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Vorwort

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Im August 1963 empfing der Vorsitzende Mao eine Gruppe afrikanischer Guerillakämpfer in der Versammlungshalle des Staatsrats, einem eleganten holzgetäfelten Saal im Herzen des Regierungsviertels in Beijing. Einer der jungen Besucher, ein kräftiger, breitschultriger Mann aus Südrhodesien, hatte eine Frage. Er glaubte, der rote Stern, der über dem Kreml geleuchtet hatte, sei verschwunden. Die Sowjets, die früher die Revolutionäre unterstützt hatten, verkauften jetzt Waffen an ihre Feinde. „Worüber ich mir Sorgen mache, ist Folgendes:“, sagte er, „Wird der rote Stern über dem Tiananmen-Platz in China ebenfalls erlöschen? Werdet ihr uns ebenfalls im Stich lassen und Waffen an unsere Unterdrücker verkaufen?“ Mao nahm nachdenklich ein paar Züge aus seiner Zigarette. „Ich verstehe deine Frage“, sagte er. „Es ist so: Die UdSSR hat sich dem Revisionismus zugewandt und die Revolution verraten. Kann ich dir garantieren, dass China die Revolution nicht verraten wird? Eine solche Garantie kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben. Aber wir versuchen mit allen Mitteln, China davor zu bewahren, korrupt, bürokratisch und revisionistisch zu werden.“1

Drei Jahre später, am 1. Juni 1966, rief ein agitatorischer Leitartikel in der Renmin Ribao, der Volks-Tageszeitung, die Leser auf: „Alle Monster und Dämonen wegfegen!“. Das war der Startschuss für die Kulturrevolution, die Bevölkerung wurde aufgefordert, Repräsentanten der Bourgeoisie zu denunzieren, die es darauf abgesehen hätten, „die Werktätigen zu täuschen, zu betrügen und zu betäuben, um ihre reaktionäre staatliche Macht zu festigen“. Als wäre das noch nicht genug, kam bald ans Licht, dass vier der obersten Parteiführer unter Arrest gestellt worden waren, angeklagt, ein Komplott gegen den Vorsitzenden geschmiedet zu haben. Unter ihnen der Bürgermeister von Beijing. Er hatte vor den Augen des Volkes versucht, die Hauptstadt in eine Hochburg des Revisionismus zu verwandeln. Konterrevolutionäre hatten sich in die Partei, in die Regierung und die Armee eingeschlichen und versuchten, das Land auf den kapitalistischen Weg zu führen. Jetzt begann eine neue Revolution in China. Das Volk wurde ermutigt, sich zu erheben und diejenigen aufzuspüren, die versuchten, die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur der Bourgeoisie zu verwandeln.

Wer genau diese Konterrevolutionäre waren und wie sie es geschafft hatten, ins Innere der Partei einzudringen, war unklar. Der Hauptvertreter des modernen Revisionismus war jedoch Nikita Chruschtschow, der sowjetische Staats- und Parteichef. In einer Geheimrede, die 1956 das sozialistische Lager bis ins Innerste erschütterte, hatte Chruschtschow die Reputation seines Vorgängers Josef Stalin zerstört, indem er Details seiner Schreckensherrschaft aufzählte und den Personenkult attackierte. Zwei Jahre später schlug Chruschtschow eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Westen vor. Dieses Konzept verstanden die wahren Gläubigen auf der ganzen Welt, einschließlich des jungen Guerillakämpfers aus Südrhodesien, als Verrat an den Prinzipien des revolutionären Kommunismus.

Mao, der sich an Stalin orientiert hatte, fühlte sich durch die Entstalinisierung persönlich bedroht. Er musste sich fragen, wie Chruschtschow in der mächtigen Sowjetunion, dem ersten sozialistischen Land der Welt, im Alleingang eine solch völlige Umkehr der Politik hatte bewirken können. Immerhin hatte Wladimir Lenin, ihr Gründer, nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 konzertierte Angriffe fremder Mächte erfolgreich abgewehrt und Stalin ein Vierteljahrhundert später den Überfall durch Nazideutschland überlebt. Die Antwort auf diese Frage war, dass zu wenig unternommen worden war, um das Denken der Menschen zu verändern. Die Bourgeoisie war verschwunden, doch die bourgeoise Ideologie war immer noch vorherrschend und ermöglichte es einigen wenigen ganz oben, das gesamte System zu untergraben und schließlich zu stürzen.

