xi Zhongxuns wurden Theaterstücke aufgeführt, die vom Westen inspiriert waren, während Opern aus der Feudalzeit auf dem Land eine Renaissance erlebten. In einigen der Dörfer, die verstreut entlang des fruchtbaren Tals des Flusses Wei, der oft als Wiege der Zivilisation angesehen wird, lagen, kehrten Lehrkräfte an Privatschulen zu den Klassikern des Konfuzianismus zurück. In der historischen Stadt Xi’an, die einst innerhalb ihrer Stadtmauern Hunderte von Buddha-Schreinen, Pagoden und Klöstern beherbergt hatte, drängten sich Buchstände dicht entlang der Hauptstraßen. Dort verbreiteten konterrevolutionäre Organisationen in offen zum Verkauf angeboten Publikationen ihr Gift. Manche davon sympatisierten mit Hu Feng, andere priesen Chiang Kai-shek, den Führer der Nationalen Volkspartei (Guomindang), deren Anhänger nach 1949 in Folge der Niederlage gegen die Kommunisten nach Taiwan fliehen mussten. Mehrere Regierungseinheiten bestellten Lesematerial sogar direkt aus dem Ausland. Das Fremdspracheninstitut in Xi’an, das in den 1950er-Jahren Russischabsolventen am laufenden Band produziert hatte, abonnierte Dutzende ausländischer Zeitschriften und Zeitungen. An der Universität Hanzhong begann der Englischunterricht mit dem Satz „Die Vereinigten Staaten von heute sind unser Morgen“, eine ironische Umkehr des offiziellen Mottos, das sich nach 1949 verbreitet hatte, nämlich „Die Sowjetunion von heute ist unser Morgen“.9

Und Xi’an war kein Einzelfall. In Wuhan, dem wirtschaftlichen Kraftzentrum an den Ufern des Yangzi, hatten seit 1961 Hunderte von Händlern mit dem Verleih und Verkauf von Büchern ein florierendes Geschäft betrieben, ohne eine Konzession zu besitzen. Viele dieser Publikationen galten als reaktionär, z.B. die Richtlinien für Mitglieder der Nationalen Volkspartei. Abschriften bekannter Volkslieder standen ebenfalls zum Verkauf und nicht etwa nur einige Dutzend, die von der Müllverwertungsanlage gerettet worden waren. Die meisten der etwa 15.000 Liedtexte waren als „feudal, abergläubisch, konfuzianisch, absurd und pornografisch“ verurteilt worden. Am Bahnhof und an den Anlegestellen konnten Reisende Fotos „von führenden Köpfen, die politisch gefehlt hatten“, erwerben – neben Bildern ausländischer Schauspielerinnen. Der Verfall reichte weit über Hubeis geschäftigen Hafen hinaus, da feudale Literatur auf dem Land weit verbreitet war. Im Kreis Gong’an wurde in Hunderten von Grundschulen der „Drei-Zeichen-Klassiker“ verwendet, ein einfacher Text, der vor der Befreiung verwendet wurde, um den Kindern konfuzianische Werte beizubringen.10

Eine Wolke des Aberglaubens schien über dem ganzen Land zu hängen. In der Region Xingtai in der Provinz Hebei, wo während der „Sozialistischen Erziehungskampagne“ arme Bauern auf „Kapitalisten“ und „Einzelbauern“ gehetzt worden waren, hatten Kader mit reaktionären Elementen konspiriert und mit diesen Tempel gebaut, Theaterstücke aufgeführt, Räucherwerk verbrannt und die Geister angerufen. Auch in der Provinz Jiangxi hatte der Klassenkampf gegen Bauern, die ihr eigenes Land bestellten, rasch Fortschritte gemacht, aber hier scheiterte er daran, das Wiederaufblühen der Religion, ein viel tiefer verwurzeltes Phänomen, in Angriff zu nehmen. In der Region Qujiang waren mehr als hundert buddhistische Tempel wieder aufgebaut worden. Götzenbilder tauchten überall auf. Und noch viel unheilvolleres Brauchtum kehrte zurück, da einige Gegenden auf dem Lande in eine feudale Vergangenheit zurückzugleiten schienen, aus der der Kommunismus die Landbevölkerung doch hätte erretten sollen. Hunderte Frauen waren als zwecks Eheschließung verkauft worden. Xu Rongda hatte 2200 Yuan für den Kauf seiner Braut ausgegeben. Der Parteisekretär seiner Gemeinde hatte seinerseits ein fünfzehn Jahre altes Mädchen gekauft. Im ganzen Land kehrten die Dorfbewohner, vom Kommunismus enttäuscht, zu ihrem alten Brauchtum zurück: „jahrein, jahraus gibt es eine Katastrophe, tagein, tagaus ist die Rede von Schwierigkeiten, wann ist das endlich vorbei?“ In Shunde, nicht weit entfernt von Hongkong, war die Aussicht trostlos: „Haben wir wirklich den richtigen Weg zum Sozialismus eingeschlagen?“11