Nach kommunistischer Diktion war mit Vollendung der sozialistischen Transformation des Eigentums an Produktionsmitteln eine neue Revolution nötig, um sämtliche Überbleibsel der bourgeoisen Kultur endgültig auszulöschen, angefangen von privaten Gedanken bis hin zu privaten Märkten. Genauso wie der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus einer Revolution bedurfte, so bedurfte der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus ebenfalls einer Revolution: Mao gab ihr den Namen Kulturrevolution.

Es war ein gewagtes Projekt, das darauf zielte, sämtliche Spuren der Vergangenheit zu tilgen. Doch hinter all diesen theoretischen Rechtfertigungen stand die Entschlossenheit eines alternden Diktators, seinen Rang in der Weltgeschichte sicherzustellen. Mao war von seiner eigenen Größe, über die er ständig sprach, überzeugt und sah sich als führenden Kopf des Kommunismus. Das war nicht nur Hybris. Der Vorsitzende hatte ein Viertel der Menschheit zur Befreiung geführt, und im Koreakrieg gelang es ihm, im Kampf gegen das imperialistische Lager einen Stillstand des Bewegungskrieges zu erreichen.

Der erste Versuch des Vorsitzenden, die Sowjetunion zu übertrumpfen, war der „Große Sprung nach vorn“ im Jahr 1958, als die Menschen auf dem Land in riesigen Kollektiven, Volkskommunen genannt, zusammengetrieben wurden. Dadurch, dass er Kapital durch Arbeit ersetzte und das gewaltige Potenzial der Massen nutzte, glaubte er, sein Land an seinen Konkurrenten vorbeikatapultieren zu können. Mao war überzeugt, er habe die goldene Brücke zum Kommunismus gefunden, über die er als eine Art Messias die Menschheit in ein Schlaraffenland führen würde. Der „Große Sprung nach vorn“ war jedoch ein verheerendes Experiment, das viele Millionen Menschen das Leben kostete.

Die Kulturrevolution war Maos zweiter Versuch, zum historischen Fixstern zu werden, um den das sozialistische Universum kreiste. Lenin hatte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ durchgeführt und so einen Präzedenzfall für das Proletariat der ganzen Welt geschaffen. Moderne Revisionisten wie Chruschtschow hatten jedoch die Führung der Partei usurpiert und die Sowjetunion auf den Weg der kapitalistischen Restauration zurückgeführt. Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ war die zweite Etappe in der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung, welche die Diktatur des Proletariats vor dem Revisionismus bewahren sollte. Die Grundpfeiler der kommunistischen Zukunft wurden in China eingeschlagen, der Vorsitzende würde die unterdrückten und geknechteten Völker der Welt in die Freiheit führen. Mao war der Erbe, der den Marxismus-Leninismus verteidigte und auf eine neue Stufe hob, die der Marxismus-Leninismus-Mao-Zedong-Ideen.

Wie viele Diktatoren verquickte Mao grandiose Vorstellungen über seine eigene historische Bestimmung mit einer außerordentlichen Fähigkeit zur Boshaftigkeit. Er war schnell beleidigt und nachtragend, hatte dabei ein gutes Gedächtnis für Kränkungen. Gefühllos gegenüber menschlichem Verlust, gab er in den vielen Kampagnen zur Einschüchterung der Bevölkerung beiläufig Tötungsquoten aus. Mit zunehmendem Alter griff er seine Kollegen und Untergebenen, einige davon langjährige Kampfgenossen, immer häufiger an, unterwarf sie öffentlicher Demütigung, Folter und Inhaftierung. Daher ging es bei der Kulturrevolution auch um einen alten Mann, der am Ende seines Lebens persönliche Rechnungen beglich. Diese beiden Aspekte der Kulturrevolution – die Vision einer sozialistischen Welt ohne Revisionismus sowie das schmutzige, rachsüchtige Komplott gegen echte und imaginäre Feinde – schlossen einander nicht aus. Mao unterschied nicht zwischen seiner Person und der Revolution. Er war die Revolution. Der geringste Zweifel an seiner Autorität war eine unmittelbare Bedrohung der Diktatur des Proletariats.

Und seine Position wurde häufig infrage gestellt. 1956 hatten einige der engsten Verbündeten des Vorsitzenden die Geheimrede von Chruschtschow genutzt, um jegliche Bezugnahme auf die Mao-Zedong-Ideen aus den Parteistatuten zu entfernen und den Personenkult zu kritisieren. Mao kochte vor Wut, hatte aber kaum eine andere Wahl, als dies hinzunehmen. Doch der größte Rückschlag ereignete sich im Anschluss an den „Großen Sprung nach vorn“, eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes, die direkt durch seine starrköpfigen politischen Entscheidungen verursacht wurde. Mao war nicht paranoid, wenn er vermutete, dass viele seiner Kollegen seinen Rücktritt wünschten und ihn für den massenhaften Hungertod einfacher Menschen verantwortlich machten. Viele Gerüchte über ihn machten die Runde, ihm wurde vorgeworfen, er sei verblendet, nicht fähig zu rechnen und gefährlich. Sein gesamtes Vermächtnis war in Gefahr. Der Vorsitzende befürchtete, ihn könne dasselbe Schicksal treffen wie Stalin, der nach seinem Tod verurteilt wurde. Wer würde Chinas Chruschtschow werden?

Mehrere Kandidaten standen zur Wahl, angefangen mit Peng Dehuai, einem Marschall, der im Sommer 1959 in einem Brief den „Großen Sprung nach vorn“ kritisiert hatte. Doch Liu Shaoqi, die Nummer zwei der Partei, war ein noch plausiblerer Anwärter auf den Titel, denn er hatte im Januar 1962 vor einer Versammlung von Tausenden von Parteifunktionären die Hungersnot als eine von Menschen verursachte Katastrophe bezeichnet. Kaum war die Konferenz vorbei, begann Mao mit den Vorbereitungen für eine Säuberung. „Wir müssen unsere Partei bestrafen“, nannte er das im Dezember 1964.2

Doch Mao verbarg seine Strategie sorgfältig. Die Rhetorik der Kulturrevolution war absichtlich vage, denn „Klassenfeinde“, „Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen“ und „Revisionisten“ wurden nur pauschal beschuldigt. Nur wenige führende Parteifunktionäre konnten sich bedroht gefühlt haben, denn es gab 1965 keine echten „Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen“ innerhalb der oberen Ränge der Partei, schon gar nicht Liu Shaoqi oder Deng Xiaoping, der Generalsekretär der Partei. Obwohl sie die Hauptangriffsziele für den Zorn des Vorsitzenden waren, hatten sie keine Ahnung, was kommen sollte. Liu leitete von 1962 bis 1965 eine der bösartigsten Säuberungsaktionen der Kommunistischen Partei in der neueren Geschichte, bei der fünf Millionen Parteimitglieder bestraft wurden. Er versuchte verzweifelt, sich als würdiger Nachfolger des Vorsitzenden zu erweisen. Deng, seinerseits, war einer der lautstärksten Kritiker des sowjetischen Revisionismus. Leonid Breschnew, der 1964 die Macht übernahm, nannte ihn einen „anti-sowjetischen Zwerg“. Beide Männer waren lautstarke Unterstützer des Vorsitzenden und halfen ihm, die frühen Opfer der Kulturrevolution, einschließlich des ahnungslosen Bürgermeisters von Beijing, zu Fall zu bringen.

Mao brachte seine Gegner mit der Präzision eines Fallenstellers zur Strecke. Doch sobald alles vorbereitet war und die Kulturrevolution im Sommer 1966 ausbrach, verselbstständigte sie sich mit unbeabsichtigten Folgen, die selbst der meisterhafteste Stratege nicht hätte vorhersehen können. Mao wollte die höheren Machtebenen säubern, doch um dies zu erreichen, konnte er sich kaum auf den Parteiapparat verlassen. Er wandte sich stattdessen an junge, radikale Schüler und Studenten, einige von ihnen nicht älter als 14 Jahre, und erteilte ihnen die Genehmigung, Autoritäten zu denunzieren und „die Hauptquartiere zu bombardieren“. Doch die Parteifunktionäre hatten ihre Überlebensstrategien in jahrzehntelangen politischen Flügelkämpfen geschult, und nur wenige waren dazu bereit, sich einer Gruppe schreiender, selbstgerechter Rotgardisten geschlagen zu geben. Viele lenkten die Gewalt von sich weg, indem sie die Jugendlichen dazu ermutigten, die Häuser von Klassenfeinden zu überfallen, die als gesellschaftliche Außenseiter gebrandmarkt waren. Einige Kader brachten es sogar fertig, eigene Rote Garden aufzubauen, alles im Namen der Mao-Zedong-Ideen und der Kulturrevolution. Im Sprachgebrauch der Zeit hieß dies, „sie hielten die rote Fahne hoch, um die rote Fahne zu bekämpfen“. Die Roten Garden begannen einander zu bekämpfen, zerstritten über die Frage, wer innerhalb der Partei die wahren Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen, innerhalb der Partei seien. An einigen Orten versammelten sich Parteiaktivisten und Fabrikarbeiter zur Unterstützung ihrer bedrängten Anführer.