Selbst das Christentum schien, trotz fünfzehn Jahren brutaler Verfolgung, resistent. Über Ostern feierten in Yidu, in der Provinz Shandong, Hunderte von Christen die Wiederauferstehung Jesu Christi, während die Kirche in Changwei Tausende Gläubige zählte, von denen die meisten als Folge des „Großen Sprungs“ konvertiert waren. In Qingdao, dem Hafen Shandongs, waren die Kirchen über Weihnachten brechend voll.12

Viele der Konvertiten waren Kinder und Jugendliche, die besonders anfällig für konterrevolutionäres Gift zu sein schienen. In Qingdao nahm ein Drittel aller Kinder an religiösen Aktivitäten teil. Reaktionäre Lieder waren weit verbreitet. Viele verspotteten die Partei, indem sie die Texte allgemein bekannter Propagandalieder abwandelten. „Ohne die Kommunistische Partei gäbe es kein neues China“, ein obligatorisches, in Schulen, Fabriken und Büros geschmettertes Lied, wurde zu: „Ohne die Kommunistische Partei gäbe es keine getrockneten Süßkartoffeln“, denn die aufgeschnittenen und in der Sonne getrockneten Knollen waren ein Symbol für die Hungersnot. Eine weitere subversive Version gab es von: „Der Himmel über den befreiten Gebieten ist hell und die Menschen sind glücklich“, das wurde ziemlich vorhersehbar zu: „Der Himmel in den befreiten Gebieten ist dunkel und die Menschen sind unglücklich“. Mehr als hundert solcher Lieder waren im Umlauf.13

In Beijing, direkt vor den Augen der Parteiältesten, gingen einige Studenten in ihrem offenen Ungehorsam noch viel weiter und nannten sich selbst voll Stolz „Tito“ oder „Chruschtschow“. Einige sprachen offen darüber, die Kommunistische Partei zu stürzen. Wang Cuiwen, ein 27-jähriger Absolvent der Biologie an der Peking-Universität, sprach ständig über die Hungersnot und bezeichnete die Partei als die schlimmste aller möglichen Diktaturen. Er und seine Freunde hatten im Frühling 1962 versucht, nach Hongkong zu fliehen. Er scheiterte, doch vielen anderen gelang die Flucht. Im Mai erreichte der Exodus die Zahl von 5000 Personen am Tag.14

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Durch die „Sozialistische Erziehungskampagne“ sollten die Menschen die Vorzüge des Sozialismus schätzen lernen. Außerdem sollte dadurch auch die Korruption in den Reihen der Partei ausgemerzt und konterrevolutionäre Pläne, ob echt oder nur eingebildet, aufgespürt werden. Wie wir gesehen haben, wurden mehr als fünf Millionen Parteimitglieder auf die eine oder andere Weise bestraft. Doch Repressionen allein würden nicht genügen, um den verheerenden Auswirkungen der konterrevolutionären Ideologie, die sich als Folge des „Großen Sprungs nach vorn“ breitgemacht hatte, entgegenzuwirken. Der Vorsitzende befasste sich ganz besonders mit der Erziehung der Jugend, den Erben der Revolution. Lei Feng war Teil der Lösung.

Am 5. März 1963 forderte Mao die Nation auf, von Lei Feng zu lernen, einem jungen Soldaten, der sein Leben dem Dienst am Volk gewidmet hatte. Lei Feng war im Jahr zuvor im Alter von 21 Jahren gestorben, von einem Telefonmast erschlagen. Sein posthum veröffentlichtes Tagebuch, ein Protokoll seiner ideologischen Entwicklung, wurde im ganzen Land eifrig gelesen. In der Vergangenheit hatte es schon andere nachahmenswerte Vorbilder gegeben, doch die meisten waren Kriegshelden und -heldinnen, die vor 1949 im Kampf gegen die Japaner oder die Anhänger der Nationalen Volkspartei, der Guomindang, gestorben waren. Lei Feng war anders: Er war nach der Befreiung in die Armee eingetreten, und er sollte bei einer Generation junger Leser Anklang finden, die in einer Zeit des Friedens aufgewachsen war. Lei Fengs Tagebuch zeigte, wie die politischen Aphorismen des Vorsitzenden dazu beitragen konnten, Alltagsprobleme zu lösen. Damit machte er aus Mao einen Philosophen für jedermann. Lei Feng war eine Erfindung der Propagandaabteilung.