Als Reaktion darauf drängte der Vorsitzende die gesamte Bevölkerung, sich der Revolution anzuschließen, indem er sie dazu aufrief, „die Macht zu ergreifen“ und die „bourgeoisen Machthaber“ zu stürzen. Das Ergebnis war eine soziale Explosion beispiellosen Ausmaßes, sämtliche während der Jahre kommunistischer Herrschaft aufgestauten Frustrationen wurden freigesetzt. Es mangelte nicht an Menschen, die einen Groll gegen Parteifunktionäre hegten. Doch anstatt alle Anhänger der „bourgeois-reaktionären Linie“ säuberlich hinwegzufegen, spalteten sich die „revolutionären Massen“ ebenfalls. Unterschiedliche Splittergruppen drängten an die Macht und begannen, einander zu bekämpfen. Mao benutzte die Menschen während der Kulturrevolution; gleichzeitig aber manipulierten viele Menschen die Kampagne, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen.

Im Januar 1967 war das Chaos so weit fortgeschritten, dass die Armee intervenierte, um die Revolution durchzusetzen und die Situation durch Unterstützung der „wahren proletarischen Linken“ unter Kontrolle zu bringen. Da verschiedene Militärführer verschiedene Splittergruppen unterstützten, die sich alle gleichermaßen sicher waren, die wahre Stimme Mao Zedongs zu repräsentierten, schlitterte das Land in einen Bürgerkrieg.

Und doch setzte der Vorsitzende sich durch. Er war kalt und berechnend, aber auch sprunghaft, launisch und unbeständig, blühte auf im gewollten Chaos. Er improvisierte, und unterwarf und zerstörte dabei Millionen von Menschen. Er mochte nicht ganz Herr der Situation sein, doch er hatte die Befehlsgewalt, genoss das Spiel, dessen Regeln er ständig umschreiben konnte. Zeitweise schaltete er sich ein, um einen treuen Anhänger zu retten oder, umgekehrt, einen engen Mitstreiter den Wölfen vorzuwerfen. Eine einzige Äußerung von ihm entschied das Schicksal zahlloser Menschen, wenn er die eine oder die andere Splittergruppe als „Konterrevolutionäre“ bezeichnete. Sein Urteil konnte sich über Nacht ändern, so setzte er eine scheinbar endlose Spirale der Gewalt in Gang, in der die Menschen sich darum schlugen, dem Vorsitzenden ihre Loyalität zu beweisen.

Die erste Phase der Kulturrevolution endete im Sommer 1968, als neue sogenannte Revolutionskomitees die Partei und den Staat übernahmen. Sie wurden weitgehend von Militäroffizieren dominiert, und so konzentrierte sich die wahre Macht in den Händen der Armee. Die Komitees boten eine vereinfachte Befehlskette, an welcher der Vorsitzende Gefallen fand, denn seine Befehle konnten sofort und ohne weitere Fragen ausgeführt werden. Während der nächsten drei Jahre verwandelten sie das Land in einen Besatzungsstaat, in dem Soldaten die Schulen, Fabriken und Regierungseinheiten überwachten. Als Erstes wurden Millionen unerwünschter Elemente, darunter Schüler und Studenten und andere, die den Vorsitzenden beim Wort genommen hatten, aufs Land verbannt, um „von den Bauern umerzogen“ zu werden. Dann folgte eine Reihe brutaler Säuberungsaktionen, in denen die Revolutionskomitees diejenigen ausmerzten, die auf der Höhe der Kulturrevolution Kritik geäußert hatten. Die Rede war nicht mehr von „Machthabern, die einen kapitalistischen Weg verfolgen“, sondern von „Verrätern“, „Renegaten “ und „Spionen“. Spezielle Komitees wurden zur Untersuchung angeblicher Feindverbindungen einfacher Leute sowie ehemaliger Funktionäre eingesetzt. Auf eine landesweite Hexenjagd folgte eine umfassende Kampagne gegen Korruption, die die Bevölkerung bis zur völligen Unterwerfung einschüchterte, da fast jede Handlung und jede Äußerung potenziell kriminell waren. In manchen Provinzen war jeder Fünzigste von solchen Säuberungsaktionen betroffen.

Doch Mao misstraute dem Militär, insbesondere Lin Biao, der im Sommer 1959 das Verteidigungsministerium von Peng Dehuai übernommen und dem Studium der Mao-Zedong-Ideen in der Armee den Weg bereitet hatte. Mao hatte Lin Biao benutzt, um die Kulturrevolution in Gang zu setzen und am Laufen zu halten, doch Marschall Peng Dehnai nutzte im Gegenzug die Unruhen aus, um seine eigene Machtbasis auszuweiten, indem er seine Anhänger in der gesamten Armee in Schlüsselpositionen installierte. Er starb im September 1971 bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz, was dem Einfluss des Militärs auf das zivile Leben ein Ende bereitete.

Mittlerweile hatte der revolutionäre Rausch fast alle erschöpft. Selbst auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution zeigten viele einfache Menschen aus Misstrauen gegenüber dem Einparteien-Staat nicht mehr als eine äußerliche Zustimmung, behielten aber ihre innersten Gedanken und persönlichen Gefühle für sich. Jetzt erkannten viele von ihnen, dass die Partei durch die Kulturrevolution schwer beschädigt worden war. Sie nutzten die Gelegenheit, um ihr Leben in Ruhe weiterzuleben, selbst als der Vorsitzende während seiner letzten Jahre an der Macht weiterhin eine Splittergruppe gegen die andere ausspielte. Wenn der „Große Sprung nach vorn“ insbesondere auf dem Land die Glaubwürdigkeit der Partei zerstört hatte, so zersetzte die Kulturrevolution ihre Organisation. In einer schweigenden Revolution ließen Abermillionen von Landbewohnern heimlich traditionelle Gepflogenheiten aufleben, eröffneten Schwarzmärkte, verteilten kollektives Eigentum, teilten das Land auf und betrieben Untergrundfabriken. In vielen ländlichen Gebieten hatte man sogar schon vor Maos Tod im September 1976 die Planwirtschaft aufgegeben.

Dies sollte eines der beständigsten Vermächtnisse eines Jahrzehnts voll Chaos und tief sitzender Furcht werden. Keine kommunistische Partei hätte organisierten Widerstand toleriert, doch waren die Kader auf dem Land gegen unzählige tägliche Aktionen voll stillem Widerstand und endloser Tricks wehrlos, während die Menschen versuchten, die ökonomische Dominanz des Staates zu schwächen und durch eigene Initiative und Einfallsreichtum zu ersetzen. Deng Xiaoping, der wenige Jahre nach Maos Tod die Macht ergriff, versuchte, kurz die Planwirtschaft wiederzubeleben, erkannte jedoch bald, dass er kaum eine andere Wahl hatte, als mit dem Strom zu schwimmen. Die Volkskommunen, das Rückgrat der kollektivierten Wirtschaft wurden 1982 aufgelöst.3

Die schrittweise Aushöhlung der Planwirtschaft war ein unbeabsichtigtes Ergebnis der Kulturrevolution. Ein weiteres Ergebnis war die Zerstörung der Überreste des Marxismus-Leninismus und der Mao-Zedong-Ideen. Als Mao starb, drängten die Menschen auf dem Land nicht nur auf größere wirtschaftliche Chancen, sondern viele hatten sich auch von den ihnen in den Jahrzehnten des Maoismus aufgezwungen ideologischen Fesseln befreit. Endlose ideologische Umerziehungskampagnen hatten, sogar unter den Parteimitgliedern selbst, eine weitverbreitete Skepsis hervorgerufen.

Doch es gab ein noch viel dunkleres Erbe. Auch wenn die Kulturrevolution auf menschliche Verluste bezogen längst nicht so mörderisch war wie frühere Kampagnen, insbesondere die Katastrophe, die während Maos großer Hungersnot entfesselt worden war, hinterließ sie eine Spur zerstörten Lebens und kultureller Verwüstung. Nach allem was man weiß, wurden während der zehn Jahre andauernden Kulturrevolution zwischen 1,5 bis 2 Millionen Menschen umgebracht, doch noch viel mehr Menschenleben wurden durch endlose Denunziationen, falsche Geständnisse, Kampfversammlungen und Verfolgungskampagnen zerstört. Anne Thurston hat überzeugend dargelegt, dass die Kulturrevolution weder eine plötzliche Katastrophe noch eine Massenvernichtung war, sondern eine extreme Situation, die sich durch Verluste auf vielen Ebenen auszeichnete, „Verlust von Kultur und spirituellen Werten, Verlust von Status und Ehre, Verlust der Karriere, Verlust der Würde“ und natürlich, der Verlust von Vertrauen in menschliche Beziehungen und deren Berechenbarkeit, als die Menschen sich feindlich gegeneinander wandten.4