In seinem Tagebuch erklärte Lei Feng, wie „das Blut, das die Partei und der Vorsitzende Mao geopfert haben, jede einzelne Zelle meines Körpers durchdrungen hat“. Mao erschien ihm sogar in einer Vision: „Gestern hatte ich einen Traum. Ich träumte, ich sähe den Vorsitzenden Mao. Wie ein mitfühlender Vater strich er mir über den Kopf. Lächelnd sprach er zu mir: ‚Mach deine Sache gut beim Lernen; sei immer loyal gegenüber der Partei, loyal gegenüber dem Volk!’ Ich war überwältigt vor Glück; ich versuchte zu sprechen, aber es ging nicht.“15

Zeitungen in ganz China veröffentlichten Leserbriefe, in denen Fabrikund Landarbeiter ihre Begeisterung bekundeten. Für die jüngere Generation wurden Zehntausende Versammlungen abgehalten, bei denen Lei Feng als der ideale Kommunist gerühmt wurde. Theaterstücke und Filme wurden produziert. Lieder wurden komponiert, einige von ihnen mit Dutzenden von Strophen. Geschichtenerzähler streiften durch die Dörfer, um des Lesens und Schreibens unkundige Dorfbewohner mit Erzählungen über Lei Fengs Heldentaten und seine Liebe zum Vorsitzenden in Bann zu ziehen. Eine Lei-Feng-Ausstellung wurde im Militärmuseum von Beijing eröffnet. Dort mahnte eine riesige mit Mao Zedongs Kalligrafie beschriebene Leinwand am Eingang die Besucher: „Vom Genossen Lei Feng lernen!“ Unter Glas waren Lei Fengs einzige Uniform, sein Hut, seine Tasche und sein Taschentuch ausgestellt. Eine Auswahl von Parolen aus seinem Tagebuch schmückte die Wände. Überall hingen riesige, lebensgroße Fotografien von Lei Feng, einem rundlichen, ewig lächelnden jungen Soldaten inmitten von Gruppen lächelnder Arbeiter, Bauern und Kinder. Wie ein gewitzter Beobachter bemerkte, war Lei Feng der Mao des armen Mannes, ein simplifizierter Mao für die Massen. Vor allem war er der Mao der jungen Menschen, „ein verjüngter Mao, der die Sprache enthusiastischer Jugendlicher sprach“. Er sollte die Menschen aus der durch „Maos großen Hunger“ verursachten Apathie aufwecken und ihren Hass auf Klassenfeinde stärken.16

Andere nachahmenswerte Helden folgten. Ouyang Hai tauchte im Jahr 1963 auf. Auch er ein Armeeheld, der ein Tagebuch hinterlassen hatte, das seine Hingabe für den Vorsitzenden offenbarte. Eine weitere Inkarnation Lei Fengs erschien im November 1965, diese trug den Namen Wang Jie. Auch Wang schrieb ein Tagebuch. Er hatte sich auf eine Landmine geworfen, die die lokale Miliz versehentlich ausgelöst hatte, und so zwölf Menschen das Leben gerettet. War im Jahr 1963 das Motto, „Von Lei Feng lernen“, hieß es jetzt, „Von Wang Jie lernen“. Identische Plakate wurden produziert, identische Artikel veröffentlicht. Weitere junge Vorbilder wechselten einander rasch ab, darunter Mai Xiande, ein Matrose, der 1965 lebensgefährlich verletzt wurde; Wang Jinsi, ein Pionierarbeiter auf den Ölfeldern von Daqing, mit dem Spitznamen „Mann aus Eisen“, und Liu Yingjun, ein Soldat, der im Alter von 21 Jahren, als er Kinder vor wild gewordenen Pferden rettete, gestorben war. Sie alle wurden für kurze Zeit auferweckt, um über die Bühne zu flitzen und der jüngeren Generation dabei zu helfen, sich dem Vorsitzenden näher zu fühlen. Doch nur an Mao sollte man sich ewig erinnern.17

Zhai Zhenhua, die Tochter engagierter Kommunisten, war zwölf, als sie und ihre Klassenkameraden aufgefordert wurden, Lei Feng nachzustreben: „Alle Schüler hatten eine Ausgabe der Auszüge aus Lei Fengs Tagebuch … Die „Von Lei Feng lernen“-Bewegung begann, als ich in der fünften Klasse war, und dauerte bis zur Kulturrevolution. Die Menschen wurden dazu ermutigt, so zu sein wie er: Befehlen gehorchen, hart arbeiten, Gutes tun, selbstlos sein und die Schriften des Vorsitzenden Mao studieren.“18 Xu Yiao-di, zehn Jahre alt, identifizierte sich so sehr mit Lei Feng, dass sie um ihn weinte.19 In Sichuan verließ Jung Chang mit ihren Klassenkameraden die Schule jeden Nachmittag um „gute Taten zu vollbringen wie Lei Feng“. Als die Kampagne zu wirken begann, waren einige Schüler bereit, sich „bedingungslos der Kontrolle des obersten Lenkers, des Vorsitzenden Mao, (zu) unterwerfen“.20

Alten Damen am Bahnhof zu helfen, wie Lei Feng dies getan hatte, war gut und schön, die Schüler wurden jedoch davor gewarnt, dem Klassenfeind behilflich zu sein. Schließlich war das Motto der „Sozialistischen Erziehungskampagne“, „Den Klassenkampf nie (zu) vergessen“. Um ihnen Klassenhass einzuimpfen, fanden regelmäßig Veranstaltungen zur „Erinnerung an das Elend in der alten Gesellschaft“ statt, bei denen ältere Arbeiter und Bauern von den harten und erbärmlichen Zeiten vor der Befreiung erzählten. „Sie erzählten, wie sie als Kinder gehungert hatten, wie sie in bitterkalten Wintern ohne Schuhe herumlaufen mussten und von viel zu frühem, qualvollem Sterben. Sie erzählten uns, wie unendlich dankbar sie dem Vorsitzenden Mao dafür seien, dass er ihnen das Leben gerettet und ihnen zu essen und Kleider gegeben habe.“ Jung Chang verließ diese Treffen, aufgrund der Schilderung der vom nationalistischen Regime begangenen Gräueltaten, völlig am Boden zerstört und Mao leidenschaftlich zugetan.21 In Städten wie Nanjing schilderten Arbeiter im Ruhestand drastisch ihre persönlichen Erinnerungen an Folter und Vergewaltigung durch böse Kapitalisten vor Zehntausenden Menschen. Die voll besetzten Theaterhäuser wurden so sehr vom Schluchzen der Zuhörer erschüttert, dass ihre Berichte kaum zu verstehen waren.22

Daneben besuchten die Schüler „Museen für Klassenerziehung“, wo die kapitalistische Ausbeutung in ihrem ganzen Ausmaß zu sehen war. Hier wurde gezeigt, wie die Klassenfeinde im Luxus schwelgten, während die Massen in Armut lebten. Es gab Skulpturen von halb verhungerten Bauern, die gezwungen wurden, maßlos überhöhte Pacht zu zahlen. Außerdem gab es Folterkammern und Verliese mit Eisenkäfigen, alle nachgebaut, um die Schrecken der feudalen Vergangenheit erlebbar zu machen. Jetzt, so wurde den Schülern erzählt, drohten Klassenfeinde die Diktatur des Proletariats zu unterwandern und das Land in die alten Zeiten der feudalen Ausbeutung zurückzuwerfen, ihre Winterschuhe zu klauen, ihr Essen zu stehlen und sie zu Sklaven zu machen.23

Hinter Lei Feng steckte die Armee, und die Armee steckte auch hinter der Kampagne zur Verbreitung der Mao-Zedong-Ideen. Auf dem Lushan-Plenum im Sommer 1959 hatte Lin Biao sich schützend vor den Vorsitzenden gestellt, indem er mit seiner dünnen, quäkenden Stimme Peng Dehuai beschuldigte, er sei „ehrgeizig, konspirativ und heuchlerisch“. Dann krähte er: „Nur Mao ist ein großer Held, eine Rolle, die niemand sonst anzustreben wagen sollte. Wir liegen alle so weit hinter ihm zurück, versucht es gar nicht erst!“24 Im Privatleben war Lin eigentlich deutlich kritischer als Peng und vertraute seinem Tagebuch an, der „Große Sprung nach vorn“ “basiere auf aberwitzigen Ideen und sei ein totales Chaos“.25 Doch er wusste, die beste Methode, an der Macht zu bleiben war, den Vorsitzenden mit Schmeicheleien zu überhäufen. Lin hatte schon lange zuvor erkannt, wie wichtig es war, Maos Personenkult zu fördern. „Er verehrt sich selbst, er glaubt blind an sich selbst, betet sich an, er wird für jede Errungenschaft den Ruhm für sich beanspruchen, aber für seine Misserfolge andere verantwortlich machen.“26