Das Ausmaß des Verlusts unterschied sich von Person zu Person enorm. Einige Leben wurden zermalmt, während andere es schafften, aus dieser Mühle relativ unbeschadet herauszukommen. Einigen wenigen gelang es sogar, geschäftlich erfolgreich zu sein, insbesondere während der letzten Jahre der Kulturrevolution. Die Vielfalt menschlicher Erfahrung während des letzten Jahrzehnts der maoistischen Ära, die sich pauschalen theoretischen Erklärungen entzieht, wird umso klarer, wenn wir die Korridore der Macht verlassen und uns auf die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten konzentrieren. Wie der Untertitel des Buches andeutet, stehen die Menschen im Mittelpunkt.

Eine Geschichte des Volkes während der Kulturrevolution wäre noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbar gewesen, da damals die meisten Zeugnisse aus offiziellen Parteidokumenten und Publikationen der Roten Garden stammten. Doch während der letzten Jahre haben Historiker vermehrt Zugang zu riesigen Mengen von Primärmaterial in den Parteiarchiven Chinas erhalten. Dieses Buch ist Teil einer Trilogie, und wie seine beiden Vorgänger bedient es sich Hunderter von Dokumenten aus den Archiven, die meisten von ihnen wurden hier zum ersten Mal benutzt. Darin finden sich Details zu den Opfern der Rotgardisten, Statistiken zu politischen Säuberungen, Untersuchungen über die Zustände auf dem Land, Datenerhebungen zu Fabriken und Werkstätten, Polizeiberichte über Schwarzmärkte, sogar Beschwerdebriefe von Dorfbewohnern und vieles mehr.

Natürlich wurden viele Memoiren über die Kulturrevolution publiziert, und auch sie haben Eingang in dieses Buch gefunden, so zum Beispiel bekanntere Werke wie Nien Chengs Leben und Tod in Schanghai oder Jung Changs Wilde Schwäne. Zur Ergänzung las ich mich durch Dutzende im Eigenverlag veröffentlichte Autobiografien, eine relativ neue Art der Publikation. Auf Chinesisch werden sie ziyinshu genannt, eine wörtliche Übersetzung von Samisdat, obwohl sie mit den Dokumenten, die von Dissidenten in der Sowjetunion umhergereicht wurden, nicht viel gemein haben. Viele sind von Mitgliedern der Parteibasis geschrieben, oder sogar von einfachen Menschen, und ermöglichen Einblicke, die aus offiziellen Berichten nicht gewonnen werden können. Eine weitere wichtige Quelle sind Interviews, einige offen zugänglich, andere speziell für diese Untersuchung durchgeführt.

Interessierten Lesern steht daneben eine Fülle von Sekundärliteratur zur Verfügung. Ab dem Moment, als die Rotgardisten die Szene betraten, beschäftigten sie die Fantasie sowohl der Sinologen, als auch der breiteren Öffentlichkeit. Standardbibliografien zur Kulturrevolution verzeichnen allein auf Englisch Tausende von Artikeln und Büchern, und diese Werke haben unser Verständnis der maoistischen Ära unendlich erweitert.5 Doch einfache Menschen kommen in diesen Untersuchungen meist nicht vor. Dieses Buch versucht den größeren historischen Kontext mit den Geschichten der realen Männer und Frauen, die im Zentrum dieses menschlichen Dramas standen, zusammenzubringen. Von den Führern an der Spitze des Regimes bis hinab zum verarmten Landbewohner waren die Menschen mit ungewöhnlich schwierigen Umständen konfrontiert, und allein die Komplexität der von ihnen getroffenen Entscheidungen untergräbt das Bild der absoluten Konformität, die oft als charakteristisch für das letzte Jahrzehnt der Mao-Zeit gesehen wird. Die Summe der Entscheidungen bewegte das Land schließlich in eine Richtung, die im starken Widerspruch zu dem stand, was der Vorsitzende geplant hatte: Anstatt die Überbleibsel bourgeoiser Kultur zu bekämpfen, unterliefen die Menschen die Planwirtschaft und höhlten die Parteiideologie aus. Kurz gesagt, sie trugen den Maoismus zu Grabe.

Mao und seine verlorenen Kinder

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