Sofort nach Übernahme des Verteidigungsministeriums von Peng Dehuai begann Lin Biao, das Studium der Mao-Zedong-Ideen zu fördern, in dem er es als schnellen Weg zur Beherrschung des Marxismus-Leninismus darstellte. Soldaten wurden dazu aufgefordert, kurze Abschnitte von Maos gesammelten Schriften auswendig zu lernen. Ab April 1961 begann die Jiefangjun Bao, die Tageszeitung der Volksbefreiungsarmee, auf der Titelseite prominent platziert, ein Zitat des Vorsitzenden abzudrucken. Leser schnitten sich den Spruch aus und begannen, ihre eigene Sammlung anzulegen. Im Januar 1964 wurden diese Zitate dann per Mimeografie vervielfältigt und als Handbuch veröffentlich. Im Mai wurde eine erweiterte Ausgabe an die Volksbefreiungsarmee verteilt. Dieses Handbuch war in knallrotem Plastik eingebunden und nicht größer als eine Handfläche, passte so leicht in die Tasche einer gewöhnlichen Militäruniform. Lin Biao fügte als Widmung aus Lei Fengs Tagebuch bei: „Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Zedong, hört auf seine Worte, handelt nach seinen Weisungen und seid seine guten Kämpfer“. Als im August 1965 eine neue Ausgabe erschien, waren Millionen von Exemplaren der Worte des Vorsitzenden Mao Zedong, auch als das Kleine Rote Buch bekannt, weit über die Reihen der Armee hinaus verteilt worden.27

Mao genoss diese Schmeicheleien in vollen Zügen und befahl dem Land, von Lin Biao und der Volksbefreiungsarmee zu lernen. „Der besondere Verdienst der Volksbefreiungsarmee besteht darin“, sagte er, „dass ihre politische Ideologie korrekt ist.“28 In der Folge nahm die Armee eine prominentere Rolle im zivilen Leben ein und richtete politische Abteilungen in Arbeitseinheiten der Regierung ein, um die Mao-Zedong-Ideen zuverbreiten. Auch förderte die Armee im Einklang mit der „Sozialistischen Erziehungskampagne“ eine martialischere Atmosphäre. Auf dem Land wurden mililtärische „Sommerlager“ für Schüler, Studenten und Arbeiter organisiert. Den Kindern in den Grundschulen wurde der Umgang mit Luftgewehren beigebracht, indem sie auf Porträts von Chiang Kai-shek und amerikanischen Imperialisten schossen. Im Shanghaier Kinderpalast, einst von Sun Yatsens Frau mit aus Europa importiertem Marmor erbaut, organisierten Sonderberater Militärspiele für die Jungen Pioniere, die durch das rote Tuch um den Hals leicht zu erkennen waren. Militärische Trainingslager wurden für ältere Schüler mit vertrauenswürdigem Klassenhintergrund eingerichtet, wo sie lernten, Granaten zu werfen und scharf zu schießen. Im Sommer 1965 verbrachten mehr als zehntausend Studenten und fünfzigtausend Mittelschüler in Shanghai eine Woche im Lager. Sportvereine zur „nationalen Verteidigung“ wurden ebenfalls von der Armee gegründet, die in Grundschulen und weiterführenden Schulen Kurse anboten. „Der wichtigste Unterricht war Schießen und Kommunikation.“ Es gab Schießklubs, Radioklubs, Navigationsklubs, Elektrotechnikklubs, Flaggensignalklubs und sogar Fallschirmsportvereine. Jugendliche mit fragwürdigem Klassenhintergrund waren nicht zugelassen.29

Am 1. Oktober 1964 organisierte die Armee für die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag eine monumentale Vorführung auf dem Tian’anmen-Platz mit mehreren Chören und Balletttänzern in Militäruniform. Eine riesige Figur des Vorsitzenden Mao bildete die Spitze des Aufmarschs und wurde nach der Melodie „Vorsitzender Mao, die Sonne in unserem Herzen“ langsam vorwärts bewegt. Peng Zhen, der Bürgermeister von Beijing, verkündete, dass das chinesische Volk, „bewaffnet mit den Mao-Zedong-Ideen“, die „kapitalistischen und feudalen Versuche der Restauration sowie Angriffe durch unsere Feinde im In- und Ausland“ überwinden könne.30

Die Leidenschaft für das militärische Modell ging Hand in Hand mit der Verachtung für formale Bildung. „Die Politik hat das Sagen“, war Lin Biaos Motto. Mao hatte Intellektuelle schon immer heftig angegriffen, doch jetzt begann er, das gesamte Erziehungssystem anzuzweifeln. Beim Frühlingsfest am 13. Februar 1963, als das Land das chinesische neue Jahr begrüßte, verglich er Prüfungen an weiterführenden Schulen und Universitäten mit dem alten achtgliedrigen Aufsatz, einer schriftlichen Erörterung, die Kandidaten für die Beamtenprüfung in der Qing-Dynastie beherrschen mussten. „Ich halte davon überhaupt nichts. Das sollte vollkommen geändert werden. Ich bin dafür, dass die Fragen im Voraus veröffentlicht werden, die Studenten sollen sich mit ihnen beschäftigen und sie dann mit der Hilfe von Büchern beantworten.“ Er schlug einen noch rebellischeren Ton an, als er Betrug als vorteilhaft darstellte. „Wenn deine Antwort gut ist und ich diese abschreibe, dann sollte meine auch als gut gezählt werden.“ Er lobte Schüler, die einnickten, wenn ihre Lehrer in langweiligen Vorträgen vom Hundertsten ins Tausendste kamen. „Ihr müsst keinem Unsinn zuhören, gönnt euerem Hirn lieber eine Pause.“31

Mao ging noch weiter, indem er das Bildungssystem beschuldigte, Schüler mit schlechtem Klassenhintergrund – Kapitalisten, Grundbesitzer – zu begünstigen, da sie besser für eine erfolgreiche Bildung gerüstet waren als das Proletariat und die Bauern. Was noch schlimmer war, die Schulen wurden von bourgeoisen Intellektuellen betrieben, die mit ihrem Auftrag, „revolutionäre Nachfolger“ auszubilden, scheiterten.32

Einige Schüler und Studenten begriffen die Botschaft schnell. Hua Linshan, ein kleiner Junge in Guilin, einer malerischen Stadt in Guangxi, wo Karstberge steil aus den grünen Ebenen aufsteigen, machte sich Maos Frühlingsfestrede zu eigen: „Jedes Wort war wie ein Edelstein.“ Wie viele andere Schüler hatte er das Gefühl, von einem repressiven System zermalmt zu werden, das auf blindem Gehorsam gegenüber den Lehrern, sinnloser Theorie und Auswendiglernen basierte. Mao ergriff ihre Partei. Oder wie es ein anderer zukünftiger Rotgardist ausdrückte: „Unterricht ist Zeitverschwendung, und Lehrer verschwenden meine Zeit.“33 Viele warteten nur auf den Ruf des Vorsitzenden.

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Daneben nahm Mao auch die Literatur und die Künste ins Visier. Im November 1963 attackierte er das Kulturministerium, das dabei versagt habe, die Verbreitung von feudalen, abergläubischen und revisionistischen Ideen zu bremsen. Er schlug vor, es solle seinen Namen ändern in „Ministerium der begabten Gelehrten und schönen Damen“. Ein sogar noch passenderer Name sei „Ministerium der ausländischen Toten“. Einen Monat später beschwerte er sich wieder, dass „Tote immer noch die Kontrolle haben“. Außerdem beschuldigte er den Allchinesischen Bund der Literatur- und Kunstschaffenden, am Rande des Revisionismus entlangzuwanken: „In den letzten fünfzehn Jahren haben sie die Politik der Partei nicht durchgeführt.“34

Vom Vorsitzenden beflügelt wurde im Sommer 1964 eine nationale Kampagne gestartet, die ursprünglich gegen eine der populärsten Kunstformen auf dem Land, gegen die traditionelle Oper gerichtet war. Fünftausend Führungskader und Künstler wurden eingeladen, das Peking-Oper-Festival unter der Schirmherrschaft von Zhou Enlai zu besuchen. Peng Zheng, Bürgermeister von Beijing, verurteilte den Revisionismus lautstark und ermahnte sein Publikum, sich zu fragen, ob die Oper dem Sozialismus oder dem Kapitalismus diente. „Geht sie den Weg des Marxismus-Leninismus oder den Weg des Revisionismus?“ Mao war erfreut, doch der wahre Star des Festivals war seine Frau.

Jiang Qing war in ihren frühen Jahren eine aufstrebende Schauspielerin in Shanghai gewesen, doch nach dem Angriff Japans auf die Stadt im Jahr 1937 hatte sie sich auf den Weg nach Yan’an gemacht und sich den Zehntausenden von Freiwilligen angeschlossen, die darauf brannten, ihr Leben der Revolution zu widmen. Sie war eine attraktive junge Frau mit heller Haut und großen Augen. Außerdem war sie sehr ehrgeizig und bereit dazu, Sex einzusetzen, um Macht zu gewinnen. Bald zog sie die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich. Mao war zwanzig Jahre älter und von seiner dritten Frau entfremdet. Die Affäre erregte Aufsehen unter seinen Kampfgefährten, die es missbilligten, dass ihr Führer seine Frau nach langjähriger Ehe verließ, um eine Schauspielerin aus Shanghai zu heiraten. Gerüchte umgaben ihre Vergangenheit und in einer Untersuchung tauchte sogar ein Bericht auf, in dem sie verdächtigt wurde, sie sei eine Agentin Chiang Kai-Sheks gewesen. Kang Sheng, für die Sicherheit verantwortlich, schaltete sich ein und bürgte dafür, dass sie ein Parteimitglied mit gutem Ruf sei. Er unterstützte ihr Verhältnis mit dem Vorsitzenden. Kang Sheng und Jiang Qing waren alte Freunde aus Shandong und sie benutzten einander, um ihre Beziehung zu Mao festigen. Die Scheidung wurde erklärt, als die Frau des Vorsitzenden zu einer medizinischen Behandlung in die Sowjetunion geschickt wurde. Mao heiratete seine vierte Frau 1938, doch die neue Madame Mao musste zustimmen, sich von politischen Aktivitäten fernzuhalten, was sie auf Jahre hinaus mit Verbitterung erfüllte.35

Die anfängliche Leidenschaft verging rasch. Mao hatte einen enormen Appetit auf Sex, und so wurde nach der Befreiung eine Reihe junger Frauen rekrutiert, um für seine Bedürfnisse zur Verfügung zu stehen. „Frauen wurden ihm wie Speisen auf Bestellung geliefert.“ Als Maos Seitensprünge zunehmend unverfrorener wurden, erkrankte Jiang Qing immer öfter und fühlte sich einsam, dabei litt sie an einer Reihe echter und eingebildeter Krankheiten. Sie wurde mit starken Medikamenten behandelt, vermutete überall Verschwörungen und beklagte sich den ganzen Tag über Lärm, Wind und grelles Licht. Rosa und braune Farben taten ihren Augen weh, und sie bestand darauf, dass alles in ihrer Wohnung hellgrün gestrichen wurde – einschließlich der Möbel. Sie verlangte ständige Aufmerksamkeit, stritt jedoch unablässig mit ihrem gesamten Umfeld. Ihre politischen Ambitionen waren groß, sie sehnte sich nach einer aktiven Rolle in der Politik, doch sie war ein hilfloses Anhängsel Maos geworden.36

1961 verliebte Mao sich in eine der Stewardessen des Sonderzugs, mit dem er gewöhnlich durch China reiste. Zhang Yufeng war achtzehn, auffallend schön und hatte eine spitze Zunge. Bald wurde sie zu seiner engsten Gefährtin. Ob Jiang Qing zustimmte, sich nicht in die zahlreichen Affären ihres Ehemanns einzumischen, um im Gegenzug dafür eine öffentliche Rolle einnehmen zu können, ist nicht bekannt, aber im darauffolgenden Jahr führte Mao seine Frau auf der politischen Bühne ein. Am 29. September 1962, wenige Tage nach der Plenartagung, bei der Mao das Motto „Den Klassenkampf nie vergessen“ lanciert hatte, trat Jiang Qing das erste Mal öffentlich in Erscheinung. Der Anlass war ein Besuch des indonesischen Präsidenten Sukarno und ein Foto in der Renmin Ribao zeigte Jiang Qing neben Hartini, der Frau des Präsidenten. Liu Shaoqi und seine Frau Wang Guangmei posierten ebenfalls für die Kamera. Die Fotos erregten in China und im Ausland große Aufmerksamkeit, sogar das Time Magazine stellte fest, dass „die Damen aus Peking offensichtlich“ mit Hartini „um die Aufmerksamkeit wetteiferten“. Jiang Qing erschien in einem adretten Kostüm im westlichen Stil, wurde jedoch von Wang Guangmei in den Schatten gestellt, die in ein Gewand aus üppigem Samt gekleidet war.37

Dieses Ereignis signalisierte den Eintritt von Madame Mao in die Parteipolitik, aus der sie mehr als zwanzig Jahre zuvor verbannt worden war. Mao erlaubte Jiang Qing, sich im Bereich der Kultur und der Künste zu versuchen. Wie Maos Arzt anmerkte: „Je mehr sie sich in der Politik betätigte, desto schwächer wurden ihre Hypochondrie und ihre Neurasthenie.“38

1963 griff sich Jiang Qing ein historisches Stück über eine Konkubine heraus, die von einem grausamen und eifersüchtigen Despoten hingerichtet wird. Der Wendepunkt der Oper kam, nachdem die Konkubine in Hörweite ihres alternden Gebieters ihre Bewunderung für einen attraktiven jungen Gelehrten herausposaunte und so ihr Todesurteil besiegelte. Das Stück wurde in Zhongnanhai aufgeführt in der Anwesenheit der gesamten Führungsriege, doch Mao schaute mürrisch drein. Am Ende der Vorführung klatschte er nur drei- oder viermal in die Hände und ging dann schweigend hinaus. Das Stück war der Wahrheit zu nahe gekommen, da der Vorsitzende es als eine Anspielung auf seine eigenen Liebeleien verstand.39

Angespornt zum Handeln, begann Jiang Qing zu ermitteln, wie viele feudale und ausländische Stücke von Theatertruppen im ganzen Land aufgeführt wurden. Es dauerte nicht lange bevor sie, als selbst ernannte Aufseherin über die Kultur, damit begann, Anweisungen zur Produktion von Theater, Musik und Film zu erteilen.40

Doch sie handelte nicht eigenmächtig. Liu Shaoqi, der Maos Kampfruf „Den Klassenkampf nie vergessen“ befürwortet hatte, unterstützte ebenfalls den Krieg gegen die Kultur. Im Januar 1964 verurteilte er Tian Han, den Autor des Stücks, das Mao gekränkt hatte, mit den Worten, sein Werk sei „gegen die Kommunistische Partei gerichtet“. Auch er wollte ein reinigendes Feuer, das die Grundfesten der Kultur durchdrang. So wie Liu behauptete, dass mehr als ein Drittel der Macht auf dem Land in den Händen des Feindes liege, so unterstellte er auch, dass mehr als ein Drittel aller Kunst und Kultur, von den Universitäten bis hinab zu den Dorfschulen, revisionistisch sei und durch eine Revolution gestürzt werden sollte.41

Peng Zhen hatte ebenfalls nie an Freiheit für Intellektuelle geglaubt. Er führte eine kleine Fünfergruppe an, die von der Partei beauftragt war, die Kultur zu revolutionieren. In seiner Eigenschaft als Kopf der Fünfergruppe hielt Peng Zhen beim Peking-Oper-Festival die Schlüsselrede über die Gefahren des Revisionismus. Kang Sheng war ein weiteres Mitglied der Gruppe.

Jiang Qing unterstützte ihren früheren Mentor, Kang Sheng, der zwei Jahre zuvor die Säuberungsaktion gegen Xi Zhongxun auf den Weg gebracht hatte. Beim Peking-Oper-Festival nahmen sie sich Tian Han vor. In seinem starken Shandong-Akzent verurteilte Kang vor einer strahlenden Madame Mao dessen Arbeit als „giftiges Unkraut, das gegen die Partei und gegen den Sozialismus gerichtet ist“. Bleich wie ein Laken starrte der Theaterautor auf seine Schuhe. Er war einer der vielen Feinde Jiang Qings, da er sie während ihrer Schauspielzeit in Shanghai gekränkt hatte.42

In der zweiten Hälfte des Jahres 1964 wurde die Säuberung weit über das Theater hinaus vorangetrieben. Gegen das gesamte Spektrum intellektueller Aktivitäten wurde Krieg geführt, von der bildenden Kunst bis zu Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Fortwährend wurden „Werkzeuge Peng Dehuais“ und „Mini-Chruschtschows“ entdeckt. Bis die Kampagne im April 1965 zu einem offiziellen Abschluss kam, war sogar der Leiter des Kulturministeriums in Ungnade gefallen.43

Doch Mao hatte seine Frau nicht in die politische Arena geführt, um ein paar Theaterautoren anzugreifen. Er brauchte eine Person, der er eine viel wichtigere Aufgabe anvertrauen konnte, eine die weit über das Kulturministerium hinaus zielte. Im Februar 1965 schickte er Jiang Qing mit einem geheimen Auftrag nach Shanghai. Die Kultur sollte die Bühne werden, von der aus die nächste Revolution in Gang gesetzt werden würde.

Mao und seine verlorenen Kinder

